Das nachgebaute Barsaloi

Bald machen auch wir uns auf den Weg zum Filmdorf. Wir fahren um einen Hügel herum und was ich dann sehe, verschlägt mir den Atem. Das komplette Dorf wurde nahezu naturgetreu nachgebaut. Einige Holzhütten stehen links und rechts der Straße und sehen mit ihren rostigen Dächern und den Wänden, an denen die Farbe abblättert, aus, als hätten sie hier bereits mehr als ein Jahrzehnt gestanden. Das Dörfchen liegt auf einer Anhöhe und die Aussicht über die Steppe ist grandios. Die nachgebaute Mission liegt etwas abseits an einem Hang.

Da auf der anderen Seite im Shop die Dreharbeiten laufen, besichtigen wir zunächst die Mission. Schon von außen hat sie eine gewisse Ähnlichkeit mit der von Barsaloi, vor allem wegen des angelegten Gemüsegartens.

Pater Giuliani liebte seinen Garten, den er täglich mit List und Phantasie gegen fremde Ziegen verteidigen musste. Auch hier ist mit viel Liebe Gemüse und Mais angepflanzt worden, um diesem Detail gerecht zu werden. Die Inneneinrichtung ist eher im Kolonialstil gehalten. Der den Raum dominierende Kamin sieht aus, als wäre er schon unzählige Male benutzt worden. Ein paar alte Stühle um einen großen antiken Tisch, Bücher in Regalen und Heiligenbilder an den Wänden ergeben einen harmonischen Missionsraum. Vor dem Gebäude befindet sich die Kirche. Von hier hat man einen herrlichen Blick über das Dorf. Heute Nachmittag soll hier gedreht werden, erfahre ich vom Produzenten, der sichtlich stolz auf das Gezeigte ist.

Überall stehen Leute herum. Immer wenn gedreht wird, auch wenn der Drehort 300 Meter entfernt ist, wird durch ein Megaphon dringend um Ruhe gebeten. Deshalb sind sinnvolle Gespräche kaum möglich. Drüben im Dorf vor dem Shop herrscht große Hektik. Plötzlich ruft uns jemand, dass wir ins Dorf kommen können, weil eine Drehpause angesagt ist. Vor den einzelnen Häusern sitzen ein paar einheimische Statisten am Boden.

Was sie wohl über uns Weiße denken? Da fahren eines Tages Mzungus mit Lastwagen vor und bauen mitten in der Steppe in wenigen Wochen ein ganzes Dorf und sogar eine Mission auf. Anschließend sorgen sie mit seltsamen Maßnahmen dafür, dass alles möglichst alt aussieht. Später beobachte ich, wie einheimische Frauen und Krieger für eine Szene sicher zehn Mal von einem Ende der Straße zum anderen laufen, immer und immer wieder dasselbe Bild. Ja, ihre Gedanken würde ich allzu gerne lesen können. Sicher werden sie noch nach 146

Jahren von diesen Dreharbeiten erzählen. Auch die kommende Generation wird diese Geschichte höchstwahrscheinlich in den verschiedensten Versionen zu hören bekommen.

Wir haben den Shop fast erreicht, als Lemalian und Carola herauskommen. Beide sehen toll aus. Nina als Carola trägt die Haare hinten zusammengebunden, genauso wie ich sie damals hatte. Mit dem schwangeren Bauch, dem hellen Blümchenkleid und dem schlichten Massai-Schmuck sieht sie der damaligen Corinne sehr ähnlich, was ich ihr bei der Begrüßung aus tiefster Überzeugung mitteile. Nachdem von uns beiden einige Fotos gemacht wurden, muss sie nach wenigen Minuten wieder an die Arbeit. Kurz vorher erhalte ich noch die Gelegenheit, mich im nachgestellten Shop umzusehen. Alles ist täuschend echt eingerichtet, sogar die alte Waage mit den Gewichtssteinen ist da. Als ich diese nach all den Jahren wiedersehe, erinnere ich mich an die Knochenarbeit, täglich Hunderte von Kilogramm Maismehl, Zucker oder Reis abzuschöpfen. Abends konnte ich mich vor Rückenschmerzen oft kaum mehr bewegen. Der Lohn aber waren die zufriedenen Gesichter der Menschen, weil sie Lebensmittel einkaufen konnten. Meine Erinnerungen werden durch die wieder aufgenommenen Dreharbeiten unterbrochen.

Draußen begebe ich mich mit Klaus auf die Suche nach Foto-Motiven. Eines finde ich besonders reizvoll. Da sitzen zwei sehr alte, traditionell gekleidete Männer. Einer von ihnen trägt einen äußerst originellen „Schmuck“: eine Brille mit Gläsern, die halb so groß wie sein Gesicht sind, und auf dem Kopf trägt er einen lustigen Schlapphut mit Tigermotiv. Ich geselle mich zu ihnen und wir machen ein gemeinsames Foto. Das Gesicht mit Brille lacht mich stolz und fröhlich an. Alte Menschen finde ich immer wieder faszinierend, denn in ihren Gesichtern steht ihr Leben geschrieben.

Wir setzen uns abseits in den Schatten und beobachten noch einige Stunden den Drehort, doch es wiederholt sich immer das Gleiche: sprechen, schweigen, warten, sprechen, schweigen, warten. Nach dem ersten Staunen tritt eine gewisse Eintönigkeit ein, weil man nicht direkt am Geschehen beteiligt ist und davon auch nicht viel mitbekommt. So bin ich froh, dass ich am Nachmittag, als in der Mission gedreht wird, doch noch eingeladen werde, einige Minuten beim Dreh zuzuschauen. Die Regisseurin fordert mich auf, neben der Kamera auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Ich habe keine Ahnung, was gedreht werden soll, und warte voller Neugier. Plötzlich springt Lemalian die Stufen zur Mission hoch und der Pater eilt auf ihn zu. Offensichtlich erzählt Lemalian gerade, dass es Carola und dem Baby im Spital gut geht.

Beim Anblick dieser Szene überkommt mich mit aller Macht das heulende Elend. Ich habe das überhaupt nicht erwartet, da ich mich gelassen und ausgeglichen fühlte. Aber in dem Moment, als Lemalian spricht, sehe ich nicht ihn, sondern Lketinga und meine persönliche damalige Situation. Ich bin so durcheinander und aufgewühlt, dass ich den Drehort weinend verlassen muss. Dabei schäme ich mich natürlich vor der ganzen Mannschaft. Eine winzig kleine Episode genügt schon, dass ich die Kontrolle über meine Gefühle verliere. Oh Gott, was kommt da noch auf mich zu, wenn ich erst Carola erleben werde? Eines ist mir jetzt schon klar: Tränen werden fließen.

Zum Glück ist gerade Kaffeepause, so dass draußen kaum jemand meine Betroffenheit mitbekommt. Ich setze meine Sonnenbrille auf und nehme mir einen heißen Tee. Da meine Hände noch zittern, übergieße ich mir zu allem Überfluss die Hand. Der Schmerz lenkt mich zumindest etwas ab.

Nach diesem Erlebnis habe ich plötzlich genug vom Dreh und fühle mich irgendwie fehl am Platz. Ich habe nun alles gesehen, die meisten Schauspieler und Schauspielerinnen kennen gelernt und den Ort als wirklich gelungen empfunden. Da ich zum weiteren Gelingen des Films nichts beitragen kann, ist schnell klar, dass ein längerer Aufenthalt hier am Set keinen Sinn hat. Offensichtlich haben die bewegenden Ereignisse der letzten Tage meinen Gefühlshaushalt etwas durcheinander gebracht. Da kommt die geplante Reise zu Pater Giuliani gerade recht. Seine Gegenwart vermittelte mir schon damals immer eine gewisse Sicherheit. Bei ihm kann ich mich bestimmt emotional etwas erholen, bevor ich in Barsaloi mit dem schmerzlichen Abschied von meiner Familie konfrontiert werde.

Den Rest des Nachmittags unterhalten wir uns in entspannter Atmosphäre mit dem Produzenten und seiner Frau.

Beim reichhaltigen Abendessen bedanke ich mich bei allen für ihre Mühen und vor allem für die Möglichkeit, hinter die Kulissen „meines“ Filmes schauen zu können und drücke mein Vertrauen und meine Überzeugung aus, dass dieser Film viele Menschen berühren wird.

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