Mittlerweile sind mindestens sechzig meist weiße Ziegen in den Kral zurückgekehrt und es herrscht rege Betriebsamkeit. Die kleinen Zicklein schreien nach ihren Müttern, die wiederum blökend im Kral herumrennen, wenn sie nicht gerade gemolken werden. Überall sind Frauen oder Mädchen dabei, Ziegen zu melken. Sie klemmen sich jeweils ein Hinterbein der Ziege in ihren Schoß, halten eine Emailletasse oder eine Kalebasse unter den kleinen Euter und melken, während das dazugehörige Zicklein an der anderen Zitze saugen darf.
Diese Zeir, wenn Tiere und Menschen nach Hause kommen, ist die schönste und lebendigste in einem Kral.
Mama setzt sich immer eine halbe Stunde, bevor die Ziegen nach Hause kommen, erwartungsvoll vor die Manyatta. Meistens sitzen mehrere Frauen bei ihr. Sobald sie die erste gemolkene Milch bekommen hat, bereitet sie Chai für das Hütekind zu und anschließend kocht sie für zahlreiche Kinder und sich selbst Ugali — das immer gleiche Abendessen.
Klaus filmt die verschiedenen Szenen im Kral. Als die Kinder mitbekommen, was er macht, werden sie nach und nach zutraulicher und führen ihm Kunststücke vor, indem sie die kleinen Zicklein einfangen und auf dem Arm herumtragen. Sogar die dreijährige Saruni springt hinter einem Geißlein her, packt es am hinteren Lauf, schlingt gekonnt ihte kleinen Ärmchen um alle vier Beine, stemmt anschließend das Tierchen in die Höhe und schaut Klaus triumphierend an. Er weiß bald nicht mehr, wo er zuerst filmen soll. Als er den Kindern dann noch auf seinem kleinen Monitor die Filmaufnahmen zeigt und sie sich zum ersten Mal so sehen, sind sie ganz aus dem Häuschen. Innerhalb kürzester Zeit ist er umlagert von Groß und Klein und jeder möchte einen Blick auf den kleinen Bildschirm der Kamera werfen. Die Neugier ist stärker als die Scheu und das Eis ist gebrochen.
Während ich dem lustigen Treiben zuschaue, kommt plötzlich Lketingas jüngere Schwester auf mich zu. Sie begrüßt mich überschwenglich. Sie war mit einem Teil der Ziegen unterwegs und ist erst jetzt zurückgekommen.
Natürlich fragt sie nach Napirai und auch ihr muss ich alles über mein Kind erzählen. Ich mochte sie immer sehr gerne. Sie wurde als junges Mädchen mit einem sehr alten Mann verheiratet. Als sie ihr erstes Kind bekam, starb er. Seitdem lebt sie allein und bekam noch einige Kinder, ohne jedoch jemals wieder heiraten zu dürfen. Sie war immer sehr lustig und scheint es auch heute noch zu sein. Immer wieder umarmt sie mich und reibt ihren Kopf an meinem Hals.
Lketinga kommt herbei und unterbricht die Gefühlsausbrüche seiner Schwester, indem er meinen Arm packt, mich hinter sich herzieht und in ernstem Ton sagt: „Schau, welche Ziege ich für dich schlachten werde!“ Papa Saguna und James gehen bereits diskutierend durch die große Herde und schieben da und dort eine Ziege zur Seite. Lketinga mischt sich ins Gespräch ein und wir drei Weißen fühlen uns angesichts des baldigen Todesurteils etwas hilflos. Schon ist die Entscheidung gefallen. Es soll der größte Ziegenbock sein.
Lketinga packt das Tier an den Hörnern und zieht es aus der Herde. Zuerst läuft es ruhig mit, doch plötzlich blökt es lauthals los. Das Schreien geht einem durch Mark und Bein. Während die anderen Ziegen wiederkäuend dastehen, versucht sich der Bock zu befreien, als ob er ahnen würde, dass sein letztes Stündchen geschlagen hat.
Albert verlässt den Kral und möchte erst wiederkommen, wenn alles vorbei ist.
Lketinga packt im Vorbeigehen mit seiner freien Hand erneut meinen Arm und sagt: „Komm mit und schau zu, es ist deine Ziege!“ Ich weiß, dass es eine Ehre ist, als Frau dabei sein zu dürfen, und lasse mir nichts anmerken, während ich das Tötungsritual verfolge. Papa Saguna packt mit einem gekonnten Griff das Tier an allen vier Beinen und wirft es seitwärts auf den Boden. Sofort presst Lketinga dem Ziegenbock Nase und Maul zu, um ihn zu ersticken. Das Tier zuckt und ruckt und schluckt und möchte sich befreien. Der Bauch hebt und senkt sich und ich habe das Gefühl, es dauert eine Ewigkeit. Gott sei Dank ist es bereits dunkel und nur der Mond erhellt das Geschehen. Es ist Samburu-Sitte, dass kein Blut fließen darf, bevor ein Tier tot ist.
Während dieses Ersticken lautlos vor sich geht, läuft das Leben rund herum normal weiter. Einige Kinder jagen weiterhin kleine Zicklein, während andere das Ereignis gelassen beobachten. Endlich zuckt die Ziege zum letzten Mal und Papa Saguna bittet Shankayon, ein scharfes Messer und eine Schale zu holen. Er schärft das Messer an einem Stein und öffnet anschließend mit einem gekonnten Schnitt die Halsschlagader. Sofort fließt das Blut und die dafür unterlegte Schale füllt sich langsam mit der warmen Flüssigkeit, während der Kopf der Ziege weit nach hinten gekippt gehalten wird. Die gelben Augen des Tieres sind starr zum Himmel gerichtet.
Neckisch fragt Lketinga, ob ich Blut trinken wolle. Als ich dankend ablehne, bietet er es auch Klaus an, der allerdings bereits von dem, was er bisher gesehen hat, genug hat. James trägt die Schale weg und im dunklen Hintergrund erkenne ich undeutlich zwei Krieger, die ihm folgen. Verwundert frage ich Lketinga, warum er das Blut nicht trinke. „Weil ich kein Krieger mehr bin“, ist die spontane Antwort. Jetzt hievt er das tote Tier auf ein Wellblech und sein älterer Bruder trennt das Fell an der Innenseite der Bauchdecke von der Brust bis zu den Geschlechtsteilen mit einem Schnitt auf. Anschließend schneidet er die vier Beine der Länge nach auf. Die kleinen Mädchen helfen ihm dabei. Die eine hält eine Taschenlampe, die andere das jeweilige Bein.
Jetzt beginnt die Häutung der Ziege. Dazu braucht er kein Messer mehr. Mit der einen Hand zieht er an dem Fell, während er mit der anderen den toten Körper nach unten drückt.
So löst sich das Fell schnell und problemlos vom Fleisch. Fasziniert sehe ich zu, da diese Szene ohne Blutvergießen vor sich geht. Es dauert keine zwanzig Minuten, bis das Tier vollständig enthäutet vor uns liegt.
Nun wird der Bauch geöffnet und Gedärme und Innereien quellen heraus. Papa Saguna trennt alles säuberlich und legt die einzelnen Teile auf das Wellblech. Da ich von früher weiß, wie schrecklich der Darminhalt riecht, entferne ich mich nun auch. Schließlich will ich später ja noch von diesem Fleisch essen.
Ich setze mich zu den anderen ins Haus und trinke heißen Chai aus der Thermoskanne. Der kleine Albert rennt sofort wieder hinter seine Mutter und schaut mich mit erschreckten Augen an. James beginnt zu erzählen, wie die Einheimischen hier in Barsaloi reagiert haben, als ich nicht sofort im Dorf erschienen bin. „Weißt du, die meisten glaubten sowieso nicht, dass du nach vierzehn Jahren wieder hierher kommen würdest. Als dann nur Klaus ausgestiegen ist, dachten sie, dies sei der Beweis dafür. Jetzt erscheint ein Mzungu, um mitzuteilen, dass Corinne doch nicht kommen wird. Aber ich beruhigte sie und erklärte ihnen, dass du noch die Schule besuchst.
Dann hörte ich, wie sich die Leute unterhielten und zueinander sagten: Sie kommt wie eine Königin mit zwei Wagen, die noch dazu von Chauffeuren gelenkt werden. Zuerst erscheint nur ein Auto, aus dem ein Weißer aussteigt, um die Situation abzuklären und um eine Kamera aufzustellen. Erst eine ganze Weile später erscheint sie dann selbst. Für alle war klar: Only a Queen is moving in this way.“
Wir brechen in lautes Gelächter aus. Mit einer Königin verglichen zu werden, habe ich nun wirklich nicht erwartet, obwohl mir natürlich klar war, dass wir mit zwei so großen Geländewagen einschließlich Fahrern Aufsehen erregen würden. Schließlich kannten sie mich als Selbstfahrerin in unserem klapprigen Land Rover.
James wiederholt die Geschichte ein paar Mal und erntet immer fröhliche Heiterkeit. Heute Nachmittag habe er auch gehört, dass sogar die Leute, die mich nicht gekannt, sondern nur von mir gehört haben, sich über meinen Besuch freuen.
Draußen, wo der Vollmond und Tausende von Sternen den Nachthimmel erleuchten, ist von der Ziege nichts mehr zu sehen. Stattdessen sitzt Lketinga bereits an einer Feuerstelle und grillt einige Fleischstücke auf einem Rost. Es ist genau festgelegt, welche Teile die älteren Männer bekommen, welche Stücke an die Frauen gehen und welche wiederum von den unbeschnittenen Mädchen und Jungen gegessen werden dürfen. Ich erinnere mich, dass die Innereien, die Füße und der Kopf immer bei Mama in der Manyatta gekocht wurden. Ich setze mich zu Lketinga ans Feuer und schaue auf die brutzelnden Fleischstücke. Kaum zu glauben, dass diese Ziege vor einer Stunde noch quicklebendig vor uns stand.
Wir versuchen uns zu unterhalten, aber es ist nicht ganz einfach, den passenden Gesprächsstoff zu finden. Als ich mit ihm über mein Buch sprechen möchte, blockt er ab und meint: „Später, nicht jetzt.“ Versuche ich, etwas über die Zeit nach meinem Weggang zu erfahren, sagt er: „Über die Zeit in Mombasa möchte ich nicht mehr sprechen, sonst werde ich gleich wieder verrückt. Ich habe mein Leben völlig geändert. Ich trinke nicht mehr und bin zufrieden. Ich habe drei Frauen und keine Probleme.“ Na ja, mich kann er eigentlich nicht mehr als seine Frau betrachten, doch im Moment möchte ich keine Diskussion darüber anzetteln. So erzähle ich ihm von unserer Tochter Napirai, was sie in der Schule macht, welche Fächer sie liebt und welche nicht. Dass sie vielleicht lieber arbeiten möchte, als jahrelang zur Schule zu gehen. Das versteht er natürlich sofort und stellt fest: „Yes, she is clever like me.“
Auch in den Manyattas wird Fleisch zubereitet, überall quillt Rauch heraus. Allmählich verspüre ich einen richtig guten Appetit und freue mich darauf, in ein großes, wenn auch sicher eher zähes Stück Fleisch zu beißen.
Endlich ist es so weit. Wir sitzen in James' Haus und auf dem Tisch steht ein Blechtopf gefüllt mit vielen Fleischteilen. Jeder greift zu. Die einen nagen an Rippenknochen, andere beißen kräftig in ein Schenkelstück. Mir schmeckt es ausgesprochen gut, während Albert und Klaus nur so viel verzehren, wie es die Höflichkeit erfordert.
Nach dem reichhaltigen Ziegenschmaus machen wir uns langsam auf den Weg zu unseren Schlafplätzen. Von den vielen Eindrücken und der langen Reise sind wir müde und erschöpft. Lketinga begleitet uns bis zur Mission, wo wir uns für morgen zum Tee verabreden.
Albert, Klaus und ich setzen uns noch einen Augenblick auf unsere Campingstühle, um das Erlebte Revue passieren zu lassen. Die Fahrer machen auf den gefüllten Kühlschrank im Wagen aufmerksam und so ist es schnell beschlossene Sache, einen Gin Tonic zum Abschluss des Tages zu trinken. Wir sind nur wenige Schritte vom Dorf entfernt und dennoch kommt es mir vor, als sei ich soeben wieder in eine andere Welt eingetaucht. Ich sitze bequem auf einem Campingstuhl, halte einen gekühlten Drink in der Hand, sehe in zwei weiße Gesichter und spreche deutsch. Für einen Moment kommt mir alles unwirklich vor. Aus solch einer Perspektive habe ich Barsaloi noch nie erlebt!
Klaus reißt mich aus meinen Gedanken, indem er zu erzählen beginnt, wie seine Begegnung mit Lketinga verlaufen ist, bevor wir ins Dorf gekommen sind. Als er aus dem Wagen stieg, erkannte er in einiger Entfernung unter einer Akazie Lketinga. James stand bei ihm, wechselte ein paar Worte mit ihm und verschwand dann in seinem Haus. Klaus kam sich etwas verloren vor und wusste nicht so recht, wie er sich verhalten sollte. Mutig schulterte er seine Kamera und ging auf Lketinga zu. Als er versuchte, sich vorzustellen, musterte ihn Lketinga kurz mit regungslosem Gesichtsausdruck, um gleich darauf, ohne ein Wort zu sagen, weiterhin stur die Straße in Richtung Fluss hinunterzuschauen. Klaus kam sich vor wie bestellt und nicht abgeholt. Nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, hörte er in vorwurfsvollem Ton: „You arelate!“ Erleichtert, vielleicht endlich in ein Gespräch kommen zu können, begann er eifrig, unsere Verspätung zu erklären, wurde jedoch ungnädig unterbrochen: „I know everything.“ Dabei traf ihn ein vernichtender Blick. Jetzt wurde es ihm wirklich unheimlich und er dachte sich: Oh Gott, was ist, wenn Corinne hier aussteigt? Wie können wir das hier mehrere Tage aushalten, wenn er jetzt schon so reagiert? Nach weiteren langen Minuten hörte er in einem milderen Ton die Frage: „Do you have a cigarette?“
„Ihr glaubt gar nicht, wie befreiend diese Frage in der Situation war. Ich war so froh, ihm etwas Gutes tun zu können. Nachdem er sich die Zigarette angesteckt hatte, sagte er: >Let's go in the shadow.< Da standen wir dann stumm nebeneinander im Schatten der Akazie. Ich kann euch versichern, dass ich schon lange nicht mehr so sehnsüchtig auf jemanden gewartet habe wie heute auf euch!“, beendet Klaus seine Erzählung, die uns vor Lachen Tränen in die Augen treibt. Die beschriebene Haltung meines Ex-Mannes und seinen misstrauischen starren Blick kann ich mir lebhaft vorstellen, so dass mir Klaus noch im Nachhinein Leid tut.
Abgesehen von dieser Episode sind wir uns alle einig, dass der heutige Empfang und auch das Verhalten von Lketinga unsere positivsten Erwartungen übertroffen haben. Ich bin glücklich und nehme einen letzten Schluck.
Die Herren klettern auf die Autos und verschwinden in ihren Zelten. Ich krieche in mein Igluzelt und richte mich mit dem Schlafsack gemütlich ein. Draußen sitzen die Fahrer und unterhalten sich noch leise. Im Dorf blöken vereinzelt Ziegen und dazwischen bellt kurz ein Hund. Die Menschenstimmen hören sich auf die Distanz wie ein Gemurmel an. Allzu gerne würde ich wissen, was Mama, Lketinga und alle anderen über uns denken und wie sie unseren ersten gemeinsamen Tag erlebt haben. Ich für meinen Teil bin sehr froh über die bis jetzt gelungene Rückkehr und spüre eine wohlige innere Wärme. Ob sie es auch so empfinden?