II.


Er ging zuerst nach seiner Wohnung und packte sorgsam und ohne Hast seinen Koffer. Um sechs Uhr morgens ging ein Sonderzug. Dieser frühe Sonderzug ging nur einmal in der Woche und war erst kürzlich eingerichtet worden, zunächst nur probeweise. Obgleich Peter Stepanowitsch den »Unsrigen« angekündigt hatte, daß er auf kurze Zeit eine Reise innerhalb des Kreises machen wolle, so waren doch, wie sich in der Folge herausstellte, seine Absichten ganz andere. Als er mit dem Koffer fertig war, erledigte er seine Abrechnung mit der Wirtin, die er schon vorher benachrichtigt hatte, und fuhr mit einer Droschke zu Erkel, der nahe beim Bahnhofe wohnte. Und dann erst, kurz vor ein Uhr nachts, begab er sich zu Kirillow, zu dem er sich wieder auf Fedkas geheimem Wege Zugang verschaffte.

Peter Stepanowitschs Stimmung war schauderhaft. Außer anderen für ihn sehr wichtigen Unannehmlichkeiten (er hatte immer noch nichts über Stawrogin in Erfahrung bringen können) hatte er, wie es scheint (denn eine bestimmte Behauptung kann ich nicht aussprechen), im Laufe des Tages irgendwoher, am wahrscheinlichsten aus Petersburg, eine geheime Nachricht über eine Gefahr erhalten, die ihm in nächster Zeit drohe. Allerdings sind über diese Zeit bei uns in der Stadt jetzt sehr viele Legenden in Umlauf, und selbst wenn etwas Sicheres bekannt ist, so wissen es doch wohl nur diejenigen, die damit amtlich zu tun haben. Ich meinerseits bin persönlich der Ansicht, daß Peter Stepanowitsch auch irgendwo außerhalb unserer Stadt Geschäfte haben und von daher tatsächlich eine Benachrichtigung erhalten konnte. Ich bin sogar trotz des von Liputin geäußerten dreisten, argen Zweifels überzeugt, daß er tatsächlich noch zwei oder drei Fünferkomitees außer den »Unsrigen« haben konnte, zum Beispiel in den Hauptstädten, und wenn nicht Fünferkomitees, so doch Verbindungen und Beziehungen und vielleicht sogar von sehr merkwürdiger Art. Erst drei Tage nach seiner Abreise ging bei uns in der Stadt aus der Hauptstadt der Befehl ein, ihn unverzüglich zu verhaften, wofür eigentlich, ob für Dinge, die er bei uns begangen hatte, oder für andere, das weiß ich nicht. Dieser Befehl steigerte damals gerade noch das quälende Gefühl einer beinah mystischen Angst, das sich unserer Obrigkeit und der bis dahin in so hartnäckigem Leichtsinn befangenen Gesellschaft beim Bekanntwerden der geheimnisvollen, bedeutsamen Ermordung des Studenten Schatow und der außerordentlich rätselhaften Begleitumstände bemächtigt hatte, einer Mordtat, die das Maß der bei uns vorgekommenen unerhörten Dinge voll machte. Aber der Befehl kam zu spät: Peter Stepanowitsch befand sich damals schon unter fremdem Namen in Petersburg; dort spürte er, wie die Sache stand, und entwischte im Nu ins Ausland ... Aber ich greife gar zu sehr vor.

Er trat bei Kirillow mit böser, ärgerlicher Miene ein. Er wollte, wie es schien, abgesehen von der Hauptsache, mit Kirillow noch persönlich ein Hühnchen pflücken, sich für etwas an ihm rächen. Kirillow freute sich anscheinend über sein Kommen; offenbar hatte er schon sehr lange und mit schmerzlicher Ungeduld auf ihn gewartet. Sein Gesicht war ungewöhnlich blaß, der Blick der schwarzen Augen starr und unbeweglich.

»Ich dachte schon, Sie würden gar nicht mehr kommen,« sagte er mit schwerfälliger Stimme von der Sofaecke aus, aus der er sich übrigens nicht rührte, um den Besuch zu begrüßen.

Peter Stepanowitsch trat vor ihn hin und blickte ihm, ehe er ein Wort sprach, forschend ins Gesicht.

»Also ist alles in Ordnung, und wir werden von unserem Vorhaben nicht zurücktreten, Sie tapferer Held!« sagte er mit einem beleidigenden, gönnerhaften Lächeln. »Nun, was macht das?« fügte er mit häßlicher Scherzhaftigkeit hinzu; »wenn ich mich verspätet habe, so können Sie sich darüber nicht beklagen: ich habe Ihnen ja dadurch drei Stunden geschenkt!«

»Ich will von Ihnen keine Stunden dazugeschenkt haben, und Sie können mir nichts schenken, Sie Dummkopf!«

»Wie?« wollte Peter Stepanowitsch auffahren; aber er bezwang sich sofort wieder. »Ist das eine Empfindlichkeit! Ei, ei, sind wir so wütend?« fuhr er langsam und deutlich fort, immer mit derselben Miene beleidigenden Hochmutes. »In einem solchen Augenblicke dürfte vielmehr Ruhe vonnöten sein. Am besten wär's, wenn Sie sich jetzt für einen Kolumbus hielten und auf mich wie auf eine Maus herabblickten, die Sie nicht beleidigen könne. Das hatte ich Ihnen schon gestern empfohlen.«

»Ich will nicht auf Sie wie auf eine Maus herabblicken.«

»Was soll das heißen? Soll es ein Kompliment sein? Übrigens ist auch Ihr Tee kalt; also geht bei Ihnen alles drunter und drüber. Nein, da ist eine gewisse Unzuverlässigkeit zu spüren. Ah! Da sehe ich etwas auf dem Fensterbrett, auf einem Teller« (er trat an das Fenster heran). »Oho, ein gekochtes Huhn mit Reis! ... Aber warum ist noch nicht davon gegessen? Also haben Sie sich in einer solchen Stimmung befunden, daß sogar ein Huhn ...«

»Ich habe gegessen, und das ist nicht Ihre Sache; schweigen Sie!«

»Oh, gewiß, und es ist ja auch ganz egal. Aber für mich ist das jetzt nicht ganz egal: denken Sie sich: ich habe fast gar nicht zu Mittag gegessen, und darum, wenn Sie jetzt dieses Huhn, wie ich annehme, nicht mehr nötig haben, wie?«

»Essen Sie es, wenn Sie können!«

»Nun, dann danke ich Ihnen; aber dann auch Tee!«

Er richtete sich im Nu am Tische in der anderen Sofaecke ein und machte sich mit außerordentlichem Appetit ans Essen, beobachtete aber gleichzeitig alle Augenblicke sein Opfer. Kirillow sah ihn mit zornigem Widerwillen unverwandt an, wie wenn er nicht imstande wäre, seinen Blick von ihm loszureißen.

»Aber«, rief Peter Stepanowitsch plötzlich, ohne mit Essen aufzuhören, »wollen wir zur Sache kommen? Also wir treten nicht zurück, nicht wahr? Und das Schriftstück?«

»Ich bin heute nacht zu dem Schlusse gelangt, daß mir alles egal ist. Ich werde es niederschreiben. Über die Proklamationen?«

»Ja, auch über die Proklamationen. Ich werde es Ihnen übrigens diktieren. Ihnen ist es ja ganz egal. Wie könnte Sie denn auch der Inhalt in einem solchen Augenblicke beunruhigen!«

»Das ist nicht Ihre Sache.«

»Gewiß, das ist nicht meine Sache. Übrigens sind nur ein paar Zeilen erforderlich: daß Sie mit Schatow Proklamationen verbreitet haben, unter anderm mit Beihilfe Fedkas, der sich in Ihrer Wohnung verborgen gehalten habe. Dieser letzte Punkt über Fedka und die Wohnung ist sehr wichtig, sogar der wichtigste. Sie sehen, ich bin gegen Sie ganz offenherzig.«

»Mit Schatow? Warum mit Schatow? Über Schatow schreibe ich um keinen Preis etwas.«

»Na aber! Was haben Sie denn? Schaden können Sie ihm dadurch nicht mehr.«

»Seine Frau ist zu ihm gekommen. Sie wachte vorhin auf und schickte zu mir, um fragen zu lassen, wo er wäre.«

»Sie hat sich bei Ihnen erkundigen lassen, wo er wäre? Hm ... das paßt nicht in meinen Kram. Da wird sie womöglich noch einmal herschicken; es darf aber niemand wissen, daß ich hier bin ...«

Peter Stepanowitsch geriet in Unruhe.

»Sie wird es nicht erfahren; sie schläft wieder; die Hebamme ist bei ihr, Arina Wirginskaja.«

»So so, und ... sie wird es nicht erfahren, hoffe ich? Wissen Sie, Sie sollten Ihre Haustür zuschließen.«

»Sie wird nichts erfahren. Und wenn Schatow kommt, werde ich Sie in jenes Zimmer dort verstecken.«

»Schatow wird nicht kommen; schreiben Sie, daß Sie mit ihm wegen seines Verrates und wegen seiner Denunziation in Streit geraten seien ... heute abend ... und daß Sie an seinem Tode schuld seien.«

»Er ist tot!« rief Kirillow und sprang vom Sofa auf.

»Heute abend zwischen sieben und acht, oder richtiger gestern abend zwischen sieben und acht, da es jetzt schon ein Uhr ist.«

»Sie haben ihn ermordet! ... Das habe ich gestern geahnt!«

»Das war nicht schwer zu ahnen. Sehen Sie, mit diesem Revolver« (er zog den Revolver heraus, anscheinend, um ihn zu zeigen; aber er steckte ihn nicht wieder ein, sondern behielt ihn schußbereit in der rechten Hand). »Sie sind aber doch ein sonderbarer Mensch, Kirillow; Sie haben doch selbst gewußt, daß es mit diesem dummen Menschen ein solches Ende nehmen mußte. Was war da noch viel zu ahnen? Ich habe Ihnen die Sache ja mehrmals auseinandergesetzt. Schatow bereitete eine Denunziation vor; ich spürte das aus; das durfte unter keinen Umständen geschehen. Und auch Ihnen war ja die Instruktion erteilt worden, ihn zu beobachten, und Sie selbst haben mir vor drei Wochen mitgeteilt ...«

»Schweigen Sie! Das haben Sie deswegen getan, weil er Ihnen in Genf ins Gesicht gespuckt hat!«

»Deswegen und aus anderen Gründen. Aus vielen anderen Gründen; übrigens ohne allen Groll. Warum sind Sie denn aufgesprungen? Was nehmen Sie denn für Posen ein? So meinen Sie das?«

Er sprang auf, hob den Revolver in die Höhe und hielt ihn vor sich hin. Die Sache war die, daß Kirillow auf einmal vom Fensterbrette seinen Revolver genommen hatte, den er schon am Vormittage in Bereitschaft gesetzt und geladen hatte. Peter Stepanowitsch stellte sich in Positur und richtete seine Waffe auf Kirillow. Dieser lachte höhnisch auf.

»Gestehen Sie nur, Sie Schuft, daß Sie Ihren Revolver hervorgeholt haben, weil Sie fürchteten, ich würde Sie erschießen ... Aber ich werde Sie nicht erschießen ... obgleich ... obgleich ...«

Er hob den Revolver gegen Peter Stepanowitsch in die Höhe, wie wenn er auf ihn zielte, wie wenn er sich nicht den Genuß versagen könnte, sich vorzustellen, daß er ihn erschösse. Peter Stepanowitsch, immer noch in Positur, wartete und wartete bis zum letzten Augenblicke, ohne den Hahn loszudrücken, obwohl er dabei riskierte, selbst zuerst eine Kugel in die Stirn zu bekommen: von dem »Schauspieler« konnte er sich dessen versehen. Aber der »Schauspieler« ließ schießlich die Hand sinken; er atmete mühsam, zitterte und war nicht imstande zu sprechen.

»Sie haben eine Szene aufgeführt; nun genug!« sagte Peter Stepanowitsch und ließ ebenfalls die Waffe sinken. »Ich wußte, daß Sie nur schauspielerten; aber wissen Sie, Sie liefen dabei Gefahr: ich konnte losdrücken.«

Er setzte sich ziemlich ruhig auf das Sofa und goß sich Tee ein, wobei ihm die Hand allerdings ein wenig zitterte. Kirillow legte den Revolver wieder auf das Fensterbrett und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Ich werde nicht schreiben, daß ich Schatow getötet hätte, und ... ich werde jetzt überhaupt nichts schreiben. Es wird kein Schriftstück geben.«

»Nicht?«

»Nein.«

»Was für eine Gemeinheit und was für eine Dummheit!« rief Peter Stepanowitsch, ganz grün vor Bosheit. »Ich hatte mir das übrigens vorhergedacht. Bilden Sie sich nicht ein, daß Sie mich damit überrumpeln! Aber wie Sie wollen! Wenn ich Sie mit Gewalt zwingen könnte, so würde ich es tun. Übrigens sind Sie ein Schuft,« fuhr Peter Stepanowitsch fort, der immer mehr die Herrschaft über sich verlor: »Sie haben uns damals um Geld gebeten und alles mögliche versprochen ... Aber ich will doch nicht ganz resultatlos weggehen; ich will wenigstens mit ansehen, wie Sie sich eine Kugel vor den Kopf schießen.«

»Ich will, daß Sie sofort weggehen,« sagte Kirillow und stellte sich ihm fest gegenüber.

»Nein, das tue ich bestimmt nicht,« versetzte Peter Stepanowitsch und griff wieder nach dem Revolver. »Jetzt kommt Ihnen womöglich aus Bosheit und Feigheit in den Sinn, alles aufzuschieben und morgen hinzugehen und zu denunzieren, um wieder ein Stück Geld zu bekommen; denn dafür bezahlt ja die Behörde Geld. Hol Sie der Teufel; solche Subjekte, wie Sie, sind zu allem fähig! Aber seien Sie unbesorgt; ich habe alles vorhergesehen: ich gehe nicht fort, ehe ich Ihnen nicht mit diesem Revolver ein Loch in den Schädel gemacht habe, wie dem Schuft Schatow, wenn Sie selbst feige sind und die Ausführung Ihrer Absicht aufschieben; hol Sie der Teufel!«

»Sie wollen unbedingt auch mein Blut sehen?«

»Nicht aus Bosheit; begreifen Sie das doch, daß es mir ganz gleichgültig ist! Ich will es, um für unsere Sache unbesorgt sein zu können. Auf einen Menschen kann man sich nicht verlassen; das sehen Sie selbst. Ich habe kein Verständnis dafür, woher bei Ihnen die phantastische Idee, sich das Leben zu nehmen, stammt. Ich habe sie Ihnen nicht ersonnen, sondern Sie selbst, noch vor der Bekanntschaft mit mir, und Sie haben davon nicht zuerst mir, sondern Mitgliedern im Auslande Kenntnis gegeben. Und wohl zu beachten: niemand von ihnen hat Sie ausgeforscht, niemand von ihnen hat Sie überhaupt gekannt; sondern Sie selbst sind aus Gefühlsüberschwenglichkeit gekommen und haben Ihr Herz ausgeschüttet. Nun, was sollen wir anfangen, wenn dies gleich damals mit Ihrer Zustimmung und auf Ihren Vorschlag (wohl zu beachten: auf Ihren Vorschlag) zur Basis eines bestimmten Planes für die hiesigen Operationen gemacht wurde, eines Planes, dessen Umänderung jetzt nicht mehr möglich ist? Sie sind schon zu einer Stellung gelangt, in der Sie gar zu viel von unseren Geheimnissen wissen. Wenn Sie es nun mit der Angst bekommen und morgen hingehen und denunzieren, so wird das möglicherweise für uns nicht vorteilhaft sein; meinen Sie nicht auch? Nein, Sie haben sich verpflichtet; Sie haben Ihr Wort gegeben; Sie haben Geld genommen. Das können Sie schlechterdings nicht leugnen ...«

Peter Stepanowitsch war sehr in Hitze geraten; aber Kirillow hörte schon längst nicht mehr zu. Er ging wieder nachdenklich im Zimmer auf und ab.

»Mir tut Schatow leid,« sagte er, von neuem vor Peter Stepanowitsch stehen bleibend.

»Er tut mir ja auch leid, nun ja; und ist denn wirklich ...«

»Schweigen Sie, Sie Schuft!« brüllte Kirillow und machte eine furchtbare, unzweideutige Bewegung. »Ich schlage Sie tot!«

»Nun, nun, nun, ich habe gelogen; ich gebe es zu; er tut mir gar nicht leid; nun, lassen Sie es gut sein, lassen Sie es gut sein!« sagte Peter Stepanowitsch, indem er ängstlich aufsprang und die Hand vor sich hinstreckte.

Kirillow wurde plötzlich wieder ruhig und nahm seine Wanderung wieder auf.

»Ich werde es nicht aufschieben; ich will mir gerade jetzt das Leben nehmen: alle Menschen sind Schufte!«

»Na, sehen Sie; das ist ein Gedanke; allerdings sind alle Menschen Schufte, und da es für einen ordentlichen Menschen ekelhaft ist, auf der Welt zu leben, so ...«

»Sie Dummkopf; ich bin ebenso ein Schuft wie Sie und wie alle und kein ordentlicher Mensch. Einen ordentlichen Menschen hat es nirgend gegeben.«

»Endlich hat er's erraten! Haben Sie wirklich bisher trotz Ihres Verstandes das nicht begriffen, daß alle Menschen von ein und derselben Sorte sind, und daß es keine besseren und schlechteren gibt, sondern nur klügere und dümmere, und daß, wenn alle Menschen Schufte sind (was übrigens Unsinn ist), niemand eine Ausnahme zu sein braucht?«

»Ah! Sie machen sich wirklich nicht über mich lustig?« fragte Kirillow, ihn einigermaßen verwundert ansehend. »Sie reden mit Wärme und einfach? ... Haben wirklich solche Leute, wie Sie, Überzeugungen?«

»Kirillow, ich habe nie begreifen können, warum Sie sich töten wollen. Ich weiß nur, daß Sie es infolge einer Überzeugung tun wollen, infolge einer festen Überzeugung. Aber wenn Sie das Bedürfnis verspüren, sozusagen Ihr Herz auszuschütten, so stehe ich zu Ihren Diensten ... Nur müssen wir dabei die Zeit im Auge behalten.«

»Was ist die Uhr?«

»Oh, gerade zwei,« antwortete Peter Stepanowitsch nach einem Blicke auf die Uhr und zündete sich eine Zigarette an.

»Es scheint, daß ich mich noch mit ihm werde einigen können,« dachte er bei sich.

»Ich habe Ihnen nichts zu sagen,« murmelte Kirillow.

»Ich erinnere mich, daß Sie mir hier etwas von Gott sagten ... Sie haben es mir ein- oder sogar zweimal auseinandergesetzt. Wenn Sie sich erschießen, so werden Sie ja wohl ein Gott werden, nicht wahr?«

»Ja, ich werde ein Gott werden.«

Peter Stepanowitsch lächelte nicht einmal; er wartete; Kirillow sah ihn schlau an.

»Sie sind ein listiger Betrüger und Intrigant; Sie wollen mich auf die Philosophie bringen, mich in Enthusiasmus versetzen und eine Aussöhnung zustande bringen, um meinen Zorn zu verscheuchen und, wenn ich mich beschwichtigen lasse, die schriftliche Aussage zu verlangen, daß ich Schatow getötet habe.«

Peter Stepanowitsch antwortete beinah mit natürlicher Offenheit.

»Na, mag ich immerhin ein solcher Schuft sein; aber ist Ihnen in den letzten Augenblicken nicht alles egal, Kirillow? Nun, weswegen streiten wir uns eigentlich, sagen Sie selbst: Sie sind ein solcher Mensch und ich ein solcher; was folgt denn daraus? Und überdies sind wir alle beide ...«

»Schufte.«

»Ja, meinetwegen auch Schufte. Sie wissen ja, daß das nur Worte sind.«

»Mein ganzes Leben lang habe ich nicht gewollt, daß das nur Worte seien. Ich habe darum gelebt, weil ich das immer nicht wollte. Auch jetzt will ich jeden Tag, daß es nicht Worte seien.«

»Nun ja, ein jeder sucht sich den Ort, wo er es am besten hat. Der Fisch ... das heißt ein jeder sucht sich den Komfort, der ihm zusagt; das ist die ganze Sache. Das ist schon sehr lange bekannt.«

»›Komfort‹ sagten Sie?«

»Na, es lohnt sich nicht, über Worte zu streiten.«

»Nein, das haben Sie gut gesagt; bleiben wir bei ›Komfort‹. Gott ist notwendig, und darum muß er sein.«

»Nun, schön.«

»Aber ich weiß, daß er nicht existiert und nicht existieren kann.«

»Das ist richtiger.«

»Begreifen Sie wirklich nicht, daß ein Mensch mit diesen zwei Gedanken nicht unter den Lebenden bleiben kann?«

»Er muß sich also erschießen, wie?«

»Begreifen Sie wirklich nicht, daß man sich schon allein deshalb erschießen kann? Begreifen Sie nicht, daß es einen solchen Menschen geben kann, einen einzigen Menschen unter euren tausend Millionen, einen einzigen, der es nicht will und es nicht erträgt?«

»Ich begreife nur, daß Sie, wie es scheint, schwankend geworden sind ... Das ist sehr häßlich.«

»Stawrogin ist auch in die Gewalt einer Idee hineingeraten,« sagte Kirillow, der diese Bemerkung gar nicht gehört hatte und mit finsterer Miene im Zimmer auf und ab ging.

»Wie?« fragte Peter Stepanowitsch aufhorchend. »Was meinen Sie für eine Idee? Hat er selbst Ihnen etwas gesagt?«

»Nein, ich habe es selbst erraten: wenn Stawrogin glaubt, so glaubt er nicht, daß er glaubt. Wenn er aber nicht glaubt, so glaubt er nicht, daß er nicht glaubt.«

»Na, Stawrogin hat wohl andere Dinge im Kopfe, die klüger sind als das ...« murmelte Peter Stepanowitsch ärgerlich und verfolgte mit Unruhe die neue Wendung des Gespräches und den blassen Kirillow.

»Hol's der Teufel, er wird sich nicht erschießen,« dachte er. »Ich habe es immer geahnt; es ist eine Pose des Intellekts und weiter nichts; ach, dieses Lumpenpack!«

»Sie sind der Letzte, mit dem ich zusammen bin: ich möchte von Ihnen nicht im Bösen scheiden,« sagte Kirillow auf einmal in freundlichem Tone.

Peter Stepanowitsch antwortete nicht sogleich. »Hol's der Teufel, was ist das nun wieder?« dachte er von neuem.

»Glauben Sie mir, Kirillow, ich habe persönlich nichts gegen Sie als Menschen, und ich habe immer ...«

»Sie sind ein Schuft und ein verlogenes Subjekt. Aber ich bin ein ebensolcher Mensch wie Sie und werde mich erschießen; Sie aber werden am Leben bleiben.«

»Das heißt, Sie wollen sagen, ich sei so gemein, daß ich unter den Lebenden bleiben möchte.«

Er hatte noch nicht darüber ins klare kommen können, ob es vorteilhaft oder unvorteilhaft sei, ein solches Gespräch in einem solchen Augenblicke fortzusetzen, und entschied sich dafür, sich den Umständen anzupassen. Aber der Ton der Überlegenheit und der unverhohlenen Verachtung, die Kirillow stets gegen ihn an den Tag gelegt hatte, hatte ihn auch früher schon immer gereizt und reizte ihn aus einem bestimmten Grunde jetzt noch mehr als früher: vielleicht weil Kirillow, dem es bevorstand, nach ungefähr einer Stunde zu sterben (denn daran hielt Peter Stepanowitsch immer noch fest), ihm gewissermaßen nur als ein halber Mensch erschien, als ein Mensch, dem man keinen Hochmut gestatten dürfe.

»Sie prahlen, wie es scheint, mir gegenüber damit, daß Sie sich erschießen werden?«

»Ich habe mich immer darüber gewundert, daß die andern alle am Leben bleiben,« sagte Kirillow, der seine Bemerkung nicht gehört hatte.

»Hm! Allerdings, das ist ein Gedanke; aber ...«

»Sie Affe, Sie stimmen mir bei, damit ich Ihnen den Willen tue. Schweigen Sie; Sie verstehen nichts davon. Wenn es keinen Gott gibt, so bin ich ein Gott.«

»Sehen Sie, diesen Punkt habe ich bei Ihnen niemals begreifen können: warum sind Sie ein Gott?«

»Wenn Gott existiert, so ist aller Wille sein, und ich kann ohne seinen Willen nichts tun. Wenn er aber nicht existiert, so ist aller Wille mein, und ich bin verpflichtet, Eigenwillen zu bekunden.«

»Eigenwillen? Aber warum verpflichtet?«

»Weil aller Wille mein geworden ist. Wird denn wirklich niemand auf dem ganzen Planeten, nachdem er mit Gott ein Ende gemacht und an seinen Eigenwillen zu glauben angefangen hat, es wagen, Eigenwillen zu bekunden, und zwar im wichtigsten Punkte? Das ist, wie wenn ein armer Mensch eine Erbschaft gemacht hätte und sich nun fürchtete und nicht wagte, an den Geldsack heranzugehen, in der Meinung, er sei zu schwach, um davon Besitz zu ergreifen. Ich will Eigenwillen bekunden. Mag ich auch der einzige sein; aber ich werde es tun.«

»Nun, dann tun Sie es!«

»Ich bin verpflichtet, mich zu erschießen, weil dies der wichtigste Punkt meines Eigenwillens ist, mich selbst zu töten.«

»Aber Sie sind ja nicht der einzige, der sich tötet; es gibt viele Selbstmörder.«

»Die haben ihre Ursachen. Aber ohne jede Ursache, nur des Eigenwillens wegen, da bin ich der einzige.«

»Er wird sich nicht erschießen,« ging es Peter Stepanowitsch wieder durch den Kopf.

»Wissen Sie was?« bemerkte er in gereiztem Tone, »ich würde an Ihrer Stelle, um Eigenwillen zu bekunden, einen anderen töten und nicht mich selbst. Sie können sich nützlich machen. Ich werde Ihnen jemand zeigen, wenn Sie keine Furcht haben. Dann brauchen Sie sich meinetwegen heute nicht zu erschießen. Wir können uns einigen.«

»Einen anderen zu töten, das würde der niedrigste Punkt meines Eigenwillens sein; das wäre ganz in Ihrer Art. Ich bin Sie: ich will den höchsten Punkt und werde mich selbst töten.«

»Nun ist er von selbst darauf gekommen,« murmelte Peter Stepanowitsch boshaft vor sich hin.

»Ich bin verpflichtet, meinen Unglauben an den Tag zu legen,« fuhr Kirillow, im Zimmer auf und ab gehend, fort. »Es gibt für mich nichts Höheres als den Gedanken, daß es keinen Gott gibt. Für mich spricht die ganze Weltgeschichte. Der Mensch hat sich Gott nur ausgedacht, um leben zu können, ohne sich zu töten; darauf beruht die ganze Weltgeschichte bis auf den heutigen Tag. Ich bin in der Weltgeschichte der erste und einzige, der sich Gott nicht hat ausdenken wollen. Mögen die Menschen das ein für allemal erfahren.«

»Er wird sich nicht erschießen,« dachte Peter Stepanowitsch beunruhigt.

»Wer soll es denn erfahren?« fragte er, um ihn aufzuhetzen. »Hier ist weiter niemand als ich und Sie. Soll es etwa Liputin erfahren?«

»Alle sollen es erfahren; alle werden es erfahren ... Es gibt nichts Geheimes, das nicht offenbar werden wird. Das hat Er gesagt.«

Er wies in fieberhafter Ekstase nach dem Bilde des Erlösers, vor dem ein Lämpchen brannte. Peter Stepanowitsch wurde ganz wütend.

»An Ihn glauben Sie also immer noch und haben ein Lämpchen angezündet; wohl ›für alle Fälle‹?«

Der andere schwieg.

»Wissen Sie was? Meiner Ansicht nach glauben Sie womöglich noch fester als ein Pope.«

»An wen? An Ihn? Hören Sie,« sagte Kirillow, indem er stehen blieb und mit einem starren, verzückten Blicke vor sich hin sah. »Hören Sie einen großen Gedanken: es war auf der Erde ein Tag, und mitten auf der Erde standen drei Kreuze. Einer der Gekreuzigten glaubte so fest, daß er zu einem der andern sagte: ›Heute wirst du mit mir im Paradiese sein.‹ Der Tag ging zu Ende, beide starben, gingen hin und fanden weder ein Paradies noch eine Auferstehung. Was der eine gesagt hatte, bewahrheitete sich nicht. Hören Sie: dieser Mensch war der höchste auf der ganzen Erde; er stellte das Ziel dar, zu dessen Erreichung sie leben sollte. Der ganze Planet, mit allem, was auf ihm ist, ist ohne diesen Menschen nur ein Wahnsinn. Weder vor Ihm noch nach Ihm hat es einen ebensolchen Menschen gegeben; er war geradezu ein Wunder. Das Wunder besteht eben darin, daß es einen ebensolchen nie gegeben hat und nie geben wird. Wenn dem aber so ist, wenn die Naturgesetze nicht einmal mit Ihm Mitleid gehabt, ihr eigenes Wunderwerk nicht geschont, sondern auch Ihn gezwungen haben, inmitten der Unwahrheit zu leben und für eine Unwahrheit zu sterben, dann ist der ganze Planet Unwahrheit und beruht auf Unwahrheit und dummer Verhöhnung. Mithin sind die Gesetze des Planeten selbst Unwahrheit und eine vom Teufel ersonnene Komödie. Wozu soll man also leben? Antworten Sie, wenn Sie ein Mensch sind!«

»Dadurch bekommt die Sache eine andere Wendung. Mir scheint, Sie haben hier zwei verschiedene Ursachen durcheinandergemischt; das ist aber ein sehr unzuverlässiges Verfahren. Aber erlauben Sie, wie nun, wenn Sie ein Gott sind? Wenn die Unwahrheit ein Ende genommen hat und Sie es richtig erraten haben, daß die ganze Unwahrheit daher stammte, daß der frühere Gott existierte?«

»Endlich haben Sie es begriffen!« rief Kirillow enthusiastisch. »Also kann man es doch begreifen, wenn sogar ein solcher Mensch, wie Sie, es begriffen hat! Jetzt werden Sie begreifen, daß die ganze Rettung für alle darin besteht, daß man allen diesen Gedanken zeigt. Aber wer wird ihn zeigen? Ich! Ich begreife nicht, wie bisher ein Atheist hat wissen können, daß es keinen Gott gibt, ohne sich doch sofort zu töten. Zu wissen, daß es keinen Gott gibt, und gleichzeitig nicht zu wissen, daß man selbst ein Gott geworden ist, das ist eine Absurdität; man tötet sich sonst unfehlbar selbst. Wenn man es weiß, dann ist man ein König und tötet sich nicht mehr selbst, sondern lebt in Pracht und Herrlichkeit. Aber einer, derjenige, der der erste ist, der muß sich unbedingt selbst töten; denn wer wird sonst den Anfang machen und es zeigen? Und so werde ich mich unfehlbar selbst töten, um den Anfang zu machen und es zu zeigen. Ich bin jetzt nur noch wider meinen Willen ein Gott, und ich bin unglücklich, weil ich verpflichtet bin, Eigenwillen zu zeigen. Alle sind unglücklich, weil alle sich fürchten, Eigenwillen zu zeigen. Eben darum ist der Mensch bisher so unglücklich und arm gewesen, weil er sich gefürchtet hat, in dem wichtigsten Punkte Eigenwillen zu zeigen, und nur so in Nebendingen Eigenwillen gezeigt hat wie ein Schulknabe. Ich bin schrecklich unglücklich, weil ich mich schrecklich fürchte. Die Furcht ist der Fluch des Menschen ... Aber ich werde Eigenwillen zeigen; ich bin verpflichtet zu glauben, daß ich nicht glaube. Ich werde den Anfang machen und das Ende bringen und die Tür öffnen. Ich werde der Retter sein. Nur dieses Eine wird alle Menschen retten und sie gleich in der folgenden Generation physisch umgestalten; denn in der jetzigen physischen Gestalt kann, soweit ich das einsehe, der Mensch ohne den früheren Gott nicht existieren. Drei Jahre lang habe ich nach dem Attribute meiner Göttlichkeit gesucht und es endlich gefunden: das Attribut meiner Göttlichkeit ist der Eigenwille! Das ist alles, wodurch ich im wichtigsten Punkte meine Unbotmäßigkeit und meine neue furchtbare Freiheit zeigen kann. Denn furchtbar ist sie in hohem Grade. Ich werde mich töten, um meine Unbotmäßigkeit und meine neue furchtbare Freiheit zu zeigen.«

Sein Gesicht war unnatürlich blaß, sein Blick unerträglich starr. Er war wie im Fieber. Peter Stepanowitsch dachte schon, er werde im nächsten Augenblick umfallen.

»Geben Sie eine Feder her!« rief Kirillow auf einmal ganz unerwartet in einem Zustande entschiedener Verzückung. »Diktieren Sie, ich werde alles niederschreiben und unterzeichnen. Auch daß ich Schatow getötet habe. Diktieren Sie, solange mir noch lächerlich zumute ist! Ich fürchte das Urteil hochmütiger Sklaven nicht! Bald werden Sie selbst sehen, daß alles Geheime offenbar werden wird! Aber Sie werden erdrückt werden ... Ich glaube! Ich glaube!«

Peter Stepanowitsch sprang von seinem Platze auf, reichte ihm im Nu Tinte und Papier und begann, den günstigen Augenblick benutzend und in zitternder Angst um das Gelingen, zu diktieren.

»Ich, Alexei Kirillow, erkläre ...«

»Halt! Das will ich nicht! Wem erkläre ich das?«

Sein ganzer Leib wurde wie vom Fieber geschüttelt. Dieser Ausdruck »Ich erkläre« und ein besonderer plötzlicher Gedanke, der sich daran knüpfte, schienen auf einmal seine ganze Aufmerksamkeit zu absorbieren, wie wenn das ein Ausweg wäre, nach dem sein gequälter Geist wenigstens für einen Augenblick ungestüm hinstürzte.

»Wem erkläre ich das? Ich will wissen wem.«

»Niemandem, allen, dem ersten besten, der es liest. Wozu soll man das näher bestimmen? Der ganzen Welt!«

»Der ganzen Welt? Bravo! Und Reue soll nicht darin vorkommen. Ich will nichts bereuen. Und ich will mich nicht an die Obrigkeit wenden!«

»Nein doch! Das ist ja auch nicht nötig; hole der Teufel die Obrigkeit! So schreiben Sie doch, wenn es Ihnen Ernst ist! ...« rief Peter Stepanowitsch in krankhafter Aufregung.

»Halt! Ich will eine Fratze mit herausgestreckter Zunge darüber zeichnen.«

»Ach, dummes Zeug!« erwiderte Peter Stepanowitsch ärgerlich. »Das kann man auch ohne Zeichnung durch den bloßen Ton zum Ausdruck bringen.«

»Durch den Ton? Das ist gut. Ja, durch den Ton, durch den Ton! Diktieren Sie es mit dem Ton!«

»Ich, Alexei Kirillow,« diktierte Peter Stepanowitsch mit fester, gebieterischer Stimme, indem er sich über Kirillows Schulter beugte und jeden Buchstaben verfolgte, den dieser mit seiner vor Aufregung zitternden Hand hinschrieb, »ich, Kirillow, erkläre, daß ich heute, am ...ten Oktober, zwischen sieben und acht Uhr abends, den Studenten Schatow im Parke getötet habe, wegen Verräterei und wegen einer Denunziation betreffend die Proklamationen und Fedka, welcher bei uns beiden im Filippowschen Hause zehn Tage lang gewohnt und genächtigt hat. Ich töte mich selbst heute mit einem Revolver, nicht weil ich Reue empfände oder vor jemand Furcht hätte, sondern weil ich schon im Auslande den Entschluß gefaßt hatte, mir das Leben zu nehmen.«

»Weiter nichts?« rief Kirillow erstaunt und unwillig.

»Kein Wort weiter!« versetzte Peter Stepanowitsch mit einer abwehrenden Handbewegung und suchte ihm das Schriftstück zu entreißen.

»Halt!« rief Kirillow und legte seine Hand fest auf das Papier; »halt, Unsinn! Ich will angeben, in welcher Absicht ich mich getötet habe. Und wozu ist da Fedka erwähnt? Und wie ist's mit der Feuersbrunst? Ich will alles schreiben, und dann will ich noch in kräftigem Tone schimpfen, jawohl, in kräftigem Tone!«

»Genug, Kirillow, ich versichere Ihnen, daß es ausreicht!« sagte, beinahe flehend, Peter Stepanowitsch, der vor Angst zitterte, der andere könnte das Blatt zerreißen. »Damit es Glauben findet, muß es möglichst dunkel gehalten sein, gerade so, mit bloßen Andeutungen. Man darf nur ein Zipfelchen von der Wahrheit zeigen, eben nur so viel, daß es diese Leute reizt. Denn sie belügen sich selbst immer mehr, als wir sie belügen, und ebenso glauben sie sicherlich sich selbst mehr als uns, und das ist ja das Allerbeste, das Allerbeste! Geben Sie her! So, wie es ist, ist es vorzüglich; geben Sie her, geben Sie her!«

Er bemühte sich, ihm das Blatt zu entreißen. Kirillow hatte mit weit aufgerissenen Augen zugehört und anscheinend versucht, sich die Sache im Kopfe zurechtzulegen; aber er schien nichts davon verstanden zu haben.

»Aber zum Teufel!« rief Peter Stepanowitsch auf einmal ärgerlich. »Er hat ja noch nicht unterschrieben! Warum reißen Sie denn die Augen so auf? Unterschreiben Sie doch!«

»Ich will schimpfen,« murmelte Kirillow, nahm jedoch die Feder und unterschrieb. »Ich will schimpfen ...«

»Schreiben Sie darunter: Vive la république, und damit basta!«

»Bravo!« brüllte Kirillow ganz entzückt. »Vive la république démocratique, sociale et universelle ou la mort! ... Nein, nein, so nicht! Liberté, égalité, fraternité ou la mort. Das ist noch besser, das ist noch besser!« Und mit sichtlichem Genuß schrieb er dies unter seine Namensunterschrift.

»Genug, genug!« sagte Peter Stepanowitsch noch einmal.

»Halt, noch ein paar Worte ... Wissen Sie, ich werde noch einmal auf Französisch darunter schreiben: ›de Kirilloff, gentilhomme russe et citoyen du monde.‹ Ha-ha-ha!« lachte er laut auf. »Nein, nein, nein, halt; ich habe das Allerbeste gefunden, heureka: gentilhomme-séminariste russe et citoyen du monde civilisé! Das ist das Allerbeste ...« Er sprang vom Sofa auf, nahm mit einem schnellen Griffe den Revolver vom Fensterbrette, lief mit ihm in das andere Zimmer und machte die Tür hinter sich fest zu.

Peter Stepanowitsch stand ungefähr eine Minute lang nachdenklich da und blickte nach der Tür hin.

»Wenn er sofort zu einem Entschlusse kommt, dann erschießt er sich wohl; aber wenn er erst anfängt nachzudenken, dann wird nichts daraus werden.«

Er nahm vorläufig das Blatt Papier, setzte sich hin und sah es von neuem durch. Die Fassung der Erklärung gefiel ihm auch jetzt wieder.

»Was ist zunächst erforderlich? Sie müssen für eine Weile ganz wirr gemacht und von der richtigen Spur abgelenkt werden. Der Park? In der Stadt ist kein Park; nun, sie werden von selbst darauf kommen, daß der Park von Skworeschniki gemeint ist. Bis sie darauf kommen, wird Zeit vergehen; ebenso wird das Suchen Zeit in Anspruch nehmen; dann werden sie den Leichnam finden und daraus ersehen, daß die Angabe des Schriftstücks wahr ist, und folgern, daß auch alles andere wahr ist, auch das über Fedka Gesagte. Aber was hat es mit Fedka für eine Bewandtnis? Fedka, das bedeutet die Brandstiftung, die Ermordung der Lebjadkins: also ist alles von hier, von dem Filippowschen Hause, ausgegangen, und sie haben nichts bemerkt, haben alles übersehen, – das wird ihnen den Kopf ganz schwindlig machen! An die ›Unsrigen‹ zu denken wird ihnen gar nicht in den Sinn kommen; Schatow und Kirillow und Fedka und Lebjadkin, und warum sie einander totgeschlagen haben, – das wird für sie eine nette Rätselfrage sein. Aber zum Teufel, es ist ja kein Schuß zu hören! ...«

Obgleich er las und an der Fassung des Schriftstückes seine Freude hatte, horchte er doch jeden Augenblick in peinlicher Unruhe auf und – wurde auf einmal zornig. Erregt blickte er auf die Uhr; es war schon ziemlich spät; und seit Kirillow weggegangen war, waren schon etwa zehn Minuten vergangen ... Er ergriff das Licht und ging zur Tür des Zimmers hin, in welchem Kirillow verschwunden war. Als er schon dicht an der Tür war, wurde er auf einmal darauf aufmerksam, daß die Kerze schon sehr weit herabgebrannt war und in etwa zwanzig Minuten ganz ausgehen mußte und keine andere da war. Er faßte die Klinke an und horchte vorsichtig; es war nicht das geringste Geräusch hörbar. Er öffnete die Tür und hob das Licht in die Höhe: da brüllte etwas auf und stürzte auf ihn los. Aus aller Kraft schlug er die Tür zu und drückte sich wieder horchend an sie; aber alles war schon ruhig geworden, und es herrschte wieder Totenstille.

Lange stand er unentschlossen mit dem Lichte in der Hand da. In der Sekunde, als er die Tür geöffnet hatte, hatte er sehr wenig unterscheiden können; aber er hatte doch flüchtig das Gesicht Kirillows gesehen, der im Hintergrunde des Zimmers am Fenster stand, und die tierische Wut bemerkt, mit der dieser plötzlich auf ihn losgestürzt war. Peter Stepanowitsch zuckte zusammen, stellte schnell das Licht auf den Tisch, setzte seinen Revolver in Bereitschaft und sprang auf den Zehen in die entgegengesetzte Ecke, so daß, wenn Kirillow die Tür öffnete und mit dem Revolver zum Tische eilte, er noch früher als dieser zielen und abdrücken konnte.

An den Selbstmord glaubte Peter Stepanowitsch jetzt gar nicht mehr.

»Er stand mitten im Zimmer und dachte nach,« ging es ihm wie ein Wirbelwind durch den Kopf. »Und dazu das dunkle, unheimliche Zimmer ... Er brüllte los und stürzte auf mich zu – da sind zwei Möglichkeiten: entweder habe ich ihn gerade in der Sekunde gestört, als er den Hahn abdrücken wollte, oder ... oder er stand und überlegte, wie er mich töten könnte. Ja, so ist es; das hat er überlegt ... Er weiß, daß ich nicht weggehen werde, ohne ihn getötet zu haben, wenn er selbst sich feige zeigt; also muß er mich zuerst töten, damit ich ihn nicht töte ... Und nun wieder dort diese Stille! Es ist geradezu unheimlich: auf einmal wird er die Tür aufmachen ... Eine Gemeinheit ist es, daß er fester an Gott glaubt als ein Pope ... Um keinen Preis wird er sich erschießen! ... Solcher Leute, die ›durch ihren eigenen Verstand dahin gelangt sind‹, gibt es jetzt eine große Menge. Dieses Lumpenpack! Pfui Teufel, das Licht, das Licht! Es wird in einer Viertelstunde sicher zu Ende gebrannt sein ... Ich muß ein Ende machen, um jeden Preis ein Ende machen ... Nur zu, töten kann ich ihn jetzt ohne Besorgnis; mit diesem Papier wird niemand denken, daß ich ihn getötet habe. Man kann ihn so auf den Fußboden legen und in die richtige Positur bringen, mit dem abgeschossenen Revolver in der Hand, daß sie unfehlbar glauben werden, er habe selbst ... Ach, zum Teufel, wie soll ich ihn denn töten? Wenn ich die Tür aufmache, wird er wieder auf mich losstürzen und früher schießen als ich. Ach was, zum Teufel, selbstverständlich wird er mich verfehlen!«

So marterte er sich ab, zitternd angesichts der Unvermeidlichkeit des Vorhabens und infolge seiner Unentschlossenheit. Endlich nahm er das Licht und ging wieder zur Tür, den schußfertigen Revolver in der rechten Hand; mit der linken Hand, in der er das Licht hielt, drückte er auf die Türklinke. Aber hierbei verfuhr er nicht geschickt genug: die Klinke schnappte und gab einen kreischenden Ton. »Er wird ohne weiteres auf mich schießen!« dachte Peter Stepanowitsch im selben Momente. Er stieß aus aller Kraft die Tür mit dem Fuße auf, hob das Licht in die Höhe und streckte den Revolver nach vorn; aber es erfolgte kein Schuß und kein Schrei ... Im Zimmer war niemand.

Er fuhr zusammen. Das Zimmer war kein Durchgangszimmer; es hatte keinen andern Ausgang, und man konnte aus ihm nirgendshin entfliehen. Er hob die Kerze noch mehr in die Höhe und sah sich aufmerksam um: absolut niemand. Er rief halblaut: »Kirillow!« Dann zum zweiten Male lauter; niemand antwortete.

»Ist er wirklich durchs Fenster entflohen?«

In der Tat war an einem Fenster die Luftklappe geöffnet. »Unsinn, durch die Luftklappe hat er nicht entfliehen können.« Peter Stepanowitsch ging durch das ganze Zimmer geradeswegs zum Fenster hin. »Das ist unmöglich.« Plötzlich drehte er sich schnell um, und etwas Ungewöhnliches ließ ihn erzittern.

An der den Fenstern gegenüberliegenden Wand stand rechts von der Tür ein Schrank. Rechts von diesem Schranke, in der von der Wand und dem Schranke gebildeten Nische, stand Kirillow, und zwar stand er in ganz sonderbarer Weise da: regungslos, gerade aufgerichtet, mit den Händen an der Hosennaht, mit erhobenem Kopfe, den Hinterkopf fest gegen die Wand gedrückt, ganz in der Nische, anscheinend in der Absicht, sich ganz zu verbergen und unsichtbar zu machen. Nach allen Anzeichen hatte er sich da versteckt; und doch schien dies nicht recht glaublich. Peter Stepanowitsch stand der Nische etwas schräg gegenüber und konnte nur die hervorragenden Teile der Gestalt sehen. Er konnte sich immer noch nicht dazu entschließen, weiter nach links zu treten, um den ganzen Kirillow zu erkennen und das Rätsel zu lösen. Das Herz begann ihm heftig zu schlagen ... Und auf einmal bemächtigte sich seiner eine vollständige Wut: er riß sich von seinem Platze los, schrie auf und stürzte, mit den Füßen aufstampfend, zu der furchtbaren Stelle hin.

Aber als er nahe herangekommen war, blieb er wieder wie angeschmiedet stehen und wurde von noch größerem Schrecken gepackt. Ganz besonders überraschte es ihn, daß die Gestalt trotz seines Schreies und seines wütenden Ansprunges sich gar nicht bewegte, sich nicht rührte, auch nicht mit einem Gliede, gerade als ob sie versteinert oder aus Wachs wäre. Die Blässe des Gesichtes war unnatürlich; die völlig starren schwarzen Augen blickten nach irgendeinem Punkte in weiter Entfernung. Peter Stepanowitsch fuhr mit dem Lichte von oben nach unten und wieder nach oben, indem er so dieses Gesicht von allen Punkten beleuchtete und betrachtete. Plötzlich bemerkte er, daß Kirillow, obgleich er irgendwohin geradeaus blickte, ihn doch von der Seite sah und vielleicht sogar beobachtete. Da kam ihm der Gedanke, die Flamme des Lichtes gerade an das Gesicht »dieses Schurken« heranzuhalten, es zu verbrennen und zu sehen, was dieser dann tun werde. Auf einmal schien es ihm, als ob Kirillows Kinn sich bewegte und ein spöttisches Lächeln über seine Lippen dahinglitte, gerade wie wenn dieser seine Absicht erraten hätte. Er fuhr zusammen und packte, ohne selbst zu wissen, was er tat, Kirillow fest an der Schulter.

Da geschah etwas so Ungeheuerliches und mit solcher Schnelligkeit, daß Peter Stepanowitsch später nicht imstande war, Ordnung in seine Erinnerungen hineinzubringen. Kaum hatte er Kirillow berührt, als dieser schnell den Kopf niederbeugte und mit dem Kopfe selbst ihm das Licht aus der Hand schlug; der Leuchter fiel geräuschvoll auf den Fußboden, und das Licht erlosch. In demselben Augenblicke fühlte er einen furchtbaren Schmerz im kleinen Finger seiner linken Hand. Er schrie auf und erinnerte sich später nur, daß er ganz außer sich Kirillow, der ihn angefallen hatte und ihn in den Finger biß, dreimal aus voller Kraft mit dem Revolver auf den Kopf schlug. Endlich riß er ihm den Finger aus den Zähnen und stürzte nun, im Dunkeln den Weg suchend, Hals über Kopf davon, um aus dem Hause hinauszulaufen. Hinter ihm her erscholl aus dem Zimmer ein furchtbares Geschrei:

»Sogleich, sogleich, sogleich, sogleich! ...«

Wohl zehnmal. Aber er lief weiter und war schon auf den Flur gelangt, als ein lauter Schuß ertönte. Da blieb er auf dem Flur im Dunkeln stehen und überlegte etwa fünf Minuten lang; schließlich kehrte er wieder in die Wohnung zurück. Aber vor allen Dingen mußte er die Kerze wiederhaben. Er brauchte nur rechts bei dem Schranke auf dem Fußboden den ihm aus der Hand geschlagenen Leuchter zu suchen; aber wie sollte er den Lichtstumpf anzünden? Da tauchte in seinem Kopfe eine dunkle Erinnerung auf: er besann sich, daß er tags zuvor, als er in die Küche gelaufen war, um Fedka zu schelten, in der Ecke auf einem Wandbrette eine große rote Streichholzschachtel flüchtig bemerkt hatte. Tastend wandte er sich nach links zur Küchentür, fand sie, durchschritt den Vorraum und stieg die Stufen hinunter. Auf dem Wandbrette, gerade an der Stelle, an die er sich soeben erinnert hatte, fand er im Dunkeln eine volle, noch nicht angebrochene Schachtel mit Streichhölzern. Ohne Licht zu machen, kehrte er eilig nach oben zurück, und erst bei dem Schranke, an derselben Stelle, wo er den ihn beißenden Kirillow mit dem Revolver geschlagen hatte, erinnerte er sich auf einmal an seinen gebissenen Finger und empfand im selben Augenblicke in ihm einen beinah unerträglichen Schmerz. Die Zähne zusammenbeißend, zündete er mit Mühe und Not das Lichtstümpfchen an, steckte es wieder auf den Leuchter und blickte um sich: bei dem Fenster mit der geöffneten Luftscheibe lag, mit den Füßen nach der rechten Zimmerecke zu, der Leichnam Kirillows. Der Schuß war in die rechte Schläfe erfolgt, und die Kugel war oben links wieder herausgegangen, nachdem sie den Schädel durchschlagen hatte. Spritzer von Blut und Gehirn waren sichtbar. Der Revolver war in der auf den Fußboden gesunkenen Hand des Selbstmörders geblieben. Nachdem Peter Stepanowitsch alles mit größter Genauigkeit gemustert hatte, richtete er sich auf, ging auf den Zehen hinaus, machte die Tür zu, stellte das Licht auf den Tisch im ersten Zimmer, überlegte einen Augenblick und entschied sich dafür, es nicht auszulöschen, da er sich sagte, daß es keinen Brand verursachen könne. Nachdem er noch einen Blick auf das Schriftstück geworfen hatte, das auf dem Tische lag, lächelte er mechanisch und verließ dann, immer noch aus nicht recht verständlichem Grunde auf den Fußspitzen, das Haus. Er kroch wieder durch Fedkas Schlupfloch hindurch und schloß es wieder hinter sich sorgfältig.

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