Wir verlassen Wamba und fahren weiter in Richtung Isiolo. Nach einigen Kilometern überqueren wir auf einer abenteuerlichen Brücke ohne Seitengeländer einen reißenden Fluss. Hier sieht man, was der Regen in den Bergen ausgelöst hat. Rotbraunes Wasser, so weit das Auge reicht, dazwischen vereinzelte Daumpalmen. Von den hier normalerweise lebenden Krokodilen ist nichts zu sehen. Der Himmel ist grau und verhangen. Bald wird es wieder regnen. Allmählich wird die Straße etwas besser, schließlich fahren wir der „Zivilisation“ entgegen.
Nach etwa zwei Stunden erreichen wir ein Dörfchen, das aus ein paar Bretterbuden, Shops und zwei oder drei Lokalen besteht. Eine gute Gelegenheit, eine kleine Teepause einzulegen. Als Weiße werden wir sofort in einen eigenen Bereich geführt. In einem Hinterhofzimmer sitzen wir auf verschlissenen Sofas, auf denen weiße Spitzendecken drapiert sind. Die ansonsten kargen Wände sind mit kunstvollen Tiermotiven bemalt. Alles ist mit einfachsten Mitteln etwas „vornehmer“ gestaltet. Der bestellte Chai schmeckt gut, wenn auch nicht so wie der in Mamas Manyatta. Nachdem wir uns mit Keksen gestärkt haben, geht die Fahrt weiter.
Immer häufiger kommen uns nun Safaribusse entgegen, die durch die regenverhangene Gegend schaukeln. Ab und an erkenne ich Holzschilder mit den exotischen Namen bekanntet Touristen-Lodges.
Nachdem wir das Samburugebiet verlassen haben, ändert sich die Vegetation und das Aussehen der Menschen.
Hier wird viel mehr Landwirtschaft betrieben. Die Frauen tragen Körbe mit Gemüse und Früchten auf ihren Köpfen. Von den farbenfrohen Kangas der Samburu ist nichts mehr zu sehen, denn die meisten sind eher europäisch gekleidet.
Am späten Nachmittag erreichen wir Isiolo und entscheiden uns, hierzu übernachten. Im Dunkeln auf den maroden Straßen weiterzufahren wäre enorm anstrengend und außerdem gefährlich. Isiolo ist eine eher hässliche und schmutzige Kleinstadt. Mir fällt auf, dass im Gegensatz zu früher viel mehr Muslime hier leben. Unser Fahrer erklärt, dass die Stadt praktisch zweigeteilt ist. In der einen Hälfte leben Christen, in der anderen Muslime, meist somalischer Abstammung.
Wir beziehen ein „gehobenes“ einheimisches Lodging und treffen uns etwas später zum gemeinsamen Abendessen. Da wir nach dem Essen keine Lust verspüren, durch die düsteren und schmutzigen Straßen zu spazieren, genießen wir auf einer Art Dachterrasse des Hotels die Abendluft. Das Hotel scheint ein Treffpunkt der Wohlhabenden und „Mächtigen“ der Stadt zu sein. Die meist fülligen Männer tragen moderne Anzüge und ihre vollschlanken Frauen entweder afrikanische Mode oder europäische Kleidung in Extragröße. Das Leben wirkt viel moderner und hektischer als in Maralal und Barsaloi. Mir gefällt es hier nicht und ich bin froh, als wir am nächsten Morgen nach Nairobi weiterfahren.
Je näher wir der Hauptstadt kommen, desto stärker nimmt der Verkehr zu. Autos und Menschen, wohin man schaut. Nach der Ruhe im Busch kommt mir Nairobi furchtbar hektisch und laut vor. Ich empfinde es jetzt viel extremer als bei unserer Ankunft aus Europa. Ich kann kaum glauben, dass das erst vierzehn Tage her ist. Wir haben in den letzten zwei Wochen so viel Beeindruckendes erlebt, dass es mir viel länger vorkommt.
Wir bringen die gemieteten Land Cruiser zum Safariunternehmen zurück und bedanken uns ganz besonders bei unseren Fahrern Francis und John für den perfekten Service.
Wenn auch der wichtigste Teil der Reise nun abgeschlossen ist, so zieht es mich doch noch nach Mombasa, denn ich habe das Bedürfnis, den Kreis zu schließen und noch einmal den Ort aufzusuchen, wo vor achtzehn Jahren alles begann.
Klaus bietet uns gastfreundlich seine Wohnung als Quartier an. Gemeinsam mir seiner zukünftigen Frau Irene lebt er seit zwei Jahren in Nairobi. Da Alberts Flug bereits heute Nacht zurück nach München geht, versuchen wir, Pater Giuliani zu erreichen. Die Freude ist groß, als wir erfahren, dass er tatsächlich noch hier in der Nähe weilt. Wir verabreden uns für den Abend in einem italienischen Restaurant. Irgendwie kann ich ihn mir hier in Nairobi in der „Zivilisation“ schwer vorstellen. Er ist ein Einsiedler und Eigenbrötler, alles andere als ein Stadtmensch.
Klaus wohnt in einer ruhigen Gegend, die sich nur etwas wohlhabendere Leute leisten können. Die Wohnblocks sind mit Mauern und Stacheldraht umgeben. Hinein kommt hier nur, wer den beiden Wachleuten bekannt ist. Im Gebäudetrakt befinden sich außerdem ein Fitnesscenter, ein Restaurant und ein Schönheitssalon. Die Vorstellung, erst Wachmänner passieren zu müssen, bevor ich in ein Fitnesscenter gehen könnte, erscheint mir äußerst merkwürdig. Später stelle ich fest, dass sogar ganz normale Restaurants eingezäunt und bewacht sind.
Früher waren nur Villen in dieser Form abgesichert. Nairobi scheint noch viel gefährlicher geworden zu sein, als es zu meiner Zeit ohnehin schon war. Niemand läuft abends zum fünf Minuten entfernten Restaurant. Wer es sich leisten kann, fährt jeden Meter im geschlossenen Wagen.
Solch ein Leben würde ich nicht führen wollen. Man ist der Sklave seines Besitzes. Da lebte ich doch lieber in Barsaloi, sozusagen unter freiem Himmel, besaß fast nichts und musste deshalb auch nichts bewachen lassen.
Geschützt haben wir uns nicht vor Räubern, sondern vor Löwen und Hyänen.
Als wir zum vereinbarten Zeitpunkt beim Lokal eintreffen, erleben wir, wie Giuliani gerade auf einem Motorrad angebraust kommt. Sein Helm könnte aus der Vorkriegszeit stammen und zum ersten Mal sehe ich ihn in „normaler“ Kleidung: lange Hosen, Pullover und geschlossene Schuhe!
Da sich in unserer Begleitung ein älteres englisches Paar befindet, das in der kenianischen Filmindustrie eine wichtige Rolle spielt, bleibt es nicht aus, dass wir bald über das Filmprojekt „Die weiße Massai“ reden. Pater Giuliani ist interessiert, wer seine Rolle im Film spielt. Lachend und mit erhobenem Zeigefinger droht er:
„Wehe, der Typ entspricht mir nicht oder ihr verdreht Tatsachen, dann finde ich euch überall auf der Welt!" Alle brechen in lautes Gelächter aus. Mit dem Namen des Schauspielers kann er nicht viel anfangen. Wie auch! Er besitzt seit Jahrzehnten keinen Fernseher und hätte dort, wo er lebt, auch keinen Empfang. Also muss er warten, bis der Film auf Video erhältlich ist. Vielleicht aber gibt es in einem Kino in Nairobi eine Kenia-Premiere, das wäre ja möglich. Er und James wären wahrscheinlich gerne dabei, bei Lketinga bin ich mir allerdings nicht so sicher.
Leider vergehen die zwei Stunden viel zu schnell und wir müssen zum Flughafen aufbrechen, um Albert zu verabschieden. Am Flughafen überkommt mich Heimweh nach meiner Tochter. Ich vermisse sie sehr. Aber es gibt noch einige Orte und Menschen, die ich auf meiner „Reise in die Vergangenheit“ unbedingt aufsuchen möchte.