IV.

Ich lief jedoch noch einmal zu ihm hinter die Kulissen und teilte ihm ganz außer mir in der Geschwindigkeit mit, daß meiner Ansicht nach alles verloren sei und er am besten tun würde, überhaupt nicht aufzutreten, sondern sofort nach Hause zu fahren, allenfalls mit der Begründung, daß er von Cholerine befallen sei; ich würde ebenfalls die Schleife ablegen und mit ihm mitkommen. Er war in diesem Augenblicke schon auf die Estrade getreten, blieb plötzlich stehen, sah mich hochmütig vom Kopfe bis zu den Füßen an und sagte feierlich:

»Warum halten Sie mich einer so unwürdigen Handlungsweise für fähig, mein Herr?«

Ich trat zurück. So sicher wie davon, daß zweimal zwei vier ist, war ich überzeugt, daß er von dort nicht ohne eine Katastrophe wieder wegkommen werde. Während ich in tiefer Niedergeschlagenheit dastand, fiel mir wieder die Gestalt des fremden Professors in die Augen, der nach Stepan Trofimowitsch an die Reihe kommen sollte und vorhin immer die Faust in die Höhe gehoben und in vollem Schwunge hatte niederfallen lassen. Er ging immer noch ebenso, in Gedanken vertieft, auf und ab und murmelte mit einem boshaften, triumphierenden Lächeln etwas vor sich hin. Fast ohne jede Absicht (eine Art von innerem Drange trieb mich) trat ich auch zu ihm heran.

»Wissen Sie,« sagte ich, »aus vielen Beispielen steht fest, daß, wenn ein Vorleser das Publikum mehr als zwanzig Minuten lang in Anspruch nimmt, dieses nicht mehr zuhört. Selbst Zelebritäten können sich nicht eine halbe Stunde lang behaupten ...«

Er blieb plötzlich stehen und fing sogar am ganzen Leibe an zu zittern, wie wenn er schwer beleidigt wäre. Ein maßloser Hochmut prägte sich auf seinem Gesichte aus.

»Machen Sie sich darüber keine Sorge!« murmelte er geringschätzig und ging vorbei.

In diesem Augenblicke wurde im Saale Stepan Trofimowitschs Stimme vernehmbar.

»Ach, hol euch alle der Teufel!« dachte ich und lief in den Saal.

Stepan Trofimowitsch hatte sich auf den Sessel niedergelassen, während die Unordnung noch fortdauerte. In den ersten Reihen empfing man ihn offenbar mit unfreundlichen Blicken. (Im Klub mochte man ihn in der letzten Zeit nicht mehr recht leiden und schätzte ihn weit weniger als früher.) Übrigens war auch das schon ein Glück, daß nicht gezischt wurde. Schon seit dem vorhergehenden Tage wollte mir ein sonderbarer Gedanke nicht aus dem Kopfe gehen: ich meinte immer, man würde ihn gleich bei seinem Erscheinen auszischen. Indessen wurde er infolge der noch fortdauernden Unordnung nicht einmal sofort bemerkt. Worauf konnte dieser Mensch hoffen, wenn die Zuhörer schon mit Karmasinow so umgesprungen waren? Er war blaß; seit zehn Jahren war er nicht vor das Publikum hingetreten. Aus seiner Aufregung und aus allen sonstigen Anzeichen, die ich an ihm nur zu gut kannte, war es mir klar, daß auch er selbst sein jetziges Erscheinen auf der Estrade als etwas für sein Schicksal Entscheidendes oder dergleichen ansah. Und gerade das war es, was ich fürchtete. Dieser Mensch war mir teuer. Wie wurde mir aber zumute, als er die Lippen öffnete und ich seinen ersten Satz hörte!

»Meine Herrschaften!« begann er in einem Tone, wie wenn er zu allem entschlossen wäre, und dabei doch mit fast versagender Stimme. »Meine Herrschaften! Noch heute morgen lag vor mir eines jener neuerdings hier verbreiteten gesetzwidrigen Blätter, und ich legte mir zum hundertsten Male die Frage vor: worin besteht ihr Geheimnis?«

Der ganze Saal war mit einem Schlage still geworden; alle Blicke hatten sich ihm zugewandt, manche mit einem Ausdrucke von Angst. Man mußte es ihm lassen: er hatte es verstanden, gleich beim ersten Worte das Interesse zu erregen. Sogar hinter den Kulissen streckten sich Köpfe hervor; Liputin und Ljamschin hörten mit einer Art von Gier zu. Julija Michailowna winkte mich wieder mit der Hand zu sich heran.

»Halten Sie ihn zurück, halten Sie ihn um jeden Preis zurück!« flüsterte sie mir aufgeregt zu.

Ich zuckte nur mit den Achseln; war es etwa möglich, einen Menschen, der in dieser Weise zu allem entschlossen war, zurückzuhalten? O weh, ich verstand Stepan Trofimowitschs Absicht.

»Ah, von den Proklamationen spricht er!« flüsterte man im Publikum; der ganze Saal geriet in unruhige Bewegung.

»Meine Herrschaften, ich habe dieses ganze Geheimnis ergründet. Das ganze Geheimnis ihrer Wirkung besteht in ihrer Dummheit!« (Seine Augen funkelten). »Ja, meine Herrschaften, wäre das eine beabsichtigte, planmäßig imitierte Dummheit, oh, dann wäre das sogar genial! Aber man muß diesen Blättern Gerechtigkeit widerfahren lassen: sie imitieren nichts. Das ist die nackteste, einfältigste, simpelste Dummheit, c'est la bêtise dans son essence la plus pure, quelque chose comme un simple chimique. Wäre das, was darin gesagt wird, auch nur um eine Spur verständiger, so würde jedermann sofort die ganze Armseligkeit dieser simplen Dummheit erkennen. Aber jetzt stutzen alle verwundert: niemand mag glauben, daß es wirklich so bodenlos dumm ist. ›Es muß doch noch etwas dahinterstecken,‹ sagt sich jeder, sucht einen verborgenen Sinn, sieht darin ein Geheimnis, möchte zwischen den Zeilen lesen, – und der Effekt ist da! Oh, noch nie hat die Dummheit eine so großartige Belohnung erhalten, trotzdem ihr Belohnungen so oft verdientermaßen zuteil geworden sind ... Denn, en parenthèse, die Dummheit wie das höchste Genie sind in den Geschicken der Menschheit in gleicher Weise nützlich.«

»Witzworte aus den vierziger Jahren!« bemerkte zunächst jemand, indes in sehr bescheidenem Tone.

Aber gleich nach ihm brach ein Sturm los; es wurde gelärmt und geschrien.

»Meine Herrschaften, Hurra! Ich bringe ein Hoch aus auf die Dummheit!« rief Stepan Trofimowitsch, der in vollständiger Raserei den ganzen Saal herausforderte.

Ich lief zu ihm hin, indem ich tat, als ob ich ihm Wasser eingießen wollte.

»Stepan Trofimowitsch, hören Sie damit auf; Julija Michailowna bittet Sie dringend ...«

»Nein, lassen Sie mich, Sie junger Müßiggänger!« schrie er mich aus voller Kehle an.

Ich lief von ihm weg.

»Messieurs!« fuhr er fort; »wozu die Aufregung, wozu das Geschrei der Entrüstung, das ich höre? Ich bin mit dem Ölzweige hergekommen. Ich werde noch ein letztes Wort hierüber sagen (denn in dieser Sache steht mir das letzte Wort zu), und auf Grund dessen werden wir uns versöhnen.«

»Hinaus!« riefen die einen.

»Still, lassen Sie ihn reden, lassen Sie ihn sich aussprechen!« brüllte ein anderer Teil.

Besonders aufgeregt war der junge Lehrer, der, nachdem er einmal Mut zum Reden gefaßt hatte, nun, wie es schien, nicht aufhören konnte.

»Messieurs, das letzte Wort in dieser Sache ist: Generalpardon. Ich, ein abgelebter alter Mann, erkläre feierlich, daß in der jungen Generation der Geist des Lebens wie früher weht und die lebendige Kraft nicht versiegt ist. Der Enthusiasmus der modernen Jugend ist ebenso rein und leuchtend wie der unserer Zeiten. Nur eines ist vorgegangen: die Ziele haben sich geändert; eine Schönheit ist durch eine andere ersetzt worden! Der ganze Zweifel besteht nur darin: was ist schöner, Shakespeare oder ein Paar Stiefel, ein Raffaelsches Gemälde oder Petroleum?«

»Das ist eine Denunziation!« brummten manche.

»Kompromittierende Erörterungen!«

»Agent-provocateur!«

»Aber ich erkläre,« kreischte Stepan Trofimowitsch in hitzigster Erregung weiter, »aber ich erkläre, daß Shakespeare und Raffael höher stehen als die Bauernbefreiung, höher als die Nationalität, höher als der Sozialismus, höher als die junge Generation, höher als die Chemie, höher fast als die ganze Menschheit; denn sie sind die Frucht, die wahre Frucht der ganzen Menschheit und vielleicht die höchste Frucht, die es überhaupt nur geben kann! Die ideale Form der Schönheit ist bereits erreicht; wäre sie nicht erreicht, so würde ich vielleicht nicht einmal leben mögen ... O Gott!« rief er und schlug die Hände zusammen, »vor zehn Jahren habe ich ganz ebenso in Petersburg von einer Estrade gesprochen, ganz ebenso und mit denselben Worten, und in ganz derselben Weise wie jetzt haben sie nichts begriffen, sondern gelacht und gezischt; ihr törichten Menschen, was für ein Mangel hindert euch denn am Verständnis? Wissen Sie wohl, wissen Sie wohl, daß ein Fortbestehen der Menschheit möglich ist ohne die Engländer, möglich ist ohne Deutschland, sehr möglich ist ohne die Russen, möglich ist ohne Wissenschaft, möglich ist ohne Brot, und daß es nur ohne die Schönheit unmöglich ist; denn dann wäre auf der Welt überhaupt nichts mehr anzufangen! Das ist das ganze Geheimnis, die ganze Sache! Selbst die Wissenschaft kann nicht einen Augenblick ohne die Schönheit bestehen; hören Sie wohl, Sie, die Sie da lachen; sie verwandelt sich in ein Lakaientum; auf diese Art kann man nicht einmal einen Nagel erfinden! ... Ich gebe nicht nach!« schrie er sinnlos zum Schlusse und schlug aus aller Kraft mit der Faust auf den Tisch.

Aber während er so ohne Vernunft und Ordnung kreischend redete, hatte die Ordnung im Saale aufgehört. Viele waren von ihren Plätzen aufgesprungen; manche hatten sich nach vorn gedrängt, näher an die Estrade heran. All das ging weit schneller vor sich, als ich es erzähle, und es war keine Zeit, Maßregeln dagegen zu ergreifen. Vielleicht wollte man es auch nicht.

»Ja, Sie haben es gut, Sie Glückspilze; Sie sitzen im Fettöpfchen!« brüllte dicht bei der Estrade jener selbe Seminarist und fletschte vergnügt die Zähne gegen Stepan Trofimowitsch.

Dieser bemerkte es und sprang an den Rand der Estrade.

»Habe ich nicht selbst soeben erklärt, daß der Enthusiasmus bei der jungen Generation ebenso rein und leuchtend ist, wie er es früher war, und daß sie nur deswegen zugrunde geht, weil sie sich über die Formen des Schönen im Irrtum befindet? Genügt Ihnen das noch nicht? Und wenn Sie dann noch bedenken, daß das ein gebeugter, schwer gekränkter Vater gesagt hat, kann man da wirklich, was Unparteilichkeit und Ruhe der Anschauung anlangt, einen höheren Standpunkt einnehmen, o ihr törichten Menschen? ... Ihr Undankbaren; ihr Ungerechten, warum, warum wollt ihr euch nicht versöhnen? ...«

Und plötzlich brach er in ein krampfhaftes Schluchzen aus. Er wischte sich mit den Fingern die herabrinnenden Tränen weg. Seine Schultern und seine Brust schütterten vor Schluchzen ... Er hatte alles in der Welt vergessen.

Ein gewaltiger Schrecken ergriff das Publikum; fast alle erhoben sich von ihren Plätzen. Auch Julija Michailowna sprang schnell auf, faßte ihren Gemahl unter den Arm und zog ihn von seinem Sessel in die Höhe ... Es entstand ein grenzenloser Lärm.

»Stepan Trofimowitsch!« schrie der Seminarist fröhlich. »Hier in der Stadt und in der Umgegend treibt sich jetzt der Sträfling Fedka umher, der von der Zwangsarbeit entwichen ist. Er raubt und hat erst kürzlich einen neuen Mord begangen. Gestatten Sie die Frage: wenn Sie ihn nicht vor fünfzehn Jahren zum Militär verkauft hätten, um eine Karten-Spielschuld zu bezahlen, das heißt einfach, wenn Sie ihn nicht im Kartenspiel verloren hätten, sagen Sie mal, wäre er dann ins Zuchthaus geraten? Würde er dann Menschen ermorden, wie er es jetzt im Kampfe ums Dasein tut? Was sagen Sie, Herr Ästhetiker?«

Ich verzichte darauf, die nun folgende Szene zu schildern. Zunächst erscholl ein wütendes Beifallklatschen. Nicht alle klatschten, sondern nur etwa der fünfte Teil der im Saale Anwesenden; aber diese klatschten eben wütend. Das ganze übrige Publikum strömte dem Ausgange zu; aber da der applaudierende Teil des Publikums sich nach vorn zur Estrade hindrängte, so war das Resultat eine allgemeine Verwirrung. Die Frauen schrien auf; einige junge Mädchen fingen an zu weinen und baten, man möchte sie nach Hause bringen. Lembke stand neben seinem Stuhle und ließ befremdet seine Augen zu wiederholten Malen durch den Saal schweifen. Julija Michailowna hatte völlig die Fassung verloren, zum erstenmal seit sie in unserer Stadt lebte. Was Stepan Trofimowitsch anlangt, so schien er im ersten Augenblick durch die Worte des Seminaristen buchstäblich niedergeschmettert zu sein; aber auf einmal hob er beide Arme in die Höhe, wie wenn er sie über das Publikum hinstrecken wollte, und schrie:

»Ich schüttle den Staub von meinen Füßen und spreche einen Fluch aus ... Es ist alles zu Ende ... alles zu Ende ...«

Er wandte sich um und lief, indem er drohend die Arme schwenkte, hinter die Kulissen.

»Er hat die Gesellschaft beleidigt! ... Werchowenski soll wieder herauskommen!« brüllten die Wütenden.

Sie wollten sogar hinter ihm herstürzen und ihm nachsetzen. Sie zu beruhigen, war unmöglich, wenigstens in diesem Augenblicke, und – auf einmal schlug die endgültige Katastrophe wie eine Bombe in die Versammlung ein und explodierte in ihrer Mitte: der dritte Vorleser, jener Schauspieler, der immer hinter den Kulissen die Faust geschwungen hatte, kam plötzlich auf die Bühne gelaufen.

Er sah vollständig wie ein Verrückter aus. Mit einem breiten, triumphierenden Lächeln voll maßlosen Selbstbewußtseins überschaute er den aufgeregten Saal und schien sich selbst über die Unordnung zu freuen. Es setzte ihn nicht im geringsten in Verlegenheit, daß er in einem solchen Wirrwarr lesen sollte; im Gegenteil hatte er offenbar sein Vergnügen daran. Das war so offensichtlich, daß es sogleich die Aufmerksamkeit auf ihn lenkte.

»Was gibt es da noch?« wurde gefragt. »Wer ist das noch? Ssst! Was will er sagen?«

»Meine Herrschaften!« schrie der Schauspieler, ganz am Rande der Estrade stehend, aus voller Kehle und fast mit ebenso weibisch kreischender Stimme wie Karmasinow, nur ohne das vornehme Lispeln. »Meine Herrschaften! Vor zwanzig Jahren, am Vorabende eines Krieges mit halb Europa, stand Rußland in den Augen aller Staats- und Geheimräte als ein Ideal da! Die Literatur stand unter Zensur; auf den Universitäten wurden Vorlesungen über das Exerzieren gehalten; die Armee hatte sich in ein Ballett verwandelt; das Volk aber bezahlte Steuern und schwieg unter der Knute der Leibeigenschaft. Der Patriotismus bestand darin, daß man Bestechungsgelder von Lebenden und Toten erpreßte. Wer keine Bestechungsgelder nahm, galt als Rebell; denn er störte die Harmonie. Die Birkenhaine wurden vernichtet, um der Ordnung zu Hilfe zu kommen. Westeuropa zitterte. Aber noch niemals ist Rußland im Laufe des ganzen einfältigen Jahrtausends seines Bestehens zu einem so schmählichen Zustande gelangt ...«

Er hob die Faust in die Höhe, schwenkte sie wild und drohend über seinem Kopfe und ließ sie dann auf einmal wütend niederfallen, wie wenn er einen Gegner in Grund und Boden schmettere. Ein wütendes Geheul erscholl von allen Seiten; ein betäubendes Beifallklatschen erdonnerte. Es applaudierte schon fast die Hälfte des Saales; sie ließen sich ganz harmlos hinreißen: Rußland wurde vor allem Volke öffentlich beschimpft; mußte man da nicht brüllen vor Entzücken?

»Ja, so ist es! Das ist richtig! Hurra! Nein, das ist nun mal kein Ästhetiker!«

Der Schauspieler fuhr enthusiastisch fort:

»Seitdem sind zwanzig Jahre vergangen. Die Universitäten sind geöffnet und haben sich vermehrt. Das Exerzieren ist zur Legende geworden; an Offizieren fehlen zum vollen Bestande Tausende. Die Eisenbahnen haben alle Kapitalien aufgezehrt und Rußland wie mit einem Spinnennetze überzogen, so daß man etwa in fünfzehn Jahren vielleicht auch wird irgendwohin fahren können. Die Brücken brennen nur selten ab; die Städte aber verbrennen regelmäßig, in der festgesetzten Ordnung, der Reihe nach, in der Saison der Feuersbrünste. Bei den Gerichten werden salomonische Urteile gefällt, und die Geschworenen nehmen nur im Kampfe um das Dasein Bestechungsgelder an, wenn sie nahe daran sind zu verhungern. Die freigelassenen Leibeigenen prügeln sich gegenseitig mit Ruten, wie es ihnen früher die Gutsbesitzer taten. Meere und Ozeane von Branntwein werden ausgetrunken zum Besten des Staatssäckels, und in Nowgorod ist gegenüber der alten, nutzlosen Sophienkathedrale feierlich eine kolossale Bronzekugel zur Erinnerung an die tausendjährige Dauer der nunmehr vergangenen Unordnung und Unvernunft aufgestellt worden.1 Westeuropa macht ein finsteres Gesicht und beginnt von neuem unruhig zu werden ... Fünfzehn Jahre der Reformen! Und doch ist Rußland noch nie, nicht einmal in den schlimmsten Zeiten seiner Unvernunft, zu einem so schmählichen Zustande gelangt ...«

Die letzten Worte waren wegen des Gebrülles der Menge nicht zu verstehen. Man sah nur, wie er wieder den Arm in die Höhe hob und ihn noch einmal siegreich niederfallen ließ. Die Begeisterung überschritt alle Grenzen: man heulte, schlug in die Hände, manche Damen riefen sogar: »Genug! Etwas Besseres können Sie nicht mehr sagen!« Die Leute waren wie betrunken. Der Redner ließ seine Augen über alle dahinschweifen und zerschmolz gewissermaßen im Gefühle seines Triumphes. Ich sah flüchtig, daß Lembke in unbeschreiblicher Aufregung jemandem etwas befahl. Julija Michailowna, die ganz blaß geworden war, sagte hastig etwas zu dem Fürsten, der eilig zu ihr herangetreten war ... Aber in diesem Augenblicke kam ein ganzer Haufe, etwa sechs Menschen von mehr oder weniger amtlichem Charakter, aus den Kulissen auf die Estrade gestürzt; sie ergriffen den Redner und zogen ihn hinter die Kulissen. Ich begreife nicht, wie er es möglich machte, sich von ihnen wieder loszureißen; aber es gelang ihm; er sprang von neuem bis an den Rand der Estrade vor und schrie noch einmal, so laut er konnte, unter starkem Schwingen der Faust:

»Aber noch nie ist Rußland zu einem so schmählichen Zustande gelangt ...«

Aber da zogen sie ihn von neuem fort. Ich sah, wie vielleicht fünfzehn Menschen, um ihn zu befreien, hinter die Kulissen eilten, aber nicht über die Estrade hinweg, sondern seitwärts, wobei sie eine leichte Barriere zerbrachen, so daß diese schließlich auch umfiel ... Ich sah dann (ich traute meinen Augen nicht), daß plötzlich von irgendwoher eine Studentin, die Schwester Wirginskis, auf die Estrade sprang, mit derselben Papierrolle unter dem Arme, ebenso gekleidet, ebenso rot, ebenso wohlgenährt von zwei, drei Frauen und zwei, drei Männern umgeben und in Begleitung ihres Todfeindes, des Gymnasiasten. Ich verstand sogar noch ihre Worte:

»Meine Herrschaften, ich bin hergekommen, um von den Leiden der unglücklichen Studenten zu sprechen und sie aller Orten zum Protest aufzurufen.«

Aber ich lief fort. Meine Schleife steckte ich in die Tasche und gelangte durch einen mir bekannten hinteren Ausgang auf die Straße. Vor allem eilte ich natürlich zu Stepan Trofimowitsch.


Fußnoten


1 Gemeint ist das in Nowgorod im Jahre 1862 zur Feier des tausendjährigen Bestehens des russischen Reiches errichtete Rurikdenkmal: auf einem runden Sockel ruht ein großer Reichsapfel.

Anmerkung des Übersetzers.


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