Wiedersehen mit James

Ich schüttle meine Erinnerungen ab und laufe zum Wagen zurück, um mein Gepäck in Empfang zu nehmen.

Plötzlich hören wir ein lautes Knattern und in der nächsten Sekunde fährt jemand auf einem Motorrad vor.

Augenblicklich erkenne ich James. Ich kann es kaum glauben, er fährt Motorrad! Er bockt die kleine Geländemaschine sorgfältig auf, zieht seine Mütze ab und eilt mit ausgestreckten Armen, die trotz der Hitze in einer dicken Jacke stecken, lachend wie ein kleiner Junge auf mich zu. Wir liegen uns zum ersten Mal in den Armen und die Freude ist riesig.

Über all die Jahre hatten wir nur Briefkontakt. Er ist die Verbindung zur ganzen Familie. Ohne ihn gäbe es keine Kommunikation. Wir können minutenlang vor Freude nur lachen. Ich bin überrascht, wie sich James entwickelt hat. Als ich ihn zum letzten Mal sah, war er ein etwa siebzehnjähriger Schüler und heute scheint er ein reifer Mann zu sein.

Auch mein Verleger, den James ja schon kennt, und Klaus werden überschwänglich von ihm begrüßt. Aufgeregt erzählt er uns, er habe unsere Wagen im letzten Moment in Maralal gesehen und sei mit dem Motorrad sofort hinterhergefahren. Wir aber hätten ihn im Rückspiegel einfach nicht bemerkt! Nun ja, die Wagen hinterlassen eine riesige Staubwolke und schließlich hatten wir ihn nicht auf einem Motorrad erwartet.

Nach der herzlichen Begrüßung gehen wir alle zurück auf die Terrasse und es wird erzählt. James ist etwas größer als ich und sein Gesicht ist fülliger geworden, was wiederum seine Augen etwas kleiner erscheinen lässt.

Er ist sportlich und sehr warm gekleidet und trägt feste Schuhe, eine Art Wanderschuhe, die ich in dieser Gegend noch nie gesehen habe. Die meisten Einwohner liefen früher in Sandalen aus alten Autoreifen oder in Plastikschuhen herum.

Lachend erzählt er, dass ganz Barsaloi auf unsere Ankunft wartet und Mama es so lange nicht glauben will, bis wir vor ihrer Manyatta stehen. Sie freue sich sehr und habe immer gewusst, dass sie mich noch einmal sehen werde. Albert erkundigt sich nach seinem Motorrad und sofort beginnen James' Augen zu leuchten. Er ist sehr stolz auf seine Errungenschaft. Nur ein früherer Schulfreund und er hätten es zu einem Motorrad gebracht. Für ihn bedeutet es eine erhebliche Erleichterung, wenn er die weite Strecke von seiner Schule nach Hause zu seiner Famiiie auf diese Weise bewältigen kann. Allerdings könne er sich das nur am Wochenende leisten, da sonst die Kosten für Benzin und Unterhalt zu hoch seien. Er ist

Headmaster, also Direktor, einer kleineren Schule einige Kilometer abseits von Barsaloi, und die Fahrzeit dorthin beträgt etwa 45 Minuten. Unglaublich sich vorzustellen, dass ein Schulleiter sich die tägliche Heimfahrt mit dem Motorrad nicht leisten kann! Das ist Nordkenia — Samburuland — und James empfindet es als normal.

Er ist glücklich, dass er überhaupt ein Motorrad besitzt.

Natürlich muss ich vor allem von Napirai erzählen. Warum ist sie nicht mit mir hierher gekommen? Wie groß ist sie jetzt? Fragt sie nach uns, ihrer afrikanischen Familie? Und wird sie denn auch einmal kommen? Geht sie gerne in die Schule? Fragen über Fragen, die ich, so gut ich kann, beantworte. Ich erkläre James ehrlich, dass ich mir selbst erst einmal einen Überblick verschaffen möchre, um dann Napirai mit Fotos und Filmmaterial langsam für einen späteren Besuch interessieren zu können. Wenn alles ohne Probleme verläuft, wird sie bei einem nächsten Besuch sicher dabei sein.

Die Zeit verfliegt im Nu und schon werden wir für das gemeinsame Abendessen an einen Tisch geführt. Wir sind die einzigen Gäste. Schon früher bin ich hier nie auf andere Touristen gestoßen und dennoch scheint die Lodge auf geheimnisvolle Weise zu funktionieren. James isst hier das erste Mal und schaut sich interessiert das Besteck links und rechts des Tellers an.

Als Vorspeise wird ein Toast mit Pilzen serviert und ich muss lachen, denn ich weiß, Samburu essen keine Pilze.

James fragt vorsichtig, was das für ein Gericht sei, und schaut etwas betreten auf das kleine Stück Toast. Ich muss so sehr lachen, dass ich kaum dazu komme, es ihm zu eridären. Ständig habe ich die Worte von Lketinga im Ohr: „Was die Weißen essen, ist kein richtiges Essen und satt wird man davon auch nicht.“ Dabei hatte er immer das Gesicht verzogen. Mit einem ähnlichen Gesicht sitzt nun James vor seinem Toast. Endlich erhole ich mich und erkläre ihm, um was es sich handelt und dass es nur eine Vorspeise ist. Er meint: „Okay, kein Problem, ich werde es probieren. Schließlich bin ich Gast und als Gast isst man, was man bekommt.“

Nach ein paar Minuten erlöse ich James von seinem Toast, als auch schon der zweite Gang serviert wird, eine Tomatensuppe. Die schmeckt ihm schon besser, obwohl auch sie ungewohnt ist. Dann endlich kommt ein Stück Fleisch. Das ist eher etwas für ihn, obwohl aus seiner Sicht etwas zu klein geraten. Das unbekannte Schokoladenmousse zum Abschluss kann ihn jedoch nicht entzücken.

Während des Essens wird viel gelacht und geredet. Ich erkundige mich nach Lketinga und James antwortet: „He is not bad in this time.“ Es gehe ihm gut und er habe vor einem Monat wieder ein junges Mädchen geheiratet. Ich bin überrascht, da diese Absicht in keinem der letzten Briefe erwähnt wurde. James erklärt, dass Lketinga sich erst vor kurzem zu einer weiteren Heirat entschlossen habe. Seine erste, beziehungsweise nach mir zweite Frau, sei ständig krank und habe mehrere Fehlgeburten hinter sich. Lketinga hat bis heute in Kenia nur eine Tochter, Shankayon. Er hätte aber gerne mehr Kinder und habe nun lange genug gewartet. Seine kranke Frau sei schon seit ein paar Monaten nicht mehr in Barsaloi, sondern sei zu ihrer Mutter zurückgekehrt.


Das sind in der Tat überraschende und unvorhergesehene Neuigkeiten und ich hoffe, dass mein Erscheinen nicht noch zusätzliche Probleme verursacht. Nachdem ich James meine Befürchtungen mitgeteilt habe, meint er lachend: „Nein, nein, es gibt keine Probleme!“

Er erklärt, dass Lketinga bei meiner Ankunft nicht ohne Frau dastehen wollte, weil dies auf mich vielleicht einen schlechten Eindruck gemacht hätte. Da er sowieso weitere Kinder möchte, sei diese Lösung das Beste. Den ersten Teil der Begründung finde ich zwar etwas weit hergeholt, bin aber dennoch froh, dass Lketinga eine Frau von seinem Stamm an seiner Seite hat. Höchstwahrscheinlich ist sie ein junges Mädchen, nicht viel älter als unsere Tochter Napirai!

Für uns Europäer ist so etwas kaum vorstellbar. Aber in der Kultur der Samburu haben die Männer meist gar keine andere Möglichkeit, als sich junge Frauen auszusuchen. Häufig werden Mädchen mit bis zu vierzig Jahre älteren Männern verheiratet und wenn diese sterben, dürfen die Frauen, auch wenn sie erst zwanzig Jahre alt sind, nie mehr heiraten. Sie können noch Kinder gebären und diese tragen den Familiennamen des Verstorbenen, wissen aber nie, wer ihr wirklicher Vater ist, weil darüber nicht gesprochen wird. Bei den Samburu gibt es normalerweise keine Liebesheirat. Lketingas und meine Ehe war eine große Ausnahme. Ich weiß, dass er dadurch etwas Schönes, Außergewöhnliches erlebt hat, auf der anderen Seite hat es ihn aber auch verwirrt und verunsichert.

Wie wird das wohl mit seiner neuen Frau gewesen sein? Ich bin gespannt. Seine erste Frau kannte ich. Sie hat als Mädchen öfter in unserem Shop Lebensmittel eingekauft. Jahre später habe ich sie auf dem Video, das Pater Giuliani während unseres Hochzeitsfestes gedreht hat, entdeckt und mich sehr darüber gefreut. Ich hätte sie gerne wiedergetroffen, als junge Frau und Mutter von Napirais Halbschwester.

Wir wechseln ins Kaminzimmer und trinken ein letztes Glas Wein. James bleibt bei Cola, da er Wein nicht kennt und mit dem Motorrad nach Maralal fahren muss. Während ich in das knisternde Feuer schaue, höre ich aufmerksam zu, wie James Albert und Klaus von seiner ersten Begegnung mit mir erzählt. Es war vor der Schule in Maralal, nachdem ich Lketinga endlich gefunden hatte. Lketinga führte mich zur Schule, um mir seinen Bruder vorzustellen und ihm mitzuteilen, dass wir nach Mombasa gehen werden. James, damals etwa vierzehn Jahre alt, wurde geholt und kam sehr schüchtern auf uns zu. Sein Blick war gesenkt und er traute sich kaum, uns anzuschauen.

Nun versucht er, seinen damaligen Zustand zu beschreiben: „Ich war sehr verunsichert, weil ich dachte, diese Weiße wäre mein Sponsor. Ich wusste, dass eine amerikanische Lady meine Schule finanzierte, und überlegte, warum sie auf einmal dastand. Was konnte das nur bedeuten? Ich war sehr nervös. Erst als mein Bruder mir erklärte, dass Corinne zu ihm gehöre und hierher gekommen sei, um ihn zu suchen, merkte ich, was los war. Aber auch diese Neuigkeiten erschienen mir verrückt. Mein Bruder mit einer weißen Frau, die bei unserer Mama leben wollte? Da sah ich viele Probleme kommen, weil er nie eine Schule besucht hatte. Er wusste nichts über die weiße Welt und auch alle anderen bei uns zu Hause kannten nur das traditionelle Samburuleben. Es ist etwas anderes, wenn man eine Schule besucht hat, aber so sah ich nur Schwierigkeiten. Lketinga ist älter als ich und war damals ein Krieger. Ich hingegen war noch ein unbeschnittener Schuljunge und konnte einem Krieger nicht sagen, was ich dachte. Ja, und die Probleme tauchten bereits in Mombasa auf und Corinne stand einige Wochen später erneut vor der Schule, diesmal aber allein. Wieder war sie auf der Suche nach meinem damals kranken Bruder. Ich sollte sie nach Barsaloi zu meiner Familie bringen. Ich versprach zu helfen, obwohl es für mich ein großes Problem gewesen wäre, die Schule für ein paar Tage zu verlassen. Bei uns verlässt man die Schule nur in den Ferien oder wenn jemand zu Hause gestorben ist. Es wäre wirklich nicht gut gewesen! Gott sei Dank hat sie dann die Lösung und den Weg allein gefunden.“ Dabei schaut er mich lachend an. Vieles von dem, was er gerade aus seiner Sicht erzählt hat, ist für mich neu und dennoch zieht diese Zeit deutlich vor meinem inneren Auge vorbei.

Morgen ist es so weit. Ich trete erneut die Reise von Maralal nach Barsaloi an und werde Lketinga zum ersten Mal seit meiner Flucht vor vierzehn Jahren wieder gegenüber stehen. Ein mulmiges Gefühl kann ich nicht verleugnen. Das Feuer ist heruntergebrannt und wir alle fühlen uns von der langen Anreise und den ersten Aufregungen etwas erschöpft. Es wird vereinbart, dass wir James morgen früh bei der Post treffen und gemeinsam das Nötigste einkaufen werden.

Wir ziehen uns in die Zimmer zurück und ich freue mich, dass auch hier ein kleines Feuer im Kamin brennt.

Bald liege ich unter einem Moskitonetz im Bett und warte auf den Schlaf. Doch jetzt, nachdem alles um mich herum ruhig ist, merke ich, wie aufgewühlt ich bin. Der Schlaf will nicht kommen, stattdessen steigt eine seltsame Traurigkeit in mir hoch. Je mehr ich nachdenke, desto größer wird meine Panik, dass ich morgen, wenn ich Mama und Lketinga sehe, heulen muss, was kein gutes Zeichen im Sinne der Samburu-Sitte wäre. Man vergießt nur Tränen, wenn jemand gestorben ist.

Ich stehe noch einmal auf, setze mich draußen vor die Türe und lausche in die Stille der Nacht. Bald ist Vollmond. Überall knackt es im Gebüsch, doch sehen kann ich nichts. Ein Affe keckert kurz in der Nähe und plötzlich höre ich aus der Ferne das Singen von Kriegern. Irgendwo da draußen haben sich Dutzende von Kriegern und Mädchen versammelt und tanzen im Licht des Mondes. Durch den Wind werden die Gesänge manchmal lauter, dann wieder leiser. Zwischendurch höre ich deutlich das Stampfen der Füße, das ab und zu durch einen kurzen spitzen Schrei unterbrochen wird. Ich sitze da, lausche und stelle mir vor, wie die schön geschmückten Krieger ihre hohen Sprünge ausführen, während die jungen Mädchen mit dem Kopf und dem schweren Halsschmuck im Takt mitwippen. Solchen Tänzen habe ich früher oft zugesehen, wenn mein Mann tanzte, und jedes Mal war es bewegend und aufregend.

Ich spüre, dass die Traurigkeit und die Unsicherheit gewichen sind und ich mich glücklich und frei fühle. Jetzt bin ich bereit, morgen die Familie zu treffen, und freue mich. Zufrieden schlüpfe ich erneut unters Moskitonetz, schnuppere die leicht rauchige Luft im Zimmer und schlafe bald ein.

Zur verabredeten Zeit treffen wir beim Postamt ein. Sofort sind die jungen Männer von gestern wieder um uns herum versammelt und wollen ihre Geschäftstüchtigkeit erproben. Überraschenderweise bekommt Albert, den wir zu meinem

Schutz als meinen Vater ausgeben, heute einen traditionellen Rungu, einen Schlagstock aus Hartholz, geschenkt.

Erst als James erscheint und ein paar Worte mit den Jugendlichen wechselt, können wir uns einigermaßen in Ruhe auf dem Markt umsehen und für meine Schwiegermama eine schöne, warme Decke aussuchen. Im Gepäck habe ich schon zwei Decken, eine für Lketinga in orangerot, weil er diese Farben mag, und eine andere karierte für seinen älteren Bruder. Die Männer tragen diese auch als wärmende Kleidungsstücke. Mama bekommt für ihre Manyatta eine besonders dicke Wolldecke.

Danach fahren wir mit den Autos zu einem Laden, in dem man Lebensmittel in größeren Mengen kaufen kann.

Wir ordern jeweils einen 25-Kilo-Sack mit Reis und Maismehl guter Qualität, verschiedene Speisefette, Teepulver, Süßigkeiten, Seifen und einiges mehr. Im Shop nebenan wird Gemüse verkauft. Auch hier bestellen wir mehrere Kilogramm Tomaten, Karotten, Kohl, Zwiebeln und Orangen. Für uns selbst müssen wir auch noch einiges besorgen, da wir ja nicht nur von Ziegenfleisch leben wollen.

Kurz vor der Abfahrt läuft James noch zum Tabakhändler, um sich 3 kg Kautabak einpacken zu lassen. Für die alten Menschen ist dieser fast wichtiger als Essen. In unserem Auto fährt eine traditionell schön geschmückte Frau mit. Sie ist überglücklich, dass sie die weite Strecke in einem Auto zurücklegen darf. Hier ist es selbstverständlich, wenn in einem Fahrzeug noch Platz ist, fremde Personen mitzunehmen.

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