Saguna

Draußen vor der Manyatta hören wir nun Stimmen und Lketinga meint, dass Saguna gekommen sei. Ich freue mich und bin neugierig. Wir beenden unser Gespräch und kriechen alle nach fast drei Stunden aus der Hütte. Das grelle Sonnenlicht blendet mich. Albert setzt sich auf den kleinen Hocker vor der Manyatta und ist sofort wieder von malenden Kindern umringt. Weiter hinten entdecke ich Lketingas Frau beim Bauen einer neuen Manyatta.

Das junge Mädchen flicht gerade die dünnen Weidenäste in die Seitenwände.

Stefania erscheint und erzählt, dass Saguna in ihrem Haus auf uns warte. Ich trete ein und erblicke zuerst Lketingas Schwester, die mit ernstem Gesicht auf dem grünen Wandtischchen sitzt. Hinter ihr versteckt entdecke ich Saguna. Sie ist von Kopf bis Fuß traditionell geschmückt und sieht umwerfend schön aus. Als ich damals das Dorf verlassen hatte, war sie gerade etwa vier Jahre alt. Und nun stehe ich einem robusten, schönen Mädchen von ungefähr achtzehn Jahren gegenüber. Freudig begrüße ich sie, auch wenn sie eher schüchtern reagiert. In all den Jahren habe ich sie nie vergessen. In meinen Briefen fragte ich immer wieder nach ihr und bekam zur Antwort, dass sie nun eine fast erwachsene Frau sei und schon lange nicht mehr bei Mama in der Hütte lebe.

Saguna trägt einen roten Rock und um die Schultern hat sie einen blauen und einen gelben Kanga geschlungen, die ihre nackten Brüste bedecken. Den gelben Kanga tragen nur unbeschnittene Mädchen im heiratsfähigen Alter. Ihr Hals und ihre Brust sind über und über mit Perlenschmuck bedeckt. Über den vielen roten Perlenschnüren trägt sie eine außergewöhnlich bunte Schmuckschicht, die wie ein Teller wirkt. Allein diese zusammengeknüpfte Pracht wiegt sicher zwei Kilogramm. Der Kopf ist umrahmt von einem eng anliegenden farbigen Perlenstirnband. Daran ist ein rotes Perlenkreuz befestigt, an dem wiederum viele kleine Metallplättchen hängen. Die Stirn selbst schmückt ein Perlmuttknopf mit einem verzierten Metallkreuz, das bis über die Nase reicht. Daran sind nochmals zwei Kettchen befestigt, die links und rechts über die Wangen fallen und nach hinten wieder mit dem Stirnband verbunden sind. Derart geschmückt erscheinen Sagunas Gesichtszüge zierlich und weich. Mir fällt auf, dass sie ihrer verstorbenen Mutter unglaublich ähnlich sieht. Diese starb leider bei einer Geburt, als Saguna etwa elf Jahre alt war. Doch glücklicherweise lebte sie damals noch bei Mama.

Man merkt ihr deutlich an, dass sie es nicht gewöhnt ist, im Mittelpunkt zu stehen. Das ist bei Mädchen ohnehin nur bei der Hochzeit und der damit verbundenen Beschneidung der Fall. Wenn ein Mädchen geboren wird, so ist dies für den Vater normalerweise nicht von großer Bedeutung. Er versucht, bei der Geburt nicht anwesend zu sein. Handelt es sich jedoch bei dem Neugeborenen um einen Sohn, sind die Rituale bei der Geburt wesentlich aufwändiger als bei den Mädchen. Auf diese Weise weiß die Nachbarschaft schnell, welches Geschlecht das Kind hat, auch wenn sie das Neugeborene wegen der Angst vor schädlichem Zauber erst Wochen später zu Gesicht bekommen.

Saguna sitzt, die Hände im Schoß, mir gegenüber und schaut mich scheu, aber neugierig an. Ich mache ihr Komplimente, die sie bescheiden entgegennimmt. Weil ich weiß, dass sie vier Stunden durch die heiße Steppe gelaufen ist und deshalb sicher Durst und Hunger hat, bitte ich James, ihr etwas anzubieten. Doch er erwidert, dass sie in der Manyatta von Mama etwas bekommen werde. Ich vermute, dass es sich hierbei wieder um einen traditionellen Verhaltenskodex handelt. Saguna ist noch eine unbeschnittene junge Frau und kann wohl deswegen nicht im Haus von James bewirtet werden, da er vor einiger Zeit noch den Status eines Kriegers hatte.

So schlage ich vor, dass sie erst Mama besucht und wir uns später unterhalten können. Als sie das Haus verlassen hat, frage ich James, wann Saguna verheiratet werde. Er weiß es nicht und auch Lketinga kann mir später keine Auskunft darüber geben. Mir fällt nur auf, dass sie mit ihren achtzehn Jahren eher zu den älteren unverheirateten Mädchen gehört. Sie muss jedoch einen Freund unter den Kriegern haben, ansonsten besäße sie nicht so viel Schmuck. Dieser bedeutet für ein Mädchen eine Art Statussymbol. Je mehr Schmuck sie bekommt, desto begehrter ist sie, und ihr Hochzeitspreis kann dann mehr als sieben Kühe betragen. Leider dürfen die Mädchen aber nie ihren Freund heiraten. Dieser hat am Hochzeitstag nur die Pflicht, das Fett und den roten Ocker anzurichten, den sich die Braut auf den Körper reiben wird.

Meistens arrangiert der Vater eine Heirat. Er achtet darauf, dass die Ehe unabhängig von äußerlichem und sexuellem Begehren ist. Stattdessen ist der Ruf der Familie der Auserwählten von großer Bedeutung. Die zukünftige Frau muss Kinder gebären, den Haushalt fuhren und nach der Herde des Mannes schauen, bis später ihre Kinder diese Aufgabe übernehmen können. Die Auserwählte weiß manchmal gar nicht, wer ihr Ehemann sein wird. Am begehrtesten sind die Männer, die gerade ihre Kriegerzeit beendet haben, denn vorher darf kein Mann heiraten. Haben die Mädchen Pech, werden sie mit einem alten Mann oder gar mit einem Greis als dessen dritte oder vierte Frau verheiratet und müssen den Anweisungen der ersten Frau gehorchen.

Die Vorstellung, dass Saguna ein solches Schicksal drohen könnte, beunruhigt mich und macht mich traurig. Ich frage James, ob es denn für Saguna keine Möglichkeit gäbe, etwas Derartiges zu verhindern. „Nein, Saguna kennt nur dieses traditionelle Leben und daran kann man nichts ändern. Alles nimmt seinen Lauf. Sie wird ihre Zeremonie bekommen und später ein neues Zuhause bei ihrem zukünftigen Mann haben.“ Er sagt dies so bestimmt und selbstverständlich, dass ich nicht umhin kann einzusehen, dass es noch ein langer Weg ist, bis diese Frauen ein Recht auf ein eigenständiges Leben haben werden.

In diesem Moment wird mir bewusst, wie absurd und zwiespältig meine eigene Einstellung ist: Einerseits bewundere ich die Schönheit und Farbenpracht der traditionellen Kleidung von Kriegern und jungen Mädchen und wünsche mir, dass die Samburu-Traditionen noch lange bewahrt werden mögen, andererseits hätte ich es gerne, wenn die Gebräuche und Rituale, die mein europäisches Empfinden stören, verändert würden. Diese Einsicht schmerzt mich und gleichzeitig bin ich froh, dass meine Tochter Napirai in der Schweiz aufwachsen kann. Sie ist ungefähr zwei Jahre jünger als Saguna und wenn sie hier leben würde, hätte sie wohl keine Chance, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, auch wenn ich noch so sehr darum gekämpft hätte.

Als wir etwas später das Haus verlassen, sehe ich Saguna unter der Akazie auf einem Stein sitzen. Sie spielt mit Shankayon und zwei anderen Mädchen. Ich setze mich neben sie und warte gespannt. Ihren schönen Kopfschmuck hat sie abgenommen, da es ihr wohl zu heiß ist. Ab und zu fasst sie mit den Händen unter ihren Halsschmuck und hebt ihn an, um etwas Luft an ihre Haut zu lassen. Plötzlich fragt sie nach Napirai. Ich versuche, etwas zu erzählen, komme jedoch aufgrund der Sprachprobleme nicht sehr weit. Deshalb bitte ich Shankayon, bei Mama das kleine rote Fotoalbum zu holen. Mittlerweile ist auch Lketinga wieder da und übersetzt für mich.

Nun möchte ich von ihr wissen, ob sie sich an mich erinnern kann, ob sie noch weiß, dass ich ihr einmal eine braune Puppe mitgebracht habe und wie wir öfter zusammen am Fluss waren. Sie beantwortet alles mit einem ernsten Nicken. Shankayon hüpft nun mit dem Album in den Händen auf uns zu und überreicht es Saguna. Sie blättert darin und beginnt natürlich mit den neuesten Bildern von meiner Tochter. Verwundert fragt sie, ob dies wirklich Napirai sei. Lketinga erklärt ihr ausführlich die einzelnen Bilder, auf denen Napirai im Schnee, auf dem Eis oder beim Badespaß abgebildet ist. Sie betrachtet alles mit Staunen und großem Interesse. Es muss für sie etwas Besonderes sein, ein Mädchen zu sehen, das nicht viel jünger ist als sie und in einer solch andersartigen Welt lebt, obwohl sie am gleichen Ort geboren wurde. Sicher kommt es ihr komisch vor, Napirai mit langen Haaren zu sehen. Ihr eigener Kopf ist kahl geschoren, denn lange Haare entsprechen hier bei Frauen und Mädchen nicht dem Schönheitsideal. An den Fotos, auf denen meine Tochter Jeans trägt, bleibt ihr Blick eine ganze Weile haften. Ich würde so gerne wissen, welche Gedanken ihr durch den Kopf gehen!

Mittlerweile beugen sich schon wieder mehrere Köpfe über das Album und vor allem Shankayon strahlt über die Fotos ihrer Halbschwester Napirai. Immer wieder durchblättert Saguna das kleine Album von vorne nach hinten und flüstert und lacht mit den anderen Mädchen. Ich setze mich näher zu ihr und betrachte ihre schlanken Arme, die mit mehreren farbigen Armreifen geschmückt sind. Nach einer Weile fragt sie mich: „Warum hast du Napirai nicht mitgebracht? Wo ist sie jetzt und bei wem?“ Ich erzähle ihr, dass sie in der Schule ist und während meiner Abwesenheit bei der Familie einer Freundin aufgenommen wurde. Lketinga übersetzt und ergänzt, dass sie nach dem Schulende vielleicht auf Besuch kommen wird.

Saguna hört aufmerksam zu und berührt dabei sachte meinen Arm. Offensichtlich ist sie von meinem silbernen Armreif fasziniert, in dem sie sich spiegeln kann. Durch die sanften Berührungen fühle ich wieder die Nähe zu ihr, die sich während unseres Zusammenlebens in Mamas Manyatta aufgebaut hatte. Damals war sie für mich der kleine Sonnenschein, der in manch traurigem Moment den Tag erhellte. Ich komme mir hilflos vor, wenn ich an ihr Schicksal denke, denn ich kann sie nicht davor bewahren. Aber vielleicht würde sie das gar nicht wollen, sondern möchte hier in ihrem Stamm aufgenommen und respektiert werden. Ich wünsche ihr von ganzem Herzen, dass sie einen guten jungen Mann bekommt.

Klaus hat in der Zwischenzeit Filmaufnahmen gemacht und Shankayon hat Saguna wahrscheinlich erzählt, dass man sich auf dem Monitor sehen kann. Nun setzt sie sich neben Klaus, der ihr die Kamera zeigt. Zuerst erschrocken und dann belustigt schaut sie auf die bewegten Bilder. So hat sie sich noch nie gesehen und dementsprechend neugierig bestaunt sie das Ganze. Immer wieder muss Klaus vor- und wieder zurückspulen und wir alle werden von dem kindlichen Staunen angesteckt. Doch leider ist es bald an der Zeit, dass Saguna sich auf den weiten Heimweg begeben muss. Morgen beginnt wieder das Alltagsleben, in dem sie mit der Herde unterwegs sein wird. Ich überreiche ihr einen schönen Rock, eine gut riechende Seife und eine Körpercreme, die ich für sie mitgebracht habe. Sie freut sich sehr über die Geschenke und verstaut sie unter ihrem Kanga. Als wir uns verabschieden, weiß ich, dass ich sie in dieser Natürlichkeit und Farbenpracht wohl nie mehr sehen werde.

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