Vorgeschichte

Bis es so weit war, dass ich diese Reise antreten konnte, fand ein monatelanger innerer Kampf statt, in dem ich mich immer wieder fragte: Ist es richtig, was ich vorhabe? Gleichzeitig ereigneten und veränderten sich so viele Dinge in meinem Leben, dass es mir im Nachhinein wie eine Vorherbestimmung vorkommt.

In der Vergangenheit hatte ich wiederholt einen Anlauf unternommen und bei der kenianischen Botschaft in der Schweiz sowie bei der deutschen Botschaft in Nairobi telefonisch nachgefragt, was zu unternehmen sei, damit die in der Schweiz durchgeführte Scheidung von meinem Samburu-Ehemann auch in Kenia anerkannt wird. Die Antwort war jedes Mal die gleiche: dass ich einen kenianischen Anwalt beauftragen müsste und auf jeden Fall das Einverständnis meines Ehemannes nötig wäre. Doch Lketinga lebt nun wieder in Nordkenia, Hunderte von Kilometern von Nairobi entfernt, und ist seit Jahren mit einer jungen Frau seines Stammes verheiratet. Ihn in dieser Angelegenheit in Nairobi vorzuladen, ist ein Ding der Unmöglichkeit, zumal er sicherlich auch nicht einsehen kann, wofür dies gut sein soll. Sein Leben ist so weit in Ordnung und Scheidungen sind bei den Samburu unbekannt, weil die Männer ja mehrere Frauen heiraten können.

Da ich als Ehefrau beim Verlassen Kenias von Lketinga erneut eine Ausreisebewilligung hätte bekommen müssen, ließ ich alles, wie es war, mit dem Bewusstsein, dieses Land vorläufig nicht mehr betreten zu können, obwohl ich viel an meine Familie dachte, vor allem an meine Schwiegermama, die Großmutter meiner Tochter.

Wir würden weitersehen, wenn Napirai nach ihrer Volljährigkeit in ein paar Jahren ihren Vater besuchen möchte, und würden dann schon eine Lösung finden, beruhigte ich mich selber und verstaute die europäischen Scheidungspapiere erneut in einer Schublade.


Im Jahr 2003 bin ich den ganzen Herbst mit meinem Buch „Zurück aus Afrika“ auf Lesereise, was mir großen Spaß bereitet. Auch laufen nun die Arbeiten für die Verfilmung meines ersten Buches auf Hochtouren und es bleibt nicht aus, dass ich zu den Besprechungen des Drehbuches öfter nach München fahre. Es ist schön, dass ich meine Einwände, Wünsche oder Bedenken einbringen kann, und so entsteht eine enge Zusammenarbeit, die meine oft gemischten Gefühle, die sich zwischendurch einschleichen, etwas beruhigen.

Dennoch ist es nicht einfach, mein gelebtes Leben nun mit anderen Namen und teilweise in gekürzter oder etwas abgeänderter Version lesen und durchleben zu müssen. Bei manchen Drehbuchszenen treibt es mir Tränen in die Augen und ich spüre, wie mich vieles wieder einholt. Gleichzeitig bin ich auch neugierig und stolz darauf, dass ein wichtiger Teil meines Lebens bald in den Kinos gezeigt werden soll. Napirai ist natürlich noch sehr skeptisch, was ich gut verstehen kann, da sie sich nicht mehr an diese Zeit erinnert und dadurch Gefahr läuft, den Film mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Ich bete immer wieder, dass alles gut gehen wird und wir uns nie zu schämen brauchen.

Durch die Zusammenarbeit mit den Filmleuten entstehen einige Kontakte in Kenia. So fasse ich im Dezember spontan den Entschluss, die Scheidungspapiere wieder aus der Schublade zu holen und an einen neuen Bekannten in Nairobi zu faxen, mit der Bitte, meinen Fall durch einen Anwalt vor Ort abklären zu lassen. Wenn es je eine unkomplizierte Möglichkeit für die Anerkennung meiner Scheidung in Kenia geben sollte, dann jetzt, wo wir sachkundige Leute vor Ort kennen. Verlieren kann ich nichts und so warte ich die Antwort einfach ab.

Die Lesetour nimmt mich auch zu Beginn des neuen Jahres noch sehr in Anspruch. Es ist eine schöne Aufgabe, vor

Hunderten von erwartungsvollen Menschen über meine Erlebnisse zu erzählen, um dann in fröhliche und erstaunte Gesichter zu sehen. Es macht mich glücklich zu hören, wie vielen Menschen ich nicht nur Lesevergnügen bereite, sondern auch Kraft und Mut für ihr eigenes Leben vermitteln kann. Mittlerweile kommt es mir fast wie eine Berufung vor.

Weil ich davon so erfüllt bin, realisiere ich zu spät, dass sich zu Hause eine private Katastrophe ereignet hat.

Mein Lebensgefährte hat sich ganz leise aus unserer Beziehung geschlichen. Als ich es endlich bemerke, ist es schon zu spät. Ich bin tief ttaurig und gleichzeitig wütend. Mehr kann, will und darf ich dazu nicht äußern.

Wieder ist etwas zerbrochen, was ich so nicht erwartet hätte. Nun weiß ich aber auch, dass bei alter Liebe meine inzwischen weltweit bekannte Vergangenheit für einen Mann an meiner Seite nicht einfach zu ertragen ist. Nach dem Spielfilm wird dies wahrscheinlich noch problematischer.

Dennoch möchte ich meinen Weg nicht mehr verlassen. Ich liebe meinen Beruf, der mir die Möglichkeit bietet, sowohl hier als auch in Afrika zu helfen. Meine Bücher tragen bei vielen Menschen zu einem besseren Verständnis zwischen Weißen und Schwarzen bei, wie ich zahllosen Leserzuschriften entnehmen kann. Gibt es eine schönere Aufgabe, gerade weil ich selbst einem Mischlingskind das Leben schenken durfte? Für mich steht fest: Ich werde weiterhin alles in meiner Macht Stehende tun, um mit Energie, Kraft und meinem Bekannt-heitsgrad zu helfen. Dieses Wissen hilft mir bei der Aufarbeitung meiner Trauer um die zerbrochene Beziehung zu meinem Lebenspartner.

Ich stürze mich noch mehr in die Arbeit, die Freizeit verbringe ich mit meiner Tochter oder bei langen Wanderungen in den von mir geliebten Bergen.

Einige Wochen später bekomme ich den Bescheid aus Nairobi, dass meine europäischen Scheidungspapiere auch in Kenia rechtsgültig seien und dass ich vor vierzehn Jahren meine Tochter nach kenianischem Recht nicht entführt habe, da ihr Vater damals die Einwilligung zur Ausreise gab, auch wenn dies natürlich aus seiner Sicht nicht für immer gedacht war. Bei dieser Neuigkeit spüre ich eine große Befreiung und Erleichterung.

Nachts dagegen verarbeite ich nach Wochen noch die zerbrochene Beziehung. Ich schlafe schlecht und träume viel. Einmal schrecke ich mitten in der Nacht hoch und sitze total verschwitzt und kerzengerade im Bett mit der Eingebung, dass ich nach Kenia reisen muss, wenn ich meine Schwiegermama noch einmal lebend sehen möchte. Verstört und verwirrt finde ich für den Rest der Nacht keinen Schlaf mehr.

Der Gedanke lässt mich nicht mehr los. In den kommenden Tagen überlege ich fieberhaft, ob ich wirklich nach Kenia reisen soll. Was wird Napirai dazu sagen? Was meine Mutter? Und vor allem, was wird meine ganze afrikanische Familie einschließlich Lketinga darüber denken?

Die Idee frisst mich langsam auf und meine Stimmung wechselt zwischen Euphorie und Aggression. Wäre ich noch mit meinem Partner zusammen, wäre ich nicht auf die Idee gekommen, jetzt nach Kenia zurückzukehren.

Seltsam! Vielleicht ist das Leben schon vorprogrammiert und alles musste so kommen.

Erneut reise ich nach München und treffe die Regisseurin des Films „Die weiße Massai“, die in der Zwischenzeit in Kenia war und unter anderem auch meine Familie in Barsaloi besucht hat. Sie erzählt, dass sie nach anfänglichem Misstrauen freundlich aufgenommen wurde und sich nach einigem Zureden sogar meine Schwiegermutter blicken ließ. Mama sei immer noch eine stattliche, aber alte Frau. Beim Abschied gab sie ihr eine Botschaft für mich mit: „Corinne soll neunzig Jahre alt werden, so wie ich. Sie soll wissen, dass ich sie von ganzem Herzen liebe, dass ich ihr alles Gute wünsche, dass sie jederzeit willkommen ist, und dass ich sie gerne noch einmal sehen möchte, bevor ich sterbe.“

Als ich diese Worte höre, schießen mir Tränen in die Augen. Ich spüre eine intensive Verbundenheit mit ihr und im gleichen Moment steht mein Entschluss fest: Ich muss meine Schwiegermama noch einmal sehen und in den Arm nehmen — ich gehe nach Afrika!

Im Verlag besprechen wir die neue Entwicklung. Albert, mein Verleger, der schon vor sechs Jahren meiner Familie das erste Buch „Die weiße Massai“ bei einem Besuch überbrachte, erklärt sich bereit, mich zu begleiten.

„Dann kann ich auch Little Albert kennen lernen“, meint er vergnügt. James, der Bruder meines Ex-Ehemannes, hat nämlich seinen ersten Sohn nach ihm benannt, um sich auf diese Weise für die langjährige Unterstützung des Verlages zu bedanken.

Nun teile ich unser Vorhaben in einem Brief an James mit. Er ist das Verbindungsglied zur Familie, weil nur er schreiben und lesen kann. Gespannt und neugierig warte ich auf eine Antwort. Im Mai erhalte ich endlich den ersehnten Brief, in dem er seine große Freude und die der ganzen Familie kund tut. Er schreibt auch, dass Mama immer gefühlt habe, dass sie mich noch einmal sehen wird, solange sie lebe. Sie freue sich sehr und auch Lketinga werde mir keine Probleme bereiten. Alle Menschen, denen er die Neuigkeit erzähle, glaubten es kaum und fragten zweifelnd: Really, Corinne will come once again to our place in Kenia?

Als ich meiner Tochter diesen schönen Brief vorlese, meint sie spontan: „Ja, Mama, ich glaube, du musst da wirklich nochmal hin.“ Das sind die erlösenden Worte, die ich mir gewünscht und die ich gebraucht habe. Ich liebe meine Tochter sehr und hoffe, auch für sie mit vielen neuen Eindrücken, Geschichten und Fotos nach Hause zurückkehren zu können.

Vier Monate hatte ich innerlich mit mir gerungen, ob diese Rückkehr richtig sei. Ob wir alle dies gut überstehen würden? Doch nun bin ich sicher, dass alles, was seit Beginn des Jahres geschehen ist, nur der Weg war, um das Ziel — das Wiedersehen — zu erreichen.

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