Mama

James unterbricht meine Gedanken und sagt: „Ich zeige dir alles später, denn jetzt begrüßen wir zuerst Mama.

Wir stehen direkt vor ihrer Hütte.“ Dabei zeigt er auf eine mannshohe Manyatta. Gerade möchte ich mich bücken und in den kleinen Eingang kriechen, als James mich zurückhält und flüstert: „Nein, nein, lass Mama herauskommen, sonst könnt ihr euch in der engen Hütte und dem beißenden Rauch gar nicht richtig begrüßen, und Mama hat einen Grund, wieder einmal aus der Hütte zu kommen.“

Er spricht ein paar Maa-Sätze in Richtung des Eingangs und dann höre ich, wie sie sich aufrappelt, um kurz darauf in gebückter Haltung aus der Manyatta zu kommen. Endlich steht sie vor mir — nach über vierzehn Jahren!

Überwältigt stelle ich fest, dass sie sich in der langen Zeit kaum verändert hat. Ich hatte sie mir viel älter und schwächer vorgestellt. Stattdessen steht mir eine stattliche und überaus würdevolle Mama gegenüber. Wir strecken uns die Hände entgegen und, während diese ineinander greifen, schauen wir uns stumm und doch vielsagend an.

Mein Gott, was hat diese Frau für eine Aura! Ich versuche, in ihren leicht trüben Augen zu lesen. Es entspricht nicht der Kultur der Samburu, sich überschwänglich in die Arme zu fallen und Gefühlsregungen zu zeigen.

Starke Gefühle versuchen sie zu unterdrücken und schauen dabei ernst und regungslos vor sich hin. Wir halten uns immer noch an den Händen und es kommt mir wie eine Ewigkeit vor.

Ich möchte ihr so gerne sagen, wie wichtig mir dieser Besuch ist. Dass ich all die Jahre intensiv gehofft habe, ihr eines Tages noch einmal gegenüberstehen zu dürfen. Dass ich sie immer in meine Gebete mit eingeschlossen habe. Dass sie zu den wichtigsten Menschen in meinem Gefühlsleben gehört und noch vieles mehr. Stattdessen stehe ich stumm da und kann nur mit dem Ausdruck meiner Augen und dem Herzen sprechen.

Plötzlich streckt sie ihre rechte Hand aus, ergreift mein Gesicht, drückt zärtlich mein Kinn und flüstert:

„Corinne, Corinne, Corinne!“ Dabei lächelt sie glücklich. Jetzt ist der Bann gebrochen. Ich umarme sie und kann nicht anders, als ihr einen Kuss auf ihr graues Haupt zu drücken. In diesem Moment bin ich unbeschreiblich glücklich darüber, dass ich den Mut gefunden habe, hierher zurückzukommen. Ich spüre, dass es auch für sie ein sehr bewegender Moment ist.

Für einen kurzen Augenblick schweifen meine Gedanken zu unserer ersten Begegnung zurück. Nachdem ich damals nach langer und abenteuerlicher Suche Lketinga endlich hier in Barsaloi gefunden hatte und wir uns nach einer freudigen Begrüßung in der Manyatta auf dem Kuhfell sitzend aufgeregt und glücklich unterhielten, betrat Mama in gebückter

Haltung ihre Hütte. Sie setzte sich uns gegenüber und schaute mich stumm und, wie mir schien, düster an.

Zwischen uns war nur die rauchende Feuerstelle. Wie heute forschten unsere Blicke im Gegenüber und versuchten minutenlang, im Gesicht der anderen zu lesen. Damals brach sie den Bann, indem sie mir ihre Hand zur Begrüßung entgegenstreckte, heute berührte sie mein Gesicht.

Aufgewühlt und ergriffen von der Begegnung mit Lketinga und mit Mama, rede ich nun einfach drauflos, um gegen die aufsteigenden Tränen anzukämpfen. Ich mache ihr Komplimente über ihr gutes Aussehen. Sie hat immer noch ein volles und fast faltenfreies Gesicht. Lediglich etwas kleiner und schmaler ist sie geworden. Ihr Haupthaar ist kurz geschoren und grau, was ihre Augen noch trüber erscheinen lässt. Aufgrund der offenen Feuerstelle in der Manyatta und dem damit verbundenen Rauch hat sie wie viele Samburu Augenprobleme.

Neben einigen Schichten farbiger Perlenschnüre am Hals trägt sie als Schmuck Ohrringe aus Glasperlen und Messing. An ihren Armen und Fußgelenken erkenne ich die schmalen Silberreifen von früher, die sich mittlerweile tief ins Fleisch gegraben haben. Zur Hochzeit bekam ich von Lketinga einen ähnlichen Schmuck geschenkt. Ich trug ihn so lange, bis ich schmerzhafte Wunden an den Knöcheln bekam, die monatelang nicht heilen wollten. Noch heute sieht man die Narben.

Mamas Kleidung besteht aus einem alten blauen Kanga, den sie um die Schultern gelegt hat, und einem braunen, an vielen Stellen geflickten Rock. Ich bin froh, dass ich für sie drei neue Röcke in meinem Gepäck habe. James hätte ihr von dem Geld, das wir zur Unterstützung geschickt haben, auch mal einen Rock kaufen können, geht es mir durch den Kopf. Doch solange ein Kleidungsstück noch irgendwie zusammenhält, wird es getragen, und mehr als eines kann man sowieso nicht anziehen, ist die Ansicht zumindest der Alten.

Ich trete zur Seite und so kann auch Albert die Mama respektvoll und herzlich begrüßen. Sie erinnert sich an seinen

früheren Besuch und freut sich, ihn wiederzusehen. Klaus dagegen betrachtet sie etwas misstrauisch. Sie kennt ihn ja noch nicht und mit seiner Kamera sieht er für sie bestimmt etwas gefährlich aus. Bei unserer Unterhaltung übernehmen James und Lketinga die Rolle als Dolmetscher. Ich hole die frisch erstandene Decke und überreiche sie Mama. Doch statt sich zu freuen, zieht sie ein finsteres Gesicht und leicht verunsichert frage ich mich, was ihr wohl nicht passt. Es war ihr unangenehm, erfahre ich später, dass andere Leute sehen, welche Geschenke sie bekommt, weil das nur Neid und Unruhe verursacht.

Um sie aufzuheitern, suche ich in meinem Rucksack das kleine Album mit den Fotos von Napirai, das ich speziell für sie und Lketinga zusammengestellt habe. Beim Einsortieren hatte ich mit den neuesten Fotos begonnen, und je weiter man nach hinten blättert, desto jünger wird Napirai. Sofort lassen sich Mama und Lketinga nieder und schauen sich die Bilder an. Der Vater staunt über seine große Tochter und lacht: „Sie ist ja so lang wie ich.“ Mama fragt bei jedem Foto, ob dies immer noch Napirai sei. Irgendwie kann sie die vielen verschiedenen Situationen, die ich bewusst ausgesucht hatte, nicht richtig einordnen. Doch je jünger Napirai auf den Fotos wird, desto lebendiger wird Mama. Mittlerweile beugen sich zehn oder mehr Köpfe über das kleine Album. Alle wollen Napirai sehen. Auch Papa Saguna, Lketingas älterer Bruder, schaut interessiert zu und lacht einmal herzlich auf, sodass ich seine tadellos weißen Zähne und die strahlenden Augen sehen kann. Als das Foto auftaucht, auf dem meine Tochter mit einigen Ziegen abgebildet ist, wird aufgeregt diskutiert. Bei den letzten Aufnahmen streicht Mama zärtlich über die Bilder und sagt: „Ja, jetzt erkenne ich das kleine Mädchen wieder, meine kleine Napirai.“ Dabei lacht sie mich glücklich an. Nach dem letzten Foto klappt sie das Album zu, versteckt es unter ihrem Kanga und bedankt sich mit den Worten: „Asche oleng.“

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