Wir nehmen die zwei gemieteten Land Cruiser einschließlich der Fahrer in Empfang und endlich geht es los in Richtung „alte Heimat“. Unsere zwei Wagen kämpfen sich durch das Verkehrschaos in Nairobi. Links und rechts drängen sich Autos, Lastwagen, Kleinbusse, Matatus genannt, und stinkende, bunte Fernbusse vorbei. Die schwarzen Abgaswolken nehmen mir die Luft zum Atmen. Dafür fasziniert es mich aufs Neue, wie jeder und jede versucht, irgendwie ein paar Schillinge zu verdienen. Da gibt es die Zeitungsverkäufer, die am Straßenrand warten und, sobald die Autos in der Kolonne stehen, herbeieilen, um ihre Zeitungen feilzubieten. Ein anderer drängt sich zwischen den Autos hindurch und möchte seine Mützen, Taschenlampen und Uhren loswerden. Mir fällt eine rote Kopfbedeckung auf und so kurble ich das Fenster herunter, um den Preis auszuhandeln. Viel Zeit bleibt den Verkäufern nie. Wir einigen uns schnell, aber da er kein Wechselgeld hat und die Kolonne hinter uns ungeduldig drängt, fahren wir weiter. Doch so schnell lässt er sich von dem Geschäft nicht abbringen. Ich schaue in den Rückspiegel und sehe, wie der junge Mann in Riesenschritten unserem Wagen hinterherhechtet. Wir sind sicher schon 400 Meter gefahren, als sich nach einem Kreisverkehr die Möglichkeit ergibt, kurz anzuhalten.
Kaum steht der Wagen, ist schon der Verkäufer mit einem strahlenden Lächeln neben uns. Staunend kaufe ich die Mütze und auch unser Fahrer erwirbt eine. Jetzt wird das Lächeln des Händlers noch breiter. Ich wünschte mir, viele Verkäufer in unserem noblen Land könnten diese Freude sehen. Bei uns steht wohl keiner zwischen stinkenden Abgasen und rennt der Kundschaft hinterher! Und um von einigen Verkäufern oder Verkäuferinnen ein freundliches Lächeln zu erhalten, muss man sich oft selbst etwas Originelles einfallen lassen.
Hinter kleinen Bretterbuden oder auf dem Boden sitzen Händler und versuchen, kleine Mengen von Tomaten, Zwiebeln, Karotten oder Bananen zu verkaufen. Das Leben ist bunt in Nairobi und trotz der vielen Menschen wirkt es auf mich nicht so hektisch wie in einer europäischen Stadt.
Langsam verlassen wir den Stadtkern und nun erkenne ich den so genannten Fortschritt deutlicher. Überall befinden sich neue Supermärkte und Firmen. Werbetafeln für Handys, TV-Geräte und Kino-Filme prangen am Highway. Direkt am Straßenrand werden Betten und Schränke ausgestellt, zwischen denen einzelne Ziegen umherstapfen, die statt Gras Bananenschalen kauen oder im Müll schnuppern. Lachende Kinder in blauen Schuluniformen laufen in Gruppen durch die Gegend. Am Rande der Stadt erkennt man allerdings an den verschiedenen Wellblechdächern eines der großen Slumgebiete, wo die Ärmsten der Armen wohnen.
Unsere Fahrer müssen sehr konzentriert fahren, denn die Straßen sind selbst in Nairobi, der Hauptstadt Kenias, eine Katastrophe. Ein Schlagloch folgt dem anderen oder es fehlen auch ganze Teile der Asphaltdecke. Auf unserer Fahrbahnseite kommt uns immer wieder Gegenverkehr entgegen, so dass wir nie richtig schnell fahren können. So benötigen wir für die etwa 170 Kilometer bis Nyahururu fast fünf Stunden. Allerdings fahren wir die alte kurvenreiche Strecke über Naivasha, weil wir einen Blick in das grandiose Rift Valley werfen wollen.
Das Rift Valley, auch „Der große Graben“ genannt, erstreckt sich als eine über 6.000 Kilometer lange Spalte durch Afrika. Unvorstellbare unterirdische Kräfte rissen vor Millionen von Jahren die Erdkruste zwischen parallelen Verwerfungen auf, und das Land dazwischen sank ab. So sind beeindruckende Höhenunterschiede und tiefe Schluchten keine Seltenheit.
Nun stehe ich also auf einem nicht gerade Vertrauen erweckenden Brettervorbau, der für die zahlreichen Touristen errichtet wurde und einen beeindruckenden Blick auf die weite Ebene und die dahinter liegende Bergkette ermöglicht. Direkt unter meinen Füßen befindet sich noch dichter Laubwald, der sich in der Ferne langsam ausdünnt und in rotbraunen Erdboden und vereinzelte Akazienbäume übergeht. Dieser Anblick löst zum ersten Mal ein Heimatgefühl in mir aus. Endlich erkenne ich etwas von meinem vertrauten Kenia. Die Farbe der Erde, die Form der Bäume und diese überwältigende Weite erinnern mich an Barsaloi und mich überkommt ein spontanes Glücksgefühl. Es zieht mich weiter. Noch ist es ein weiter Weg bis zu meinem afrikanischen Zuhause.
Gegen Abend erreichen wir endlich Nyahururu, die mit 2.463 Metern am höchsten gelegene Stadt Kenias. Am rechten Straßenrand erkenne ich sofort mein früheres Lodging, das Nyahururu Space Haven Hotel, dessen Fassade sich allerdings von Blau in Rosa verwandelt hat. Es liegt dem Busbahnhof direkt gegenüber und deshalb herrscht um diese Zeit hier viel Betrieb. Mehrere Fahrer von Kleinbussen versuchen, die Kundschaft durch Hupen auf sich aufmerksam zu machen. Von hier aus fahren sie in alle Richtungen. Wenn man von Maralal her anreist, beginnt hier sozusagen die große weite Welt Kenias. Die Übernachtung in Nyahururu bedeutete für mich, wenn ich von Nairobi kam, immer das Verlassen der Zivilisation und gleichzeitig freute ich mich, weil ich wusste, nach weiteren 25 Kilometern beginnt das Samburuland, die Heimat meiner afrikanischen Familie.
Diesen Busbahnhof muss ich einfach besichtigen und versuchen, mein damaliges Transportmittel ausfindig zu machen. Wir drei Weißen mit Foto- und Filmkamera fallen natürlich auf und sofort sind wir umzingelt. Jeder will etwas wissen oder verkaufen. Ich frage nach dem bunten Maralalbus und erhalte zu meiner Enttäuschung die Antwort, dass nur noch Matatus dorthin fahren. Schade, denke ich, denn ich hatte mir vorgenommen, am nächsten Morgen diesen Bus zu besteigen, um die vierstündige Fahrt bis Maralal wie in alten Zeiten zu erleben.
Schon allein das Beladen des Busses faszinierte mich. Die unterschiedlichsten Habseligkeiten, Schachteln, Tische, Schränke, Matratzen, Wasserkanister, usw. wurden auf abenteuerliche Weise im und auf dem Bus verstaut. Manchmal mischten sich die ersten bunt geschmückten Krieger mit ihren langen roten Haaren unter die Passagiere und dabei entstand eine aufregende Atmosphäre.
Ja, genau diese würde ich gerne noch einmal spüren und gemeinsam mit den Einheimischen und ihrer Fröhlichkeit in Maralal ankommen. Es war immer spannend und fraglich, ob man das Ziel überhaupt erreichte.
Wie viele Male saß ich als einzige Weiße mit den Afrikanern im Straßengraben mitten in der Wildnis und wir konnten unsere Reise nicht fortsetzen, weil der Bus im Schlamm feststeckte. Wir schlugen von den Büschen Äste, um sie unter die Räder zu legen, bis es endlich weiterging.
Schade, diesen Bus, mit dem sich so viele Erinnerungen verbinden, gibt es nicht mehr, und so werde ich wohl oder übel bequem im Land Cruiser fahren. Mein Blick schweift ein letztes Mal über den Platz und wir machen uns auf den Weg zum Thomson's Falls Lodging, in dem in dieser Gegend die Weißen normalerweise übernachten. Es ist ein einfaches, aber angenehmes Lodging. Schon bei der Einfahrt begrüßen uns verschiedene Frauen aus ihren Souvenirshops und wir hören: „Jambo customer, how are you? Im Esther. Come to my shop!“ Weitere Frauen eilen herbei und wollen uns ihre Namen einprägen, damit wir morgen sicher im richtigen Shop das Richtige kaufen können. Das Problem sei nur, dass morgen Sonntag sei und sie deshalb von neun Uhr morgens bis drei Uhr nachmittags in der Kirche seien. Wir sollten doch warten und sie nicht enttäuschen. Nun ja, natürlich können wir nicht warten, denn meine Familie in Barsaloi wartet schon vierzehn Jahre auf meine Rückkehr.
Kurz vor der Weiterfahrt besichtigen wir die Thomsons Falls, den bekannten Wasserfall, der aus beachtlichen 11
Metern Höhe in die Tiefe fällt. Früher fuhr ich diese Strecke mehrere Male, doch für einen touristischen Halt hatte ich nie einen Sinn.
Nach der Besichtigung des Wasserfalls können wir das Camp ohne viel Aufsehen verlassen, da die Frauen ihre Souvenirläden tatsächlich noch geschlossen haben. Nun beginnt es für mich wirklich spannend zu werden, denn unser heutiges Reiseziel ist Maralal. Wenn alles wie vereinbart klappt, werden wir dort James treffen. In seinem letzten Brief hatte er vorgeschlagen, uns entgegenzukommen, um uns den neuen Weg nach Barsaloi zeigen zu können.
Ich freue mich sehr, ihn wiederzusehen, und bin neugierig, welche Neuigkeiten er zu berichten hat. Vor allem interessiert mich, wie Lketinga zu meinem Besuch steht. Freut er sich oder könnte es zu Schwierigkeiten kommen? Obwohl er selbst wieder mit einer einheimischen Frau verheiratet ist, bin ich überzeugt, dass er mich immer noch als seine Frau betrachtet. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie er sich verhalten wird. Ich hoffe sehr, dass wir James rinden werden und dass er meine letzten Zweifel beseitigen kann!
Anfänglich fahren wir noch einige Kilometer auf einer Asphaltstraße weiter, bis diese beim Dörfchen Rumuruti abrupt endet und in eine Naturstraße übergeht. Ab jetzt befinden wir uns im Samburuland. Wie mit einem Lineal gezogen ändert sich die Vegetation. Fuhren wir bisher durch viel grünes Weide- und Kulturland, so sieht die Landschaft nun äußerst trocken aus und die Farbe der Erde beginnt, sich von Beige in Rot zu verwandeln. Die Temperaturen steigen ebenfalls an.
Ab hier gibt es keine einzige Teerstraße mehr, nur holprige Naturpisten. Unsere Fahrzeuge hinterlassen eine riesige Staubwolke und wir werden kräftig durchgerüttelt. Als meine Reisebegleiter einige Bemerkungen zum Zustand der Piste machen, kann ich ihnen nur lachend versichern, dass es vor vierzehn Jahren noch wesentlich schlimmer war. Mir gefällt das Geschüttel und meine Freude kann nichts mehr bremsen. Die Erinnerung an diese Straße und ihre Tücken ist so stark, dass ich unseren Fahrer bitte, mich ans Steuer zu lassen. Wenn es schon den großen Bus auf dieser Strecke nicht mehr gibt, möchte ich mich wenigstens an meinen klapprigen Land Rover erinnern. Wir holpern über die Piste und ich muss mich beim Fahren sehr konzentrieren, um zumindest den größeren Löchern ausweichen zu können.
Aus den Augenwinkeln erkenne ich ab und zu die ersten Manyattas abseits der Straße. Hin und wieder rauchen ein paar Meter vor dem Wagen weiße Ziegen auf. Während sie die Straße langsam verlassen, blicken uns die sie hütenden Kinder hinterher. Die Jungen klemmen sich dabei meistens einen Stock hinter dem Rücken waagrecht zwischen die Armbeugen. Die jüngeren Mädchen hingegen lachen und winken uns Mzungus in den Autos hinterher. Nach etwa zwei Stunden erreichen wir ein kleineres Dörfchen, das sich lediglich an ein paar Shops rechts und links der Straße und natürlich den farbenfroh gekleideten Menschen, die davor stehen, ausmachen lässt. Nein, noch etwas kündigt im Gegensatz zu früher menschliche Behausungen an: Plastik! Es ist ein Trauerspiel zu sehen, wie sich der Einzug von Plastik in Kenia bemerkbar macht. Es beginnt etwa 500 Meter vor jedem Dorf. Anfangs hängen nur einige blaue, rosafarbene oder durchsichtige kleine Plastikbeutel an den niedrigen Büschen. Je näher man dem jeweiligen Dorfkern kommt, desto schlimmer wird es. An jedem Dorn der kleinen Büsche sind Plastikbeutel aufgespießt. Wenn man nur flüchtig hinsieht, könnte man meinen, es seien blühende Büsche, aber die traurige Wahrheit erschließt sich schnell bei genauerem Betrachten. Zu meiner Zeit in Kenia gab es hier noch fast kein Plastik. Hatte jemand einen Plastikbeutel von einem Touristen ergattert, wurde dieser wie ein Augapfel gehütet und immer wieder verwendet. Nun aber hängen sie zu Tausenden an den Büschen!