Es war tatsächlich ausländischer Druck: drei bedruckte, zusammengeheftete Bogen gewöhnlichen Briefpapieres kleinen Formates. Sie mochten im geheimen in irgendeiner ausländischen russischen Druckerei gedruckt sein und hatten auf den ersten Blick sehr viel Ähnlichkeit mit einer Proklamation. Am Kopfe stand: »Von Stawrogin.«
Ich nehme dieses Schriftstück buchstäblich in meine Chronik auf. Ich habe mir erlaubt, die orthographischen Fehler zu verbessern, die ziemlich zahlreich waren und mich sogar einigermaßen in Erstaunen versetzten, da der Verfasser doch ein gebildeter und (natürlich nur verhältnismäßig) belesener Mann war. Im Stil dagegen habe ich keinerlei Änderungen vorgenommen, trotz der darin begegnenden Inkorrektheiten. Jedenfalls ist klar, daß das Schriftstück nicht von einem Literaten herrührt.
Ich erlaube mir noch eine Bemerkung, obwohl ich damit vorgreife. Dieses Schriftstück ist meines Erachtens etwas Krankhaftes, ein Werk des Teufels, der von diesem Herrn Besitz genommen hatte. Der Hergang ist ähnlich, wie wenn ein Mensch, der von einem heftigen Schmerze gequält wird, sich in seinem Bette herumwirft, um eine andere Lage zu finden und sich wenigstens für einen Augenblick Erleichterung zu verschaffen. Ja, nicht einmal Erleichterung möchte er sich verschaffen, sondern nur, wenn auch bloß für einen Augenblick, das frühere Leid mit einem andern vertauschen. Bei diesem Bestreben kommt es ihm selbstverständlich nicht darauf an, daß seine neue Lage schön oder verständig sei. Der Grundgedanke dieses Schriftstücks ist das furchtbare, ungeheuchelte Bedürfnis nach Strafe, das Bedürfnis nach dem Kreuze, nach einer öffentlichen Hinrichtung. Aber dabei ist dieses Bedürfnis nach dem Kreuze in einem Menschen lebendig, der nicht an das Kreuz glaubt, und schon dies allein stellt eine »Idee« dar, wie sich Stepan Trofimowitsch einmal, jedoch in einem andern Falle, ausgedrückt hat. Andrerseits ist das ganze Schriftstück gleichzeitig ein Ausbruch von Tollheit und Jähzorn, wiewohl es anscheinend in anderer Absicht verfaßt ist. Der Verfasser erklärt, er habe nicht umhin gekonnt, es zu schreiben, er habe sich dazu »gezwungen« gefühlt, und das ist ziemlich wahrscheinlich: er wäre froh gewesen, diesen Kelch an sich vorübergehen zu lassen, wenn er das gekonnt hätte; aber er konnte es, wie es scheint, tatsächlich nicht, und so griff er denn lediglich nach einer passenden Gelegenheit zu einer neuen Tollheit. Ja, der Kranke wirft sich auf seinem Bette herum und will ein Leid mit dem andern vertauschen, und da erscheint ihm der Kampf mit der Gesellschaft als diejenige Lage, die ihm noch am ehesten Erleichterung gewähren könne, und so wirft er denn der Gesellschaft den Fehdehandschuh zu.
Und wirklich kann man schon aus der bloßen Tatsache der Abfassung eines solchen Schriftstücks im voraus vermuten, daß es sich um eine neue, überraschende und unverzeihliche Herausforderung der Gesellschaft handelt. Der Verfasser möchte nur so bald als möglich einem neuen Feinde begegnen.
Und wer weiß: vielleicht ist alles dies, das heißt die Bogen mitsamt der beabsichtigten Veröffentlichung, wieder nichts anderes als jener Biß in das Ohr des Gouverneurs, nur in anderer Form. Warum mir das sogar jetzt in den Sinn kommt, nachdem sich schon so vieles geklärt hat, das verstehe ich nicht. Ich suche auch nicht zu beweisen und behaupte gar nicht, daß das Schriftstück gefälscht, das heißt vollständig ersonnen und erdichtet sei. Das Wahrscheinlichste ist, daß man die Wahrheit irgendwo in der Mitte zu suchen hat. Indessen habe ich schon zu weit vorgegriffen; es wird richtiger sein, zu dem Schriftstück selbst zurückzukehren. Tichon las also folgendes:
Von Stawrogin.
Ich, Nikolai Stawrogin, Offizier außer Dienst, lebte im Jahre 186* in Petersburg und gab mich geschlechtlicher Ausschweifung hin, ohne daß ich an ihr Vergnügen gefunden hätte. Ich hatte damals eine Zeitlang drei Wohnungen. In der einen wohnte ich selbst, in einem Pensionate mit Beköstigung und Bedienung; dort befand sich damals auch Marja Lebjadkina, die jetzt meine rechtmäßige Gattin ist. Die anderen Wohnungen aber mietete ich damals immer auf einen Monat zum Zwecke meiner Liebschaften: in der einen empfing ich eine vornehme Dame, die mich liebte, in der anderen ihre Kammerjungfer, und eine Zeitlang trug ich mich stark mit der Absicht, die beiden so zusammenzubringen, daß sich die gnädige Frau und das Dienstmädchen bei mir träfen. Da ich die beiden Charaktere kannte, so versprach ich mir von diesem Scherze ein großes Vergnügen.
Während ich dieses Zusammentreffen von langer Hand vorbereitete, mußte ich häufiger die eine dieser beiden Wohnungen, in einem großen Hause in der Gorochowaja-Straße, besuchen; denn dahin pflegte jene Kammerjungfer zu kommen. Hier hatte ich nur ein einziges Zimmer im vierten Stock, das ich einer russischen kleinbürgerlichen Familie abgemietet hatte. Die Leute selbst hausten nebenan in einem anderen Zimmer, wo sie es sehr eng hatten, so eng, daß die Verbindungstür immer offenstand, was ich auch wollte. Der Mann arbeitete irgendwo in einem Kontor, ging am Morgen weg und kam erst spät abends wieder nach Hause. Die Frau, die ungefähr vierzig Jahre alt sein mochte, pflegte alte Kleidungsstücke aufzutrennen und zu neuen umzuarbeiten und ging ebenfalls nicht selten aus dem Hause, um die fertige Arbeit wegzutragen. Ich blieb dann allein mit der Tochter der beiden, die noch ganz wie ein Kind aussah. Sie hieß Matroscha. Die Mutter liebte sie, schlug sie aber oft und schrie sie nach Art solcher Weiber heftig an. Dieses Mädchen hatte bei mir die Bedienung zu besorgen und räumte in meinem Zimmer hinter dem Wandschirm auf. Ich erkläre, daß ich die Nummer des Hauses vergessen habe. Jetzt weiß ich auf Grund eingezogener Erkundigungen, daß das alte Haus abgebrochen ist und an Stelle zweier oder dreier früherer Häuser ein neues sehr großes steht. Ebenso habe ich den Familiennamen meiner kleinbürgerlichen Wirtsleute vergessen (vielleicht habe ich ihn auch damals gar nicht gewußt). Ich erinnere mich nur, daß die Wirtin Stepanida und weiter (wie ich glaube) Michailowna hieß. Auf den Namen des Mannes kann ich mich nicht besinnen. Ich nehme an, daß, wenn man eifrig suchen und nach Möglichkeit Nachforschungen bei der Petersburger Polizei anstellen wollte, sich die Spuren der Leute noch würden finden lassen. Die Wohnung lag auf dem Hofe, in einer Ecke. Alles, was ich hier berichte, begab sich im Juni. Das Haus war von hellblauer Farbe.
Eines Tages verschwand von meinem Nachttische ein Federmesser, das ich überhaupt nicht notwendig gebrauchte, und das nur so herumgelegen hatte. Ich sagte es der Wirtin, ohne irgendwie daran zu denken, daß sie die Tochter dafür durchhauen werde. Aber die hatte kurz vorher Matroscha wegen eines abhanden gekommenen Läppchens angefahren, weil sie sie im Verdacht hatte, es entwendet zu haben, und hatte sie sogar an den Haaren gerissen. Als aber dieses selbe Läppchen sich unter dem Tischtuche gefunden hatte, da hatte das Mädchen kein Wort des Vorwurfs gegen die Mutter gesagt und schweigend vor sich hingeblickt. Ich hatte das bemerkt und damals zum ersten Male das Gesicht des Mädchens genauer betrachtet; bis dahin hatte ich es immer nur flüchtig gesehen. Matroscha war hellblond und sommersprossig; ihr Gesicht war von gewöhnlichem Schnitt, hatte aber sehr viel Kindliches und Stilles, außerordentlich Stilles. Der Mutter hatte es mißfallen, daß die Tochter ihr wegen der unverdienten Bestrafung keine Vorwürfe machte, und sie hatte mit der Faust gegen sie ausgeholt, aber nicht zugeschlagen. Und nun kam gerade der Vorfall mit meinem Federmesser hinzu. In der Tat war außer uns dreien niemand dagewesen, und zu mir hinter den Wandschirm kam überhaupt nur das Mädchen. Die Frau wurde wütend, weil sie das Kind das erstemal ungerechterweise gestraft hatte, stürzte zum Besen hin, riß aus ihm ein paar Ruten heraus und peitschte damit das Mädchen vor meinen Augen blutig, obwohl sie schon fast zwölf Jahre alt war. Matroscha schrie während der Züchtigung nicht, wahrscheinlich, weil ich zugegen war; aber sie schluchzte bei jedem Schlage in einer seltsamen Weise. Auch nachher schluchzte sie eine ganze Stunde lang heftig.
Aber vorher hatte sich folgendes zugetragen. Gerade in dem Augenblicke, als die Wirtin zu dem Besen hinstürzte, um ein paar Ruten herauszureißen, fand ich das Federmesser auf meinem Bette, wohin es durch irgendwelchen Zufall vom Nachttische gefallen war. Es schoß mir sofort der Gedanke durch den Kopf, nichts davon zu sagen, damit Matroscha die ihr zugedachten Hiebe erhielte. Mein Entschluß war in einem Augenblick gefaßt; in solcher Situation stockt mir immer der Atem. Aber ich beabsichtige, alles in bestimmteren Ausdrücken zu erzählen, damit nichts mehr verborgen bleibt.
Jede besonders schmachvolle, maßlos demütigende, gemeine und vor allem lächerliche Lage, in die ich in meinem Leben geraten bin, hat bei mir immer nicht nur einen maßlosen Zorn erregt, sondern mir auch einen unglaublichen Genuß bereitet. Ganz dasselbe war der Fall in Augenblicken, wo ich ein Verbrechen beging, und in Augenblicken, wo ich mich in Lebensgefahr befand. Wenn ich etwas gestohlen hätte, so würde ich bei der Ausführung des Diebstahls eine Art von Berauschtheit infolge des Bewußtseins einer schändlichen Gemeinheit empfunden haben. Was ich liebte, war nicht die Gemeinheit (meine Urteilskraft blieb dabei vollkommen heil und gesund), sondern es gefiel mir die Berauschtheit, die durch das qualvolle Bewußtsein meiner Verworfenheit hervorgerufen wurde. Ganz ebenso hatte ich jedesmal, wenn ich an der Barriere stand und auf den Schuß des Gegners wartete, dieselbe schmähliche, wahnsinnige Empfindung, und in einem Falle war sie ganz besonders stark. Ich gestehe, daß ich diese Empfindung oft selbst suchte, weil sie für mich stärker war als alle andern in ihrem Genre. Wenn ich eine Ohrfeige bekam (und das ist mir zweimal in meinem Leben widerfahren), so hatte ich auch dann diese Empfindung, trotz des furchtbaren Zornes. Aber wenn ich dabei den Zorn unterdrückte, so überstieg der Genuß alles, was man sich nur vorstellen kann. Noch nie habe ich zu jemandem darüber gesprochen, auch nicht andeutungsweise, sondern es immer wie etwas Schmähliches, Schändliches geheimgehalten. Aber als ich einmal in einer Petersburger Schenke furchtbar geprügelt und an den Haaren gerissen wurde, da hatte ich diese Empfindung nicht, sondern es packte mich nur, da ich nicht betrunken war, ein gewaltiger Zorn, und ich prügelte mich mit meinen Widersachern herum. Wenn aber im Auslande jener französische Vicomte, der mich auf die Backe schlug, und dem ich dafür den Unterkiefer zerschoß, mich in die Haare gefaßt und niedergedrückt hätte, so würde ich eine Berauschtheit und vielleicht gar keinen Zorn empfunden haben. So schien es mir damals.
Das alles setze ich deshalb auseinander, damit ein jeder wisse, daß dieses Gefühl mich nie vollständig unterjochte, sondern ich immer bei vollstem Bewußtsein blieb (und auf dem Bewußtsein beruhte ja auch alles). Und obgleich dieses Gefühl sich meiner bis zur Unvernunft bemächtigte oder sozusagen bis zum Starrsinn, so doch nie bis zur Selbstvergessenheit. Auch wenn es bei mir vollständig Feuer und Flamme geworden war, war ich dennoch gleichzeitig imstande, es ganz und gar zu bezwingen, ja es auf seinem Gipfelpunkte anzuhalten, nur daß ich es eben niemals anhalten wollte. Ich bin überzeugt, daß ich mein ganzes Leben wie ein Mönch verbringen könnte, trotz der bestialischen Sinnlichkeit, mit der ich begabt bin, und die ich immer selbst aufgereizt habe. Ich bin immer Herr meiner selbst, sobald ich es nur will. So möge man denn wissen, daß ich weder durch Berufung auf das Milieu noch durch Vorschützung von Krankheiten mich von der Verantwortung für mein Verbrechen frei zu machen suche.
Die Züchtigung war zu Ende; ich steckte das Federmesser in die Westentasche, verließ das Haus, ohne ein Wort zu sagen, und warf es, als ich mich sehr weit entfernt hatte, auf die Straße, damit nie jemand etwas davon erführe. Dann wartete ich zwei Tage. Das Mädchen war, nachdem es eine Weile geweint hatte, noch schweigsamer geworden; gegen mich aber hegte sie (davon bin ich überzeugt) kein Gefühl des Grolles. Übrigens schämte sie sich gewiß etwas darüber, daß sie in dieser Weise vor meinen Augen bestraft worden war. Aber auch was dieses Schamgefühl anlangt, maß sie in Kinderart gewiß nur sich allein die Schuld daran bei.
Damals nun, in diesen zwei Tagen, legte ich mir auch einmal die Frage vor, ob ich wohl imstande sei, eine gefaßte Absicht aufzugeben und von ihr wieder abzugehen, und ich fühlte sofort, daß ich das könne, daß ich es jederzeit und auch in diesem Augenblicke könne. Um jene Zeit wollte ich mir das Leben nehmen, weil mir alles in krankhafter Weise gleichgültig war; übrigens weiß ich eigentlich nicht warum. In denselben zwei oder drei Tagen (denn ich mußte unbedingt warten, bis das Mädchen alles vergessen haben würde) beging ich in meiner Pension einen Diebstahl, wahrscheinlich, um mich von den steten Grübeleien abzulenken, oder auch nur zum Spaß. Es war der einzige Diebstahl in meinem Leben.
In dieser Pension nisteten viele Menschen. Unter anderen wohnte dort auch in zwei möblierten Zimmerchen ein Beamter mit seiner Familie; er war etwa vierzig Jahre alt, kein dummer Mensch, hatte ein anständiges Aussehen, war aber arm. Ich war ihm nicht nähergetreten, und vor der Gesellschaft, die mich dort umgab, hatte er Furcht. Er hatte soeben erst sein Gehalt bekommen, im Betrage von fünfunddreißig Rubeln. Mein Hauptbeweggrund war, daß ich tatsächlich in jenem Augenblicke Geld brauchte (allerdings erhielt ich vier Tage darauf welches mit der Post), so daß ich gewissermaßen aus Not und nicht bloß so zum Scherz stahl. Ich ging dabei frech und offen zu Werke: ich trat einfach in seine Wohnung, während seine Frau, seine Kinder und er selbst in dem zweiten Stübchen beim Mittagessen saßen. Dort lag auf einem Stuhle dicht an der Tür, sauber zusammengelegt, sein Uniformrock. Dieser Gedanke war in mir schon, als ich noch auf dem Korridor war, aufgeblitzt. Ich steckte die Hand in die Tasche dieses Rockes und zog das Portemonnaie heraus. Aber der Beamte hatte das Geräusch gehört und schaute aus der Nebenstube heraus. Er hatte meine Handlung, wie ich glaube, sogar gesehen, wenigstens etwas davon; aber da er nicht alles gesehen hatte, so traute er natürlich seinen Augen nicht. Ich sagte, ich sei auf dem Korridor vorbeigekommen und hereingetreten, um auf seiner Wanduhr zu sehen, wie spät es wäre. »Sie steht,« antwortete er, und ich ging hinaus.
Ich hatte mich damals stark dem Trinken ergeben und hatte in der Pension eine ganze Bande um mich, darunter auch Lebjadkin. Das Portemonnaie nebst dem kleinen Gelde warf ich weg, die Banknoten aber behielt ich. Es waren zweiunddreißig Rubel, drei rote und zwei gelbe Scheine. Ich wechselte sogleich einen roten Schein und ließ Champagner holen; nachher machte ich es mit dem zweiten und darauf mit dem dritten roten Scheine ebenso. Nach ungefähr vier Stunden (es war schon Abend) redete mich der Beamte auf dem Korridor, wo er auf mich gewartet hatte, an.
»Haben Sie, Nikolai Wsewolodowitsch, als Sie vorhin zu mir hereinkamen, nicht zufällig meinen Uniformrock vom Stuhle gestoßen ... er lag bei der Tür?«
»Nein, ich erinnere mich nicht; lag denn bei Ihnen ein Uniformrock?«
»Ja, er lag da.«
»Auf dem Fußboden?«
»Zuerst auf dem Stuhle, nachher auf dem Fußboden.«
»Na, haben Sie ihn denn aufgehoben?«
»Ja.«
»Na also, was wollen Sie dann noch?«
»Wenn es so ist, dann ist nichts ...«
Er wagte nicht auszusprechen, was er dachte, wagte auch nicht, es in der Pension jemandem zu erzählen – so schüchtern sind diese Leute. Übrigens hatten in der Pension alle eine schreckliche Furcht und einen gewaltigen Respekt vor mir. Ich liebte es nachher, ihm gerade in die Augen zu sehen, und tat das ein paarmal auf dem Korridor. Aber bald wurde es mir langweilig.
Nach drei Tagen kehrte ich nach der Gorochowaja-Straße zurück. Die Mutter schickte sich eben an, mit einem Bündel fortzugehen; der Mann war selbstverständlich nicht da; so blieb ich denn mit Matroscha allein. Die Fenster waren geöffnet. In diesem Hause wohnten lauter Handwerker, und den ganzen Tag über hörte man aus allen Stockwerken das Klopfen der Hämmer oder die Lieder der Arbeitenden. Wir waren schon etwa eine Stunde lang in der Wohnung zusammen gewesen. Matroscha saß in ihrem Stübchen auf einem Schemel, mir den Rücken zuwendend, und war mit einer Nadelarbeit beschäftigt. Zuletzt fing sie auf einmal leise an zu singen, sehr leise; das machte sie manchmal so. Ich zog die Uhr heraus und sah nach, wie spät es war; es war zwei. Das Herz begann mir heftig zu klopfen. Ich stand auf und schlich zu ihr hin. Sie hatten auf den Fensterbrettern viele Töpfe mit Geranium stehen, und die Sonne schien sehr grell. Ich setzte mich leise neben ihr auf den Fußboden. Sie fuhr zusammen, bekam zuerst einen furchtbaren Schreck und sprang auf. Ich ergriff ihre Hand und küßte sie leise, zog sie wieder auf den Schemel zurück und begann ihr in die Augen zu sehen. Der Umstand, daß ich ihr die Hand geküßt hatte, brachte sie wie ein Kind auf einmal zum Lachen, aber nur eine Sekunde lang; dann sprang sie hastig zum zweiten Male auf, und nun in solcher Angst, daß ihr ein Krampf über das Gesicht lief. Sie sah mich mit erschreckend starren Augen an, und ihre Lippen begannen zu zucken, wie wenn sie in Tränen ausbrechen wollte; aber doch schrie sie nicht auf. Ich küßte ihr wieder die Hand und nahm sie auf meinen Schoß. Da bog sie sich auf einmal mit dem ganzen Leibe von mir weg und lächelte wie verschämt in einer sonderbar gezwungenen Art. Ihr ganzes Gesicht glühte vor Scham. Ich flüsterte ihr wie ein Betrunkener fortwährend etwas zu. Zuletzt begab sich plötzlich etwas ganz Seltsames, was ich nie vergessen werde, und was mich in das größte Erstaunen versetzte: das Mädchen schlang die Arme um meinen Hals und begann auf einmal selbst mich leidenschaftlich zu küssen. Ihr Gesicht drückte das höchste Entzücken aus. Ich wollte schon aufstehen und weggehen, so unangenehm war mir dieses Benehmen des kleinen Geschöpfes: ich fühlte plötzlich mit ihr Mitleid.
Als alles zu Ende war, befand sie sich in großer Aufregung. Ich versuchte nicht, sie zu beruhigen, und liebkoste sie nicht mehr. Sie sah mich, schüchtern lächelnd, an. Ihr Gesicht kam mir auf einmal dumm vor. Ihre Aufregung steigerte sich schnell: sie wurde von einem Augenblicke zum andern stärker. Schließlich bedeckte sie das Gesicht mit den Händen, trat in eine Ecke und blieb dort regungslos stehen, mit dem Gesichte nach der Wand zu. Ich fürchtete, daß sie wieder Angst habe wie vorhin, und verließ schweigend die Wohnung und das Haus.
Ich nehme an, daß alles Vorgefallene ihr schließlich als eine grenzenlose Unanständigkeit erschien, über die sie eine Todesangst empfand. Trotz der russischen Schimpfworte und sonderbaren Gespräche, die sie von frühester Kindheit an gehört haben mußte, bin ich vollkommen davon überzeugt, daß sie vom Geschlechtsverkehr noch nichts verstanden hatte. Gewiß hatte sie jetzt zuletzt die Vorstellung, daß sie ein unerhörtes, todeswürdiges Verbrechen begangen, daß sie »Gott getötet« habe.
In der nächsten Nacht hatte ich in einer Schenke jene Prügelei, die ich schon kurz erwähnt habe. Aber ich erwachte am Morgen in meinem Quartier in der Pension; Lebjadkin hatte mich hingebracht. Mein erster Gedanke nach dem Aufwachen war: ob sie wohl etwas davon gesagt hat? Das war ein Augenblick wirklicher Angst, wiewohl sie noch nicht sehr groß war. Ich war an diesem Morgen sehr vergnügt und gegen alle außerordentlich freundlich, und die ganze Bande war mit mir sehr zufrieden. Aber ich machte mich von ihnen allen los und ging nach der Gorochowaja-Straße. Ich traf Matroscha schon unten im Hausflur. Sie kam von einem Laden, wohin sie geschickt worden war, um Zichorie zu holen. Sobald sie mich erblickte, lief sie in furchtbarer Angst, so schnell sie nur konnte, die Treppe hinauf. Als ich oben ankam, hatte die Mutter ihr schon eine Ohrfeige dafür gegeben, daß sie so »Hals über Kopf« in die Wohnung hereingestürzt war, und dies diente nun dazu, die wahre Ursache ihres Schreckens zu verdecken. So war denn vorläufig alles ruhig. Sie hatte sich irgendwo versteckt und kam die ganze Zeit über, während ich da war, nicht hervor. Ich blieb ungefähr eine Stunde lang da und ging dann wieder weg.
Am Abend hatte ich wieder ein Angstgefühl, das aber schon unvergleichlich viel stärker war. Allerdings konnte ich leugnen; aber man konnte mich überführen, und es schwante mir etwas vom Zuchthause. Ich habe sonst nie Angst gehabt und habe mich, von diesem Falle abgesehen, nie vor etwas gefürchtet, weder vorher noch nachher. Namentlich auch nicht vor Sibirien, obwohl ich mehr als einmal hätte dorthin verschickt werden können. Diesmal aber war ich doch in Furcht und empfand, ich weiß nicht warum, zum erstenmal in meinem Leben tatsächlich Angst, eine recht qualvolle Empfindung. Außerdem begann ich am Abend, als ich in meinem Quartier in der Pension war, Matroscha dermaßen zu hassen, daß ich den Entschluß faßte, sie zu töten. Am ärgsten wurde mein Haß bei der Erinnerung an ihr Lächeln. Eine Verachtung, die sich mit maßlosem Ekel paarte, wuchs in mir heran, hervorgerufen durch die Art, wie sie, nachdem alles geschehen, in die Ecke gestürzt war und das Gesicht mit den Händen bedeckt hatte; es ergriff mich eine unsagbare Wut; darauf folgte ein Frostschauer, und als sich gegen Morgen Fieberhitze einstellte, bemächtigte sich meiner wieder die Angst, aber nun eine so starke Angst, daß ich nie eine größere Qual kennen gelernt habe. Aber hassen tat ich das Mädchen nun nicht mehr, wenigstens nicht bis zu dem sinnlos hohen Grade wie am Abend. Ich habe die Beobachtung gemacht, daß eine starke Angst den Haß und die Rachsucht vollständig vertreibt.
Ich erwachte gegen Mittag, fühlte mich gesund und wunderte mich sogar über die Stärke meiner gestrigen Empfindungen. Indessen war ich übler Laune; ich hielt es für notwendig, wieder nach der Gorochowaja-Straße zu gehen, trotz all meines Widerwillens. Ich erinnere mich, daß ich damals die größte Lust hatte, unterwegs mit irgend jemand Streit zu bekommen, aber nur einen ernsthaften Streit. Als ich aber nach der Gorochowaja-Straße kam, fand ich zu meiner Überraschung in meinem Zimmer Nina Saweljewna, jene Kammerjungfer, vor, die schon etwa eine Stunde lang auf mich gewartet hatte. Dieses Mädchen liebte ich gar nicht, so daß sie selbst ein bißchen Angst hatte, ich könnte wegen ihres unverlangten Besuches auf sie böse werden. Aber ich freute mich vielmehr plötzlich, sie zu sehen. Sie war ein hübsches Mädchen, aber sehr bescheiden und hatte Manieren, wie sie bei Leuten des kleinbürgerlichen Standes Wohlgefallen erregen, so daß meine Wirtin sich mir gegenüber schon früher oft lobend über dieses Mädchen ausgesprochen hatte. Ich traf die beiden beim Kaffeetrinken und sah, daß meine Wirtin über die angenehme Unterhaltung, die sie gehabt hatte, sehr vergnügt war. In einer Ecke des Stübchens der Wirtsleute bemerkte ich Matroscha. Sie stand da, ohne sich zu rühren, und sah ihre Mutter und die Besucherin starr an. Bei meinem Eintritt versteckte sie sich nicht wie das vorige Mal und lief nicht weg. Es schien mir nur, daß sie sehr abgemagert sei, und daß sie Fieberhitze habe. Ich behandelte Nina freundlich und machte die Verbindungstür zu, was ich lange nicht getan hatte, so daß Nina beim Weggehen sehr erfreut war. Ich begleitete sie selbst hinaus und kehrte nun zwei Tage lang nicht mehr nach der Gorochowaja-Straße zurück. Ich war der Sache schon überdrüssig geworden. Ich beschloß, mit allem ein Ende zu machen, die Wohnung zu kündigen und von Petersburg wegzuziehen.
Aber als ich hinkam, um die Wohnung zu kündigen, fand ich die Wirtin in großer Aufregung und Betrübnis: Matroscha war schon seit zwei Tagen krank; jede Nacht fieberte und phantasierte sie. Selbstverständlich fragte ich, wovon sie denn phantasiere (wir sprachen miteinander flüsternd in meinem Zimmer); die Wirtin flüsterte mir zu, sie phantasiere von »graulichen Dingen«; sie sage, sie habe »Gott getötet«. Ich bot ihr an, auf meine Kosten einen Arzt kommen zu lassen; aber das wollte sie nicht: »So Gott will, wird es auch so vorübergehen; sie liegt ja auch nicht immer zu Bett; bei Tage geht sie aus; sie ist eben erst nach dem Laden hinuntergelaufen.« Ich beschloß, es so einzurichten, daß ich Matroscha allein träfe, und da die Wirtin zufällig geäußert hatte, sie müsse um fünf Uhr nach der Peterburgskaja gehen, so nahm ich mir vor, am Abend wiederzukommen.
Ich aß in einem Restaurant zu Mittag. Pünktlich um ein Viertel auf sechs kehrte ich zurück. Ich schloß die Wohnung immer mit einem eigenen Schlüssel auf. Es war niemand außer Matroscha da. Sie lag in dem Stübchen der Wirtsleute hinter einem Wandschirm auf dem Bette ihrer Mutter, und ich sah, wie sie von dort hervorblickte; aber ich tat, als ob ich es nicht merkte. Alle Fenster waren geöffnet. Die Luft war warm, sogar heiß. Ich ging in meinem Zimmer eine Weile auf und ab und setzte mich dann auf das Sofa. Ich erinnere mich an alles, was sich bis zum letzten Augenblicke zutrug. Es machte mir entschieden Vergnügen, kein Gespräch mit Matroscha anzufangen, sondern sie zu quälen, ich weiß nicht warum. Ich wartete eine ganze Stunde, und auf einmal sprang sie selbst hinter dem Wandschirm hervor. Ich hörte, wie ihre beiden Füße auf den Fußboden aufstießen, als sie aus dem Bette sprang; dann hörte ich ziemlich schnelle Schritte, und sie stand auf der Schwelle meines Zimmers. Sie stand da und sah mich schweigend an. Ich bekenne meine Gemeinheit: mein Herz zitterte vor Freude darüber, daß ich meine Rolle durchgeführt und gewartet hatte, bis sie selbst den ersten Schritt tun würde. In diesen Tagen, in denen ich sie seit jener Zeit kein einziges Mal aus der Nähe gesehen hatte, war sie tatsächlich furchtbar mager geworden. Ihr Gesicht sah wie vertrocknet aus, und der Kopf war ihr sicherlich glühend heiß.
Die Augen waren groß geworden und blickten mich starr an, mit einer stumpfen Neugier, wie es mir anfangs vorkam. Ich saß da, sah sie an und rührte mich nicht. Und da empfand ich auf einmal wieder einen Haß gegen sie. Aber sehr bald merkte ich, daß sie sich gar nicht vor mir fürchtete, sondern vielleicht eher in einem Fieberwahn befangen war. Aber auch das letztere war nicht der Fall. Sie fing auf einmal an, mir wiederholt mit dem Kopfe zuzunicken, in der Weise, wie naive, manierlose Menschen zu nicken pflegen, wenn sie jemandem starke Vorwürfe machen; und auf einmal hob sie ihre kleine Faust gegen mich in die Höhe und begann von dem Platze aus, wo sie stand, mir zu drohen. Im ersten Augenblick kam mir diese Bewegung komisch vor; aber lange konnte ich es nicht ertragen. Auf ihrem Gesichte prägte sich eine solche Verzweiflung aus, wie man sie auf dem Gesichte eines Kindes nicht hätte für möglich halten sollen. Sie schwang immer noch drohend ihre kleine Faust gegen mich und nickte immer noch vorwurfsvoll. Ich stand auf, näherte mich ihr voller Angst und redete sie vorsichtig mit leiser, freundlicher Stimme an; aber ich merkte, daß sie mich nicht verstand. Dann bedeckte sie plötzlich hastig ihr Gesicht mit beiden Händen, gerade wie damals, ging von mir weg und stellte sich, mir den Rücken zuwendend, ans Fenster. Ich verstehe schlechterdings nicht, warum ich damals nicht wegging, sondern dablieb, als ob ich auf etwas wartete. Bald darauf hörte ich wieder ihre eiligen Schritte; sie trat durch die Tür auf eine hölzerne Galerie hinaus, von der man auch auf einer Treppe nach unten gelangen konnte; ich lief sogleich zu meiner Tür, öffnete sie ein wenig und sah noch, wie Matroscha in eine winzige, einem Hühnerstalle ähnliche Rumpelkammer ging, die neben einem gewissen anderen Orte gelegen war. Ein sehr interessanter Gedanke blitzte in meinem Kopfe auf. Ich begreife bis auf den heutigen Tag nicht, warum er das erste war, das mir plötzlich in den Sinn kam: »Also darauf«, sagte ich mir, »ist die Sache hinausgelaufen.« Ich machte die Tür zu und setzte mich wieder ans Fenster. Natürlich konnte ich dem Gedanken, der mir durch den Kopf gegangen war, noch nicht völlig Glauben schenken; »aber doch ...« (Ich erinnere mich an alles; das Herz klopfte mir heftig.)
Nach einer Minute sah ich auf meine Uhr und stellte möglichst genau die Zeit fest. Wozu ich diese Genauigkeit der Zeitbestimmung nötig hatte, weiß ich nicht; aber ich war imstande dies zu tun und wollte überhaupt in jenem Augenblicke alles wahrnehmen und mir merken. So erinnere ich mich denn jetzt an alles Wahrgenommene und sehe es vor mir, als ob es sich eben zutrüge. Der Abend rückte heran. Über mir summte eine Fliege und setzte sich mir immer auf das Gesicht. Ich fing sie, hielt sie eine Weile in den Fingern und ließ sie dann aus dem Fenster. Mit großem Gepolter kam unten ein Bauernwagen auf den Hof gefahren. Sehr laut (und zwar schon seit längerer Zeit) sang ein Handwerker, ein Schneider, in einer Ecke des Hofes am Fenster ein Lied. Er saß bei seiner Arbeit, und ich konnte ihn sehen. Es kam mir der Gedanke: da mir niemand begegnet sei, als ich ins Tor hereinkam und die Treppe heraufstieg, so sei es natürlich sehr möglich, daß mir auch jetzt niemand begegne, wenn ich nach unten hinabstiege, und ich rückte vorsichtig meinen Stuhl vom Fenster weg, damit mich die Hausbewohner nicht sähen. Ich nahm ein Buch in die Hand, warf es aber gleich wieder hin und begann eine winzig kleine rote Spinne auf einem Geraniumblatte zu betrachten. Ich wußte kaum von mir selbst. Ich erinnere mich an alles, was bis zum letzten Augenblick geschah.
Ich zog wieder die Uhr heraus. Es waren zwanzig Minuten vergangen, seit sie hinausgegangen war. Meine Vermutung nahm die Gestalt der Wahrscheinlichkeit an. Aber ich beschloß, noch genau eine Viertelstunde zu warten. Es kam mir auch der Gedanke in den Kopf, ob sie nicht vielleicht zurückgekommen sei und ich es überhört hätte; aber das war ein Ding der Unmöglichkeit; es herrschte Totenstille, und ich konnte das Summen jeder Fliege hören. Auf einmal fing mir wieder das Herz heftig an zu klopfen. Ich zog die Uhr heraus: es fehlten noch drei Minuten; ich saß sie noch ab, obgleich mein Herz so klopfte, daß es mir weh tat. Dann stand ich auf, setzte den Hut auf den Kopf, knöpfte den Paletot zu und sah mich im Zimmer um, ob auch keine Spuren meiner Anwesenheit zurückgeblieben seien. Den Stuhl rückte ich näher ans Fenster heran, so wie er vorher gestanden hatte. Endlich öffnete ich leise die Tür, schloß sie mit meinem Schlüssel zu und ging zu der Rumpelkammer. Die Tür derselben war herangezogen, aber nicht verschlossen; ich wußte, daß sie sich überhaupt nicht verschließen ließ; aber ich wollte sie nicht öffnen, sondern hob mich auf die Zehen und sah durch die obere Ritze. In diesem selben Augenblicke, als ich mich auf die Zehen hob, fiel mir ein, daß damals, als ich am Fenster saß und die rote Spinne betrachtete und kaum von mir selbst wußte, mir der Gedanke gekommen war, wie ich mich auf die Zehen heben und mit dem Auge bis an diese Ritze heranreichen würde. Indem ich diese Einzelheit hierher setze, will ich unbedingt beweisen, bis zu welchem Grade der Klarheit ich meiner geistigen Fähigkeiten mächtig war, und daß ich für alles die Verantwortung trage. Ich blickte lange durch die Ritze, weil es dort dunkel war; indes war es doch nicht ganz dunkel, so daß ich schließlich sah, was ich hatte sehen wollen ...
Endlich entschloß ich mich zum Weggehen. Ich begegnete niemandem auf der Treppe. Drei Stunden darauf tranken wir alle in der Pension in Hemdsärmeln Tee und spielten mit alten Karten; Lebjadkin las seine Gedichte vor. Es wurde vieles erzählt, und es traf sich so, daß es lauter witzige, komische Sachen waren, nicht so dummes Zeug wie sonst immer. Auch Kirillow war damals zugegen. Alkoholisches trank niemand, obgleich eine Flasche Rum dastand; Lebjadkin war der einzige, der ihr seine Verehrung bezeigte.
Prochor Malow machte die Bemerkung, wenn Nikolai Wsewolodowitsch zufrieden sei und sich nicht der Hypochondrie überlasse, so seien von unserer Gesellschaft auch alle übrigen vergnügt und sprächen verständig. Dieser Ausspruch prägte sich mir gleich damals ein; also muß ich doch vergnügt, zufrieden und nicht hypochondrisch gewesen sein. So sah es aus. Aber ich erinnere mich, daß ich mir sagte: meine Freude über meine Befreiung beweist, daß ich ein niedriger, gemeiner Feigling bin und nie mehr ein anständiger Mensch sein werde.
Aber schon um elf Uhr kam das Töchterchen des Hausknechtes aus der Gorochowaja-Straße zu mir gelaufen und brachte mir von meiner Wirtin die Nachricht, daß Matroscha sich erhängt habe. Ich ging mit dem Kinde hin und sah, daß die Mutter selbst nicht wußte, warum sie zu mir geschickt hatte. Sie heulte und gebärdete sich wild; es war viel Volks da, auch Polizei. Ich blieb eine Weile und ging dann wieder weg.
Man behelligte mich die ganze Zeit über so gut wie gar nicht; jedoch wurden mir die erforderlichen Fragen vorgelegt. Aber ich sagte nichts weiter aus, als daß das Mädchen krank gewesen sei und phantasiert habe, so daß ich meinerseits mich erboten hätte, auf meine Kosten einen Arzt kommen zu lassen. Auch wegen des Federmessers wurde ich befragt; ich sagte, die Wirtin habe ihre Tochter durchgehauen; aber dieser Vorfall habe keine weitere Bedeutung gehabt. Davon, daß ich am Abend hingekommen war, wußte niemand etwas.
Ungefähr eine Woche lang ging ich nicht wieder dorthin. Erst als sie schon längst begraben war, tat ich es, um die Wohnung zu übergeben. Die Wirtin weinte immer noch, obgleich sie schon wieder wie früher mit ihrem Lappenkram und ihrer Näherei beschäftigt war. »Ich habe ihr wegen Ihres Federmessers gar zu weh getan,« sagte sie zu mir, aber ohne großen Vorwurf. Als Grund für mein Ausziehen gab ich an, ich könne jetzt unmöglich in einer solchen Wohnung bleiben, um darin Nina Saweljewna zu empfangen. Sie lobte diese noch einmal zum Abschiede. Beim Weggehen schenkte ich ihr fünf Rubel über die Summe hinaus, die ich ihr für die Wohnung schuldig war.
Die Hauptsache war, daß mich das Leben dermaßen langweilte, daß ich beinah stumpfsinnig wurde. Den Vorfall in der Gorochowaja-Straße würde ich, nachdem die Gefahr vorbei war, wie alle meine damaligen Erlebnisse ganz vergessen haben, wenn ich mich nicht längere Zeit mit Ingrimm daran erinnert hätte, wie feige ich mich benommen hatte.
Ich ließ meinen Ingrimm an jedem aus, bei dem es möglich war. In jener Zeit, aber keineswegs aus irgendwelchem konkreten Grunde, kam mir auch der Gedanke, mein Leben irgendwie zu verunstalten, aber nur auf eine möglichst widerwärtige Weise. Ich hatte schon ein Jahr vorher daran gedacht, mich zu erschießen; jetzt bot sich mir ein besseres Auskunftsmittel dar.
Als ich einmal die lahme Marja Timofejewna Lebjadkina ansah, die bei uns in unseren Stuben zum Teil die Aufwartung besorgte und damals noch nicht verrückt, sondern nur eine verzückte Idiotin und im geheimen sinnlos in mich verliebt war (was unsere Leute herausgebracht hatten), da faßte ich auf einmal den Entschluß, sie zu heiraten. Die Idee einer Ehe Stawrogins mit einem so niedrigstehenden Wesen kitzelte meine Nerven. Etwas Garstigeres konnte man sich überhaupt nicht vorstellen. Aber jedenfalls ließ ich mich mit ihr nicht etwa nur »infolge einer nach Tische in trunkenem Zustande eingegangenen Wette« trauen. Als Trauzeugen fungierten Kirillow und Peter Werchowenski, der sich damals gerade in Petersburg befand, ferner Lebjadkin selbst und Prochor Malow, der jetzt schon tot ist. Weiter hat niemand jemals etwas davon erfahren; diese vier aber gaben mir das Wort zu schweigen. Dieses Schweigen ist mir immer als etwas Schmähliches erschienen; aber es ist bisher nicht gebrochen worden, obgleich ich die Absicht hatte, die Ehe bekanntzugeben; jetzt gebe ich sie mit dem übrigen zusammen bekannt.
Nach der Trauung fuhr ich damals in die Provinz zu meiner Mutter. Ich tat das zu meiner Zerstreuung. In unserer Stadt hinterließ ich von mir die Vorstellung, daß ich verrückt sei, eine Vorstellung, die selbst jetzt noch nicht geschwunden ist und mir zweifellos schadet, worauf ich weiter unten noch zurückkommen werde. Dann fuhr ich ins Ausland und blieb da vier Jahre.
Ich war im Orient, auf dem Berge Athos, wo ich Abendgottesdienste von achtstündiger Dauer aushielt; ich war in Ägypten, hielt mich in der Schweiz auf und war sogar in Island; ein ganzes Jahr lang studierte ich in Göttingen. Im letzten Jahre wurde ich sehr befreundet mit einer vornehmen russischen Familie in Paris und mit zwei jungen Russinnen in der Schweiz. Als ich vor zwei Jahren in Frankfurt an einer Papierhandlung vorbeiging, bemerkte ich unter den Photographien im Schaufenster das Bildchen eines kleinen Mädchens, das ein elegantes Kinderkostüm trug, aber eine große Ähnlichkeit mit Matroscha hatte. Ich kaufte das Bildchen sogleich und legte es, als ich ins Hotel zurückgekehrt war, auf den Kaminsims. Dort lag es ungefähr eine Woche lang herum, ohne daß ich es auch nur ein einziges Mal angerührt hätte, und als ich aus Frankfurt abreiste, vergaß ich, es mitzunehmen.
Ich führe das namentlich an, um zu zeigen, bis zu welchem Grade ich die Herrschaft über meine Erinnerungen hatte und gegen sie unempfindlich geworden war. Ich wies sie alle zusammen in Bausch und Bogen zurück, und die ganze Masse verschwand jedesmal gehorsam, sobald ich das nur wollte. Es ist mir immer langweilig gewesen, der Vergangenheit zu gedenken; auch habe ich nie von der Vergangenheit reden mögen, wie das fast alle Menschen tun; ich mochte das um so weniger, da sie mir, wie alles auf mich Bezügliche, verhaßt war. Was aber Matroscha anlangt, so vergaß ich sogar ihr Bildchen auf dem Kaminsims. Als ich im vorigen Jahre, im Frühling, durch Deutschland reiste1, fuhr ich in der Zerstreutheit durch die Station durch, wo ich auf meine Route hätte abbiegen sollen, und geriet auf eine falsche Linie. Man veranlaßte mich auf der folgenden Station zum Aussteigen; es war zwischen zwei und drei Uhr nachmittags und ein klarer Tag. Es war ein kleines deutsches Städtchen. Man wies mich nach einem Gasthause. Ich mußte warten: der nächste Zug ging erst um elf Uhr nachts. Ich war mit diesem Abenteuer sogar ganz zufrieden, weil ich keine besondere Eile hatte, irgendwohin zu kommen. Das Gasthaus erwies sich als ein elendes, kleines Ding, lag aber ganz im Grünen und war ringsum von Blumenbeeten umgeben. Man gab mir ein enges Zimmerchen. Ich aß recht gut zu Mittag, und da ich die ganze Nacht unterwegs gewesen war, so schlief ich nach Tische, um vier Uhr nachmittags, wunderschön ein.
Ich hatte einen Traum, der mich völlig überraschte, weil ich dergleichen noch nie geträumt hatte. In Dresden in der Gemäldegalerie befindet sich ein Bild von Claude Lorrain, das im Katalog, wenn mir recht ist, »Acis und Galatea« heißt; ich aber hatte es immer »Das goldene Zeitalter« genannt, ich weiß selbst nicht warum. Ich hatte es auch früher schon gesehen, und nun, vor drei Tagen auf der Durchreise, hatte es wieder meine Aufmerksamkeit erregt. Ich war sogar expreß hingegangen, um es zu betrachten, und hatte vielleicht nur um seinetwillen den Abstecher nach Dresden gemacht. Dieses Bild also sah ich im Traume, aber nicht als Bild, sondern als Wirklichkeit.
Es war ein abgelegener Ort des griechischen Archipels: blaue, freundliche Wellen, Inseln und Felsen, ein blumiges Gestade, ein zauberhaftes Panorama in der Ferne, eine prachtvoll untergehende Sonne – es läßt sich mit Worten nicht schildern. Hier hat die Wiege der europäischen Menschheit gestanden, wie diese sich zu erinnern glaubt; hier haben die ersten Szenen der Mythologie gespielt; hier war das irdische Paradies der Menschheit ... Hier lebten schöne Menschen. Glücklich und unschuldig standen sie morgens auf und schliefen sie abends ein; die Haine erschollen von ihren fröhlichen Liedern; der große Überschuß unversehrter Kräfte wurde auf Liebe und harmlose Freude verwendet. Die Sonne überflutete diese Inseln und dieses Meer mit ihren Strahlen und freute sich über ihre schönen Kinder. Ein wundervoller Traum, ein edler Irrtum! Diese Träumerei ist die unwahrscheinlichste von allen, die es gegeben hat; aber für diese Träumerei hat die ganze Menschheit ihr ganzes Leben lang alle ihre Kräfte hingegeben; für sie hat sie alles geopfert; für sie haben sich ihre Propheten abgemüht und sich ans Kreuz schlagen lassen; ohne sie wollen die Völker nicht leben, und ohne sie können sie nicht einmal sterben. Und dieses ganze Gefühl durchlebte ich in diesem Traume; ich weiß nicht, was mir eigentlich träumte; aber die Felsen und das Meer und die schrägen Strahlen der untergehenden Sonne, das alles glaubte ich noch zu sehen, als ich erwachte und die Augen öffnete, die mir zum ersten Mal in meinem Leben tatsächlich von Tränen feucht waren. Das Gefühl einer mir bisher unbekannten Glückseligkeit zog durch mein ganzes Herz, das davon ordentlich einen Schmerz empfand. Es war schon ganz Abend geworden; in das Fenster meines kleinen Zimmers drang durch die Blätter der auf dem Fensterbrette stehenden Blumen ein ganzes Bündel heller, schräger Strahlen der untergehenden Sonne und übergoß mich mit Licht. Ich schloß schleunigst die Augen wieder, wie in dem heißen Verlangen, den entschwundenen Traum wieder zurückzurufen; aber auf einmal glaubte ich mitten in dem hellen, hellen Lichte einen winzigen Punkt zu sehen. Dieser Punkt nahm plötzlich Gestalt an, und auf einmal stand mir in aller Deutlichkeit eine winzige rote Spinne vor Augen. Ich erinnerte mich sofort des Tierchens auf dem Geraniumblatte, als die Strahlen der untergehenden Sonne in derselben Weise ins Zimmer drangen. Es war mir, als ob ich einen Stich bekäme; ich richtete mich auf und setzte mich auf dem Bette hin ...
(So begab sich das alles damals!)
Ich sah sie vor mir! (Oh, nicht mit wirklichen Augen! Wäre es doch eine richtige Vision gewesen!) Ich sah Matroscha, abgemagert und mit fieberhaft brennenden Augen, genau so wie damals, als sie bei mir auf der Schwelle stand, mir mit dem Kopfe zunickte und ihre kleine Faust gegen mich erhob. Und nie ist mir etwas so qualvoll erschienen! Die jammervolle Verzweiflung eines hilflosen Wesens mit unentwickeltem Verstande, das mir drohte (womit? was konnte sie mir tun, o Gott!), dabei aber doch nur sich selbst die Schuld beimaß! Noch nie war mir etwas Ähnliches begegnet. Ich saß so bis zur Nacht, ohne mich zu bewegen und ohne auf die Zeit zu achten. Ob man das Gewissensbisse oder Reue nennt, weiß ich nicht und könnte ich bis auf den heutigen Tag nicht sagen. Unerträglich ist mir aber nur dieses eine Bild, Matroscha auf der Schwelle mit der drohend gegen mich erhobenen kleinen Faust, nur diese ihre damalige Erscheinung, nur der damalige Augenblick, nur das Nicken mit dem Kopfe. Das, gerade das ist es, was ich nicht ertragen kann, und es tritt mir seitdem fast täglich vor Augen. Es tritt mir nicht von selbst vor Augen, sondern ich selbst rufe es hervor und muß es hervorrufen, obgleich es mir das Leben zur Qual macht. O, wenn ich sie doch nur einmal mit wirklichen Augen sehen könnte, sei es auch nur in einer Halluzination!
Warum erregt denn keine der anderen Erinnerungen meines Lebens bei mir eine ähnliche Empfindung? Und doch hatte ich viele solcher Erinnerungen, vielleicht sogar solche, die ein Gerichtshof von Menschen noch für weit schlimmer erachten würde. Aber sie erwecken bei mir höchstens Haß, und auch der wird nur durch meine jetzige Lage hervorgerufen, während ich früher all so etwas kaltblütig vergaß und von mir wies.
Ich zog nachher fast ein ganzes Jahr lang wie ein Nomade umher und suchte mich zu beschäftigen. Ich weiß, daß ich auch jetzt imstande wäre, Matroscha von mir fernzuhalten, wenn ich es wollte. Ich bin wie früher vollständig Herr meines Willens. Aber die Sache ist eben die, daß ich selbst es nie habe tun wollen, es nicht tun will und nicht werde tun wollen. Und so wird das bleiben, bis ich einmal den Verstand verliere.
In der Schweiz machte ich zwei Monate darauf einen Anfall derselben Leidenschaft mit einem ebenso wilden Ausbruche durch, wie das nur früher in der ersten Zeit der Fall gewesen war. Ich fühlte eine furchtbare Versuchung zu einem neuen Verbrechen, nämlich Bigamie zu begehen (denn ich war schon verheiratet); aber ich entfloh der Versuchung auf den Rat eines anderen jungen Mädchens, dem ich fast alles gestand und sogar, daß ich diejenige, die ich so sehr begehrte, gar nicht liebte, und daß ich nie jemand wirklich lieben könne. – Zudem würde dieses neue Verbrechen mich niemals von Matroscha befreit haben.
So habe ich mich denn entschlossen, diese Bogen drucken zu lassen und sie in dreihundert Exemplaren in Rußland einzuführen; sobald der richtige Zeitpunkt gekommen sein wird, werde ich sie der Polizei und der lokalen Obrigkeit zusenden; gleichzeitig werde ich sie an die Redaktionen aller Zeitungen schicken mit der Bitte um Veröffentlichung, sowie auch an eine Menge von Persönlichkeiten in Petersburg und im übrigen Rußland, die mich kennen. Gleichermaßen werden sie im Auslande in Übersetzung erscheinen. Ich weiß, daß ich gerichtlich vielleicht gar nicht werde behelligt werden, wenigstens nicht in erheblichem Maße; ich bin mein einziger Denunziant und habe keinen Ankläger; außerdem sind keine oder doch nur außerordentlich wenige Beweise vorhanden. Dazu noch die festgewurzelte Meinung von meiner Geistesstörung und sicherlich die Bemühungen meiner Verwandten, die nicht verfehlen werden, diese Meinung auszunutzen und jede gerichtliche Untersuchung, die mir gefährlich werden könnte, zu unterdrücken. Das setze ich unter anderm in der Absicht auseinander, zu zeigen, daß ich jetzt bei vollem Verstande bin und meine Lage richtig beurteile. Aber es bleiben mir noch diejenigen, die alles wissen werden und auf mich schauen werden, so wie auch ich auf sie. Ich will, daß alle auf mich schauen. Ob mir das eine Erleichterung bringen wird, das weiß ich nicht. Es ist dies das letzte Mittel, zu dem ich meine Zuflucht nehme.
Noch einmal: wenn man bei der Petersburger Polizei gehörig nachforscht, so wird man vielleicht alles feststellen können. Sehr möglich, daß das kleinbürgerliche Ehepaar auch jetzt noch in Petersburg lebt. Auf das Haus werden sich gewiß noch viele Leute besinnen. Es war hellblau. Ich aber werde nirgends hinreisen und mich einige Zeit (etwa ein oder zwei Jahre) dauernd in Skworeschniki, dem Gute meiner Mutter, aufhalten. Sollte ich vorgeladen werden, so werde ich überall erscheinen.
Nikolai Stawrogin.
Fußnoten
1 Die nachfolgende Geschichte von dem Bilde hat Dostojewski nachher in den »Werdejahren« III 7,2 verwertet.
Anmerkung des Übersetzers.