Abend in der Mission

Um allen eine kleine Erholungspause zu verschaffen, beschließen wir, heute auf ein gemeinsames Abendessen zu verzichten und uns ins Camp zurückzuziehen. Wir verabreden uns für morgen früh, um ein ausführlicheres Gespräch mit James, Lketinga und Mama zu führen. Mich würde aus der Vergangenheit noch so vieles interessieren.

Im Camp setzen wir uns in die Klappstühle und Francis und John, unsere Fahrer, entzünden Lampen, damit wir etwas Licht haben. Zur Abrundung des Tages gönnen wir uns einen Schluck Rotwein. Als auch noch diverse Knabbereien aus den Wagen gezaubert werden, geht mir kurz durch den Kopf, dass ich — im Gegensatz zu meinem früheren Leben in Barsaloi — auf dieser Reise gewiss keine Pfunde verlieren werde.

Ich berichte von der Möglichkeit, über die Mission mit Pater Giuliani in Funkkontakt zu treten, und wir nehmen uns vor, es gleich morgen zu versuchen. Da wir in zwei Tagen am Filmset „zur weißen Massai“ angemeldet sind, könnten wir danach Giuliani besuchen und später noch einmal hierher nach Barsaloi kommen, um ein Abschiedsfest zu feiern. Es ist auch sinnvoll, dass wir die Familie vorübergehend verlassen, damit jeder wieder etwas zur Ruhe kommen kann. Seit unserem Erscheinen ist ihr Leben doch ziemlich durcheinander geraten.

Auch James hat zu verstehen gegeben, dass er ab und zu in seine Schule fahren muss.

Während wir alles besprechen, huschen vier Frauen in Schwesterntracht an uns vorbei in Richtung Mission.

Kurz darauf erscheint der neue kolumbianische Pater und setzt sich zu uns. Er erkundigt sich nach unserem Wohlbefinden und wie unser Aufenthalt bisher verlaufen ist. Es interessiert ihn sehr, wie sich Lketinga mir gegenüber verhält, und er ist erfreut zu hören, dass wir keine Schwierigkeiten haben und sehr gut aufgenommen wurden. Er berichtet, dass er mit James einige Projekte auf den Weg gebracht hat. Zum Beispiel ist James der Vermittler und Finanzverwalter für eine Frauengruppe, die traditionellen Schmuck herstellt, der bis nach Nairobi verkauft wird. Da die Frauen pro Stück bezahlt werden, haben sich einige bereits bescheidene Holzhäuser errichten lassen können. Diese Information beeindruckt mich, weil damit vor allem den Frauen geholfen wird.

Der Pater erzählt, dass er seit fünf Jahren hier in Barsaloi ist und dass kurz vor seiner Ankunft die blutigen Kämpfe mit den Turkana stattfanden. Wir erfahren auch etwas über die Mission in der Zeit nach meiner Flucht.

Direkt nach Pater Giulianis Wegzug im Jahre 1991 kamen andere Missionare. Einer von ihnen starb an der Malaria Tropica. Mehr als ein Jahr hatte man in Nairobi vergeblich versucht, sein Leben zu retten. Bei dieser Erzählung friert es mich plötzlich, da ich an meine eigene schreckliche Malariazeit erinnert werde. Mehr als einmal wäre ich daran fast gestorben. Besonders dramatisch war mein Zustand zwei Monate vor Napirais Geburt. Pater Giuliani konnte damals das Schlimmste verhindern, indem er über Funk die Flying Doctors alarmierte, die mich buchstäblich im letzten Moment ins Hospital nach Wamba brachten. Ja, soeben ist mir wieder deutlich bewusst geworden, wie knapp ich damals dem Tod entgangen bin.

Auf unsere interessierten Nachfragen hin, ob er Genaueres über den Turkana-Überfall wisse, beginnt der Pater zu erzählen, was er darüber gehört hat:

„Es traf alle unvorbereitet, obwohl schon seit Monaten immer wieder ein paar kleinere Überfälle auf einzelne Personen stattgefunden hatten und es dabei auch Tote gab. Kleinere Zwischenfälle waren zwischen dem benachbarten Stamm der Turkana und den Samburu in dieser Gegend nicht besonders ungewöhnlich. Doch was Anfang Dezember 1996 passierte, überraschte alle: Der Tag begann ganz normal. Die Krieger und die Kinder verließen am Morgen mit ihren Herden das Dorf wie jeden Tag. Wie ein Lauffeuer verbreiteten sich Gerüchte, dass in der Nacht davor an verschiedenen Orten Wegelagerer am Straßenrand bei offenem Feuer genächtigt hätten. Niemand wusste jedoch Genaueres. Gegen Mittag überfielen plötzlich etwa 600 mit Gewehren bewaffnete Turkana das gesamte Gebiet um Barsaloi. Sie kamen von den Bergen und trieben von allen Seiten Tiere und Menschen in das Flusstal hinein, Richtung Turkanagebiet. Wer sich wehrte, ob Kinder, Frauen oder Krieger mit Speeren, wurde einfach erschossen. Als man hier im Dorf die ersten Gewehrschüsse hörte, wusste noch niemand, was vor sich ging, bis die Ersten angelaufen kamen und berichten konnten. Nach kurzer Beratung entschied man, dass alle so schnell wie möglich flüchten sollten. Es gab nur noch eine Richtung, die einigermaßen frei war. Die Samburu konnten nichts ausrichten und mussten tatenlos mit ansehen, wie ihnen das gesamte Vieh weggetrieben wurde. Es waren über 20.000 Ziegen und einige Tausend Kühe. Die Menschen flohen, es ging nur noch ums nackte Überleben. Niemand konnte sich damals erklären, warum die Turkana auf einmal so haushoch überlegen bewaffnet waren. Der Raubzug wirkte wie ein organisiertes Verbrechen.

Die vier Priester, die damals hier waren, wollten die Mission nicht verlassen und den Menschen in der Kirche Schutz bieten. Auch sie wurden angegriffen und die Tochter einer Angestellten wurde umgebracht. Ein Priester erlitt einen Bein-durchschuss und ein anderer eine Schusswunde am Arm. Als man sie später fand, standen alle unter Schock. Kurzfristig wurde die Mission evakuiert. Man forderte Unterstützung aus Nairobi an, doch es dauerte Tage, bis etwas passierte. In der Zwischenzeit hatten sich alle Krieger der Samburu versammelt und beschlossen, auch ohne Gewehre ihre Herden wieder zurückzuholen, was ihnen später fast zur Gänze gelang.

Erst nach einigen Tagen und vielen, vielen Toten sandte die Regierung Verstärkung. Als einer der Aufklärungshelikopter abgeschossen wurde und dabei ein District-Officer ums Leben kam, wurde gehandelt und es fielen einige Handgranaten. Doch da waren die Dörfer bereits alle verlassen und die Menschen in die Gegend von Maralal geflüchtet.“

Wir fragen den Pater nach dem Grund für dieses Massaker. „Den Grund kennt niemand so genau. Einige Monate zuvor waren Bohrungen im Samburugebiet durchgeführt worden und dabei hatte man auch Spuren von Goid gefunden. Aber ich weiß nicht, ob da ein Zusammenhang besteht. Zum anderen gab es einige Monate davor eine große Auseinandersetzung zwischen Somali und Samburu mit Toten auf beiden Seiten, allerdings in einem entfernteren Gebiet, Richtung Wamba. Man weiß einfach nicht genau, wieso und weshalb dies geschah.“

Während ich dem Missionar zuhöre, erinnere ich mich an die Briefe, die ich damals von James bekommen habe.

Er schrieb, dass sie zusammengepfercht in der Nähe von Maralal bei fremden Leuten wohnten. Sie hatten fast alles verloren. Mama wurde damals Gott sei Dank mit einem Wagen rechtzeitig aus Barsaloi weggebracht. Zu all dem Schrecken musste sie zum ersten Mal in ihrem Leben in ein Auto steigen! Von heute auf morgen waren sie im eigenen Gebiet zu Flüchtlingen geworden. Viele Menschen verhungerten damals.

Ich half, so gut ich konnte, war aber zur selben Zeit in der Schweiz arbeitslos. Zwei Jahre später warteten sie immer noch darauf, zurückkehren zu können. Ich dagegen hatte gerade die ersten Erfolge mit meinem Buch. Ein Jahr später im Juli 1999 besuchte Albert sie und konnte ihnen ebenfalls helfen. Wenn ich an die damaligen Fotos von der Familie denke, löst die Erinnerung Beklemmung aus. Zum Glück sieht man heute in Barsaloi keine Spuren der Verwüstung mehr und die meisten Familienmitglieder scheinen die damalige Vertreibung gut überstanden zu haben. Was mich allerdings doch etwas beunruhigt, ist die Tatsache, dass jetzt viele Krieger mit Gewehren herumlaufen.

Meine Gedanken werden vom Pater unterbrochen, der sich verabschiedet, um sich für die Nachtruhe zurückzuziehen. Auch wir kriechen in unsere Zelte und jeder versucht auf seine Weise, die intensiven Eindrücke zu verarbeiten.

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