Während die Fahrer am nächsten Morgen alles zusammenräumen, sind wir noch beim Pater in der Mission. Er zeigt uns den Samburu-Schmuck, den die Frauen in dem von ihm und James gemeinsam betreuten Projekt hergestellt haben. Nachdem die Frauen durch den Verkauf des Schmucks sich und ihre Familien bereits teilweise ernähren können, ist der Pater in der Lage, vermehrt Spendengelder für Härtefälle in Barsaloi oder für besondere Vorhaben, wie zum Beispiel die Schaffung neuer Wasserstellen, einzusetzen. Davon können alle profitieren. Es ist schön zu sehen, dass Spendengeider hier in guten Händen sind. Zum Abschied betont er, dass wir jederzeit willkommen sind. Er hoffe, dass er über den Spielfilm informiert werde, da die Menschen hier bestimmt interessiert daran seien. Wir versprechen, ihn bei seinen Vorhaben von Europa aus zu unterstützen und in Kontakt zu bleiben. Nachdem wir uns für die Gastfreundschaft bedankt haben, verlassen wir nach einem herzlichen Händeschütteln die Mission.
Im Kral sitzt Lketinga reisefertig vor Mamas Manyatta. Wir schlüpfen in ihre Hütte und James setzt sich erneut in meine Nähe, da ich Mama noch einiges sagen möchte. Ich weiß ja nicht, wann und ob ich sie überhaupt jemals wiedersehen werde. Zuerst sprechen wir über gemeinsame Erlebnisse und eine Geschichte ergibt die nächste.
Unter anderem erinnere ich mich an den großen Regen, als Mama draußen stand, um ihre Hütte festzuhalten, damit sie vom Sturm und den Fluten nicht weggerissen wurde. Nachdem James übersetzt hat, lacht Mama leise.
Lketinga fügt hinzu, dass er sich gut an das große Wasser im Fluss und die Rettung der beiden Kinder erinnert.
Immer mehr Ereignisse, die wir gemeinsam erlebt haben, fallen uns ein.
Zum Schluss kündigt James an, dass Mama uns vor der Abfahrt segnen will, damit unser Leben geschützt ist und die Reise ein gutes Ende findet. Mama stehe als Älteste jeden Tag sehr früh, wenn alle noch schlafen, auf, segne den ganzen Kral und nenne dabei jedes Kind beim Namen. Sogar die Ziegen würden gesegnet, damit alle wieder gesund nach Hause zurückkehren. Danach lege sie sich wieder hin, bis auch alle anderen aufstehen. Wenn die Hütekinder mit den Tieren den Kral verlassen, segne sie diese ein weiteres Mal. Das sei sehr wichtig.
Als James seine Rede beendet hat, schaut Mama mich an und sagt mit viel Wärme und Kraft in der Stimme:
„Ich werde immer für dich beten, damit du so alt wirst wie ich. Auch für Napirai. Gib ihr alle Liebe, und sage ihr, meine Liebe ist groß. Sorge gut für sie und überbringe ihr herzliche Grüße von ihrer
Jedes Wort einzeln versuche ich mir einzuprägen, und dabei steigen mir schon wiederTränen in die Augen.
Bewegt von ihren Worten, bitte ich James, ihr zu sagen, wie sehr ich mich gefreut habe, sie besuchen zu können, und dass das Wiedersehen mit allen wunderbar war. Wenn Gott es zulasse, werde sie noch am Leben sein, wenn ich mit Napirai zurückkehre. Während wir sprechen, halten wir uns gegenseitig an den Händen. Nur die Feuerstelle liegt zwischen uns. Das Reden fällt mir immer schwerer, da meine Stimme belegt ist. Meine Augen füllen sich bedrohlich und ich versuche, unauffällig darüber zu wischen. Schließlich möchte ich Mama mit meiner ständigen Heulerei nicht in Verlegenheit bringen. Sie bedankt sich für meine Worte und schüttelt mit warmer Innigkeit meine Hand. Als sie meinen Kampf mit den aufsteigenden Tränen bemerkt, lächelt sie kurz und sagt: „Trink Tee, das hilft.“ Dankbar nehme ich die angebotene Tasse entgegen. Es ist verdammt schwer, bei diesem Abschied nicht zu weinen. Noch einmal bitte ich James, ihr zu erklären, dass meine Tränen ein Zeichen meiner tiefen Zuneigung zu ihr sind.
Während er anschließend die Abschiedsworte von Albert und Klaus übersetzt, schaue ich unentwegt Mama an.
Ein Sonnenstrahl fällt durch das poröse Dach direkt auf ihren Kopf. Der Rauch verbindet sich mit dem Lichtstrahl und verleiht ihr, mit dem Baby im Arm, eine fast mystische Aura. Sie strahlt so viel Würde und Persönlichkeit aus und ich hoffe sehr, dass ich meine Tochter eines Tages mit ihrer Großmutter zusammenbringen kann. Mama ist das stärkste Bindeglied der Familie und in ihr leben die alten Traditionen. Sie verkörpert etwas, wovor jeder Respekt hat. Wir alle sind beeindruckt und bewegt.
Erst nach über einer Stunde kriechen wir aus der mittlerweile sehr warmen Manyatra und treten ins Freie. Im Kral haben sich einige Frauen und Kinder versammelt, die uns verabschieden wollen. Meine Brust fühlt sich eng an und am liebsten würde ich einfach richtig losheulen. Klaus erheitert ein weiteres Mal die Kinder mit den Digitalfotos und hält die letzten Erinnerungen fest.
Ich stelle mich zwischen Lketingas Schwester und Mama. Beide schauen sehr ernst. Die Schwester drückt immer wieder ihren Kopf an meine Schulter. Man spürt, dass auch sie versucht, ihre wahren Gefühle nicht zu zeigen.
Mama trägt ihren schönen Blumenrock und ihr neues blaues Schultertuch. Mit den Händen stützt sie sich würdevoll auf ihren langen Stock. James mit seiner sprudelnden Art versucht noch einmal, alle zu erheitern, bevor er die Segnung ankündigt. Wir Europäer stehen zwischen ihm und Lketinga, als Mama mit geschlossenen Augen laut zu beten beginnt. Nach jedem Satz antworten wir mit „Enkai“. Nachdem die kleine, uns alle bewegende Zeremonie beendet ist, umarme ich Mama zum letzten Mal und schaue ihr stumm in die Augen. Sie drückt für einen kurzen Moment ihren Kopf an mich und sagt: „Lesere, lesere — auf Wiedersehen.“
Nun verabschieden wir uns von James, Stefania, den Kindern und Lketingas Schwester. Im Hintergrund bemerke ich die junge Frau meines Ex-Mannes. Unsere Blicke treffen sich. Ich habe das Gefühl, dass sie mir mit ihren Augen etwas mitteilen möchte. Doch was? Ich weiß es nicht. Ich hoffe, dass ihr Leben an Lketingas Seite einigermaßen angenehm verlaufen wird. Von neuem konnte ich feststellen, wie lustig, witzig und fürsorglich er sein kann, wenn er will. Vielleicht wird er durch meinen Besuch, bei dem wir so viel miteinander gelacht haben, auch mit ihr etwas umgänglicher — wer weiß?
James gibt mir Grüße an meine Mutter, ihren Mann Hanspeter und den Rest meiner Familie, ganz besonders natürlich an Napirai, mit auf die Reise.
Auf dem kurzen Weg zum Wagen schüttle ich viele Hände und höre immer wieder: „Lesere, Mama Napirai, lesere!“
Langsam fahren wir aus dem Dorf und links und rechts winken uns viele Menschen hinterher. Traurigkeit macht sich in mir breit und ich bin froh, dass Lketinga mit uns fährt, so ist die Verbindung noch nicht ganz abgebrochen. Dieser Besuch war für mich wie ein Fenster, durch das ich nach all den Jahren in meine bewegende Vergangenheit zurückblicken konnte. Wenn sich auch manches verändert hat, habe ich doch vieles so vorgefunden, wie es damals war. Eine Distanz zu den Menschen habe ich nicht gespürt, im Gegenteil, ich empfand es wie ein Nachhausekommen. Meine afrikanische Familie und auch die Dorfbewohner haben mich aufgenommen wie eine lange verloren geglaubte Tochter. Und genau das ist es, was mir jetzt den Abschied so schwer macht.
Im Wagen spricht niemand. Lketinga schaut geradeaus und sieht irgendwie älter und eingefallener aus. Das beunruhigt mich, doch dann erinnere ich mich, wie er Albert einige Tage zuvor zur Seite nahm und ihm anvertraute: „Albert, I have really changed my live, I'm happy now.“
Wir erreichen Opiroi und plötzlich zeigt Lketinga auf eine Gruppe von Frauen und Kindern: „Schau, dort ist Mama Natascha, willst du sie begrüßen?" Natürlich will ich das! Wir haben uns früher viele Male gegenseitig besucht und bei einem dieser Besuche war es, dass ich ihrer Tochter den Namen Natascha gab. Ihr Ehemann ist ein Halbbruder von Lketinga. Auch ihn mochte ich sehr gern. Mit ihm konnte ich stundenlang lachen. Er kannte wirklich nichts aus der „Welt der Weißen“. Feuerzeuge waren für ihn etwas Unheimliches, er nannte sie brennende Hände. Coca Cola hatte er noch nie getrunken, allein die dunkle Farbe machte ihn misstrauisch. Als er den ersten kohlensäurehaltigen Schluck trank, spuckte er in heller Aufregung alles weit von sich.
Mama Natascha kommt mit einem Kleinkind auf dem Arm auf mich zugelaufen und ruft: „Supa, Mama Napirai!“ Ich umarme sie und freue mich mit ihr. Sie hat von Natascha erfahren, dass ich hier bin. Ich frage nach ihrem Mann und erfahre, dass er mit den Kühen unterwegs sei. Als Erstes erkundigt sie sich nach Napirai. Ich muss ihr zeigen, wie groß mein Kind mittlerweile ist. Als sie hört, dass Napirai zur Schule geht, streckt sie mir lachend ihr jüngstes Kleinkind entgegen und meint: „Nimm diesen Jungen mit und stecke ihn auch in eine Schule.“ Alle Umstehenden lachen. Lketinga übersetzt, dass sie inzwischen sieben Kinder habe und es allen gut gehe. Ich glaube, dass ihre Ehe glücklich ist, denn ihr Mann wirkte immer gutmütig und hat auch keine Zweitfrau geheiratet.
Um Mama Natascha herum stehen noch weitere Frauen. Alle tragen in ihren Kangas Kleinkinder am Rücken.
Eine von ihnen ist noch mit gegerbtem Kuhfell bekleidet. Zwei ältere Männer erkennen und begrüßen mich. Sie fragen, ob ich mich an sie erinnere. Da ich ihnen eine Freude machen möchte, nicke ich. Sie segnen mich mit ihrer Spucke. Bevor wir weiterfahren, krame ich meine zwei Lieblingskangas aus der Reisetasche und schenke sie Mama Natascha. Überrascht bedankt sie sich mehrmals und ich freue mich, zum Abschluss noch eine fröhliche Bekannte getroffen zu haben.
Die Fahrt führt uns wieder an der halbfertigen „Termitenkirche“ vorbei und hinauf in dichter bewaldetes Gebiet.
Es rumpelt und schaukelt fürchterlich. Wenn hier richtig Regen fällt, wird diese Straße sicher bald weggeschwemmt und unbrauchbar sein.
Wir legen nur noch eine kurze Rast vor Maralal ein, da in der Ferne der Regen schon zu sehen ist. Es ist merklich kühler geworden. Lketinga spricht für seine Tochter Napirai ein paar Sätze auf meinen kleinen Rekorder. Gerade hat er den letzten Satz gesprochen, als sich ein sintflutartiger Regen über uns ergießt. Schnell klettern wir ins rettende Auto zurück und beeilen uns, nach Maralal zu kommen, bevor die Straße zum Schlammfeld wird. Schon rauscht uns das Wasser entgegen. Die Tiere, denen wir begegnen, stehen reglos in den auf sie niederprasselnden Schauern und die Menschen suchen Schutz unter Bäumen. Die Fahrer müssen die mit Wasser gefüllten Schlaglöcher vorsichtig umfahren, da in der braunen Brühe nicht auszumachen ist, wie tief sie sind.
In Maralal möchten wir gemeinsam mit Lketinga in einem einheimischen Lodging essen. Ich schlage das Somali-Restaurant vor, da ich gute Erinnerungen daran habe.
Als ich meine erste Malaria hatte und fast vier Wochen kaum Nahrung zu mir genommen hatte, war ich dem Erschöpfungstod nah. Die Ärzte im Maralal-Spital waren mit der Schwere meiner Krankheit überfordert und den Weg in das viel bessere Spital in Wamba hätte ich nicht mehr geschafft. Lketinga und meine damalige Freundin Jutta schleppten mich verzweifelt aus dem Spital direkt zum Somali-Restaurant. Es war ihre letzte Hoffnung und es klappte. Die gekochte Leber mit Zwiebeln und Tomaten, die mir dort vorgesetzt wurden, waren das erste Gericht, das ich in kleinen Häppchen essen und bei mir behalten konnte. Das war der erste Schritt zur Genesung.
Jetzt parken wir direkt davor und beim Eintreten staune ich, wie groß das Lokal geworden ist. Es herrscht viel Betrieb. Lketinga stülpt sich die Kapuze seiner Jacke über den Kopf. Das hat er früher schon gemacht, wenn er nicht erkannt werden wollte. Er fragt mich, was ich möchte, und gibt meinen Wunsch weiter. Doch leider gibt es keine Leber mehr. So bestelle ich Ziegenfleisch mit Kartoffeln und süßen Chai. Lketinga isst nur Brotfladen und trinkt Chai.
Immer wieder wundere ich mich, wie wenig er zu sich nimmt. Sein Blick irrt unruhig hin und her. Es ist schwierig, an einem solchen Ort Abschiedsworte zu formulieren, und so sitzen wir mehr oder weniger schweigend da, obwohl die letzten gemeinsamen Minuten verfliegen.
Ich frage ihn, was er hier in Maralal machen wird. Er antwortet, dass er zur Bank gehen wird, um zu sehen, ob das zugesagte Geld der Filmleute eingetroffen ist. Ein paar persönliche Worte will ich noch an ihn richten:
„Bitte, Lketinga, pass auf dich auf! Fange nicht mehr mit dem Alkohol an. Ich bin sehr froh, dass du in diesen Tagen keinen Tropfen getrunken hast. Ich habe gesehen, dass du dein Leben geändert hast, und das macht mich glücklich. Ich werde Napirai davon erzählen und eines Tages kommt sie mit mir nach Barsaloi.“
Er schaut mich an und erwidert schlicht: „Okay, I will wait for you.“
Es wird Zeit aufzubrechen und wir verlassen das laute Lokal. Draußen gießt es in Strömen und Maralal versinkt im Morast. Überall stehen Menschen unter den Unterständen und warten das Ende des Regens ab. Wie soll ich mich hier nur von Lketinga verabschieden? Eine Umarmung vor all den Fremden, die uns beobachten, wäre nicht möglich, ohne ihn lächerlich zu machen. Lketinga wirft eine dünne Decke über die Kapuzenjacke, schaut mich mit ruhigem und ernstem Gesicht an, berührt meinen Arm und sagt: „Okay, lesere.“
Er verabschiedet sich kurz von Albert und Klaus und verschwindet, ohne sich umzusehen, zwischen den anderen Leuten.Wir fahren langsam los und ich suche ihn mit meinen Augen, kann ihn aber nicht mehr ausfindig machen, denn zu viele Menschen im Gedränge haben ebenfalls Tücher und Decken über ihre Köpfe geworfen.
Ich bin sehr traurig. Ich liebe diesen Mann nicht mehr, aber er ist der Vater meiner Tochter und dadurch bleiben wir unser Leben lang verbunden. Während unseres Besuches habe ich wieder neu gelernt, ihn zu achten. Er hat viel dazu beigetragen, dass dieses Wiedersehen gelungen ist.
Dank seines und James' Humor habe ich in diesen Tagen mehr gelacht als im vergangenen halben Jahr davor.
Deshalb empfinde ich diesen kurzen Abschied fast tragisch. Auch er war traurig, das sagte mir sein bewegungsloses Gesicht. Aber er lebt wieder ganz in seiner Welt und ich in meiner, und beiden geht es gut dabei. Die Verbindung lebt in unserer gemeinsamen Tochter weiter.