Das Haus, nach welchem Nikolai Wsewolodowitsch hinging, stand in einer öden Gasse zwischen Zäunen, hinter denen sich Gemüsegärten hinzogen, buchstäblich am äußersten Rande der Stadt. Es war ein ganz einzeln stehendes kleines Holzhaus, das eben erst gebaut und noch nicht mit Brettern verkleidet war. An einem Fenster waren die Läden absichtlich nicht geschlossen, und auf dem Fensterbrette stand ein Licht, offenbar um dem heute erwarteten späten Gaste als Leuchtfeuer zu dienen. Als Nikolai Wsewolodowitsch noch dreißig Schritte entfernt war, unterschied er die vor der Haustür stehende Gestalt eines hochgewachsenen Mannes, wahrscheinlich des Bewohners, der ungeduldig herausgetreten war, um den Weg entlang zu sehen. Nun ließ sich auch seine ungeduldige und anscheinend schüchterne Stimme vernehmen.
»Sind Sie es? Ja?«
»Ja, ich bin es,« antwortete Nikolai Wsewolodowitsch, aber erst als er ganz bis zur Haustür gelangt war und seinen Schirm zumachte.
»Endlich!« sagte der Hauptmann Lebjadkin (denn dieser war es), der nun geschäftig hin und her zu treten begann und sich sehr eifrig zeigte. »Ich bitte um Ihren Schirm; er ist ganz naß; ich werde ihn hier auf der Diele in der Ecke aufspannen. Bitte näherzutreten, bitte näherzutreten.«
Die Tür, die vom Flur in das von zwei Kerzen erleuchtete Zimmer führte, stand weit offen.
»Wenn Sie nicht Ihr Wort darauf gegeben hätten, bestimmt zu kommen, so hätte ich Sie nicht mehr erwartet.«
»Dreiviertel auf eins,« sagte Nikolai Wsewolodowitsch nach einem Blick auf seine Uhr und trat ins Zimmer.
»Und dabei dieser Regen und die weite Entfernung ... Eine Uhr habe ich nicht, und vom Fenster aus sehe ich nur Gemüsegärten, so daß ich ganz von der Kultur abgeschnitten bin ... Aber ich mache Ihnen keinen Vorwurf; das wage ich nicht, das wage ich nicht; ich sage es nur, weil mich diese ganze Woche lang die Ungeduld verzehrt hat; man möchte doch endlich wissen, wie sich die Sache entscheidet.«
»Was meinen Sie?«
»Ich möchte mein Schicksal hören, Nikolai Wsewolodowitsch. Bitte nehmen Sie Platz!«
Er wies mit einer Verbeugung nach einem Sofa, vor dem ein Tischchen stand.
Nikolai Wsewolodowitsch blickte sich um; das Zimmer war sehr klein und niedrig; es befanden sich nur die notwendigsten Möbel darin: ein paar hölzerne Stühle und ein hölzernes Sofa, sämtlich ebenfalls neu gearbeitet, ohne Überzüge und ohne Kissen, zwei Tische von Lindenholz, einer beim Sofa, der andere in der Ecke; der letztere war mit einem Tischtuche gedeckt und mit irgendwelchen Dingen vollgestellt, über welche eine ganz reine Serviette gebreitet war. Auch das ganze Zimmer war anscheinend höchst sauber gehalten. Der Hauptmann Lebjadkin hatte sich schon seit acht Tagen nicht betrunken; sein Gesicht war etwas aufgedunsen und sah gelb aus; sein Blick war unruhig, neugierig und offenbar unsicher; man konnte deutlich merken, daß er selbst noch nicht wußte, in welchem Tone er reden durfte, und welchen er am vorteilhaftesten von vornherein anschlagen konnte.
»Sehen Sie,« sagte er, rings umherzeigend, »ich lebe wie der heilige Sosima. Nüchternheit, Einsamkeit und Armut, das Gelübde der alten Ritter.«
»Meinen Sie, daß die alten Ritter ein solches Gelübde ablegten?«
»Vielleicht irre ich mich? Ich besitze leider keine Bildung! Ich bin geistig verkrüppelt! Können Sie es glauben, Nikolai Wsewolodowitsch: hier bin ich zum erstenmal von schmählichen Leidenschaften losgekommen, – kein Gläschen, kein Tropfen! Ich habe meinen stillen Winkel und empfinde schon seit sechs Tagen die Glückseligkeit eines guten Gewissens. Sogar die Wände riechen nach Harz und erinnern dadurch an die freie Natur. Und was war ich vorher, wie stand es mit mir?
›Keine Ruh und Rast am Tage,
Keine Lagerstatt bei Nacht,‹
nach dem genialen Ausdruck des Dichters! Aber ... Sie sind so durchnäßt ... Ist Ihnen vielleicht Tee gefällig?«
»Bemühen Sie sich nicht!«
»Der Samowar hat seit acht Uhr gesiedet, aber nun ist er erloschen ... wie alles in der Welt. Auch die Sonne, sagt man, wird seinerzeit erlöschen ... Übrigens kann ich ihn, wenn es nötig ist, wieder in Gang bringen lassen. Agafja schläft noch nicht.«
»Sagen Sie, ist Marja Timofejewna ...«
»Sie ist hier, sie ist hier,« fiel Lebjadkin sogleich flüsternd ein. »Belieben Sie, sie zu sehen?« Er wies auf die zugemachte Tür, die nach dem andern Zimmer führte.
»Schläft sie nicht?«
»O nein, nein, wie wäre das möglich? Sie erwartet Sie schon von Beginn des Abends an, und sowie sie vorhin erfuhr, daß Sie kommen würden, hat sie sogleich Toilette gemacht.« Er wollte den Mund zu einem scherzhaften Lächeln verziehen, hielt aber sofort damit wieder inne.
»Wie geht es ihr im allgemeinen?« fragte Nikolai Wsewolodowitsch mit finsterer Miene.
»Im allgemeinen? Das wissen Sie ja selbst« (er zuckte bedauernd mit den Schultern); »jetzt aber ... jetzt sitzt sie und legt sich Karten ...«
»Gut, nachher; zunächst muß ich die Sache mit Ihnen erledigen.«
Nikolai Wsewolodowitsch setzte sich auf einen Stuhl.
Der Hauptmann hatte noch nicht gewagt, sich auf das Sofa zu setzen; nun zog er sich sogleich einen anderen Stuhl heran und beugte sich in unruhiger Erwartung vor, um zu hören.
»Was haben Sie denn da in der Ecke unter der Serviette?« fragte Nikolai Wsewolodowitsch, der plötzlich darauf aufmerksam geworden war.
»Was das ist?« versetzte Lebjadkin. »Das ist von Ihrer freigebigen Spende beschafft worden, um sozusagen den Einzug in die neue Wohnung zu feiern, auch in Anbetracht Ihres weiten Weges und der natürlichen Müdigkeit,« kicherte er gerührt; dann stand er auf, ging auf den Zehen hin und nahm respektvoll und behutsam die Serviette von dem Tischchen ab.
Es wurde darunter ein bereitstehender kalter Imbiß sichtbar: Schinken, Kalbsbraten, Sardinen, Käse, eine kleine, grünliche Karaffe und eine hohe Flasche Bordeaux; alles war sauber, mit Sachkenntnis und sogar geschmackvoll arrangiert.
»Haben Sie sich diese Mühe gemacht?«
»Jawohl, ich. Schon gestern, und ich habe getan, was ich konnte, um Ehre einzulegen ... Marja Timofejewna kümmert sich, wie Sie selbst wissen, um solche Dinge nicht. Aber die Hauptsache ist, daß es von Ihrer freigebigen Spende beschafft worden ist; es ist Ihr Eigentum, so daß Sie hier der Wirt sind und nicht ich; ich bin sozusagen nur Ihr Verwalter; aber dennoch, Nikolai Wsewolodowitsch, bin ich, was meinen Geist anlangt, unabhängig! Nehmen Sie mir nicht dieses Letzte, was ich habe!« schloß er gerührt.
»Hm! ... Wollen Sie sich nicht wieder hinsetzen?«
»Ich bin dankbar, ja dankbar, und unabhängig!« (Er setzte sich). »Ach, Nikolai Wsewolodowitsch, in diesem Herzen kochte so viel, daß ich Ihre Ankunft gar nicht erwarten konnte! Entscheiden Sie jetzt mein Schicksal und ... und das jener Unglücklichen; und dann ... dann werde ich Ihnen, wie oftmals früher, in alten Zeiten, mein ganzes Herz ausschütten, wie vor vier Jahren. Sie erwiesen mir damals die Ehre, mich anzuhören, und lasen meine Verse ... Mochten Sie mich damals auch Ihren Falstaff aus dem Shakespeare nennen; aber Sie haben in meinem Schicksal eine so bedeutende Rolle gespielt! ... Ich lebe jetzt in großer Angst, und Sie sind der einzige, von dem ich Rat und Belehrung erwarte. Peter Stepanowitsch geht schrecklich mit mir um!«
Nikolai Wsewolodowitsch hörte mit lebhaftem Interesse zu und blickte ihn aufmerksam an. Offenbar befand sich der Hauptmann Lebjadkin, obwohl er aufgehört hatte zu trinken, doch bei weitem nicht in einem harmonischen Gemütszustande. Bei solchen langjährigen Trinkern setzt sich zuletzt für immer eine gewisse Verworrenheit, Benommenheit, Verdrehtheit fest, obwohl sie es übrigens nötigenfalls fast ebenso gut wie andere Leute fertigbringen, jemanden hinters Licht zu führen, zu betrügen und zu begaunern.
»Ich sehe, daß Sie sich in diesen mehr als vier Jahren gar nicht verändert haben, Hauptmann,« sagte Nikolai Wsewolodowitsch etwas freundlicher. »Man sieht allerdings, daß die ganze zweite Hälfte des menschlichen Lebens sich gewöhnlich nur aus den Gewohnheiten zusammensetzt, die sich in der ersten Hälfte angesammelt haben.«
»Das sind goldene Worte! Sie lösen da das Rätsel des Lebens!« rief der Hauptmann, halb aus Schlauheit, zur Hälfte aber auch in wirklichem, ungekünsteltem Entzücken, da er ein großer Freund pointierter Ausdrücke war. »Von allen Ihren Aussprüchen, Nikolai Wsewolodowitsch, erinnere ich mich ganz besonders an einen, den Sie taten, als Sie noch in Petersburg waren: ›Man muß wirklich ein großer Mensch sein, um auch gegen den gesunden Menschenverstand ankämpfen zu können.‹ So war es!«
»Nun, ich hätte ebenso gut auch sagen können: ›ein Dummkopf‹.«
»Nun ja, meinetwegen auch ein Dummkopf; aber Sie haben Ihr ganzes Leben lang mit scharfsinnigen Bemerkungen um sich gestreut; und diese Menschen? Da soll mal Liputin, da soll mal Peter Stepanowitsch einen ähnlichen Ausspruch tun! Oh, wie grausam ist Peter Stepanowitsch mit mir umgegangen!«
»Aber Sie, Hauptmann, wie haben Sie selbst sich denn aufgeführt?«
»Ich habe der Trunksucht gefrönt, und dazu hatte ich eine Unmenge von Feinden! Aber jetzt liegt das alles, alles hinter mir, und ich häute mich wie eine Schlange. Nikolai Wsewolodowitsch, wissen Sie wohl, daß ich mein Testament mache, und daß ich es schon aufgesetzt habe?«
»Das ist ja interessant. Was hinterlassen Sie denn, und wem hinterlassen Sie es?«
»Dem Vaterlande, der Menschheit und den Studenten. Nikolai Wsewolodowitsch, ich habe in den Zeitungen die Lebensbeschreibung eines Amerikaners gelesen. Er hinterließ sein ganzes kolossales Vermögen den Fabriken und den positiven Wissenschaften, sein Skelett den Studenten einer dortigen Universität, und mit seiner Haut sollte eine Trommel bezogen und auf dieser Tag und Nacht die amerikanische Nationalhymne getrommelt werden. Aber wir sind leider Pygmäen im Vergleich mit dem hohen Gedankenfluge der nordamerikanischen Staaten. Rußland ist ein Spiel der Natur, aber nicht des Verstandes. Wenn ich versuchen wollte, meine Haut beispielsweise dem Akmolinschen Infanterieregimente, bei welchem ich die Ehre hatte meine militärische Laufbahn zu beginnen, zu einer Trommel zu hinterlassen, unter der Bedingung, daß täglich darauf vor dem Regimente die Nationalhymne getrommelt werde, so würde man das für Liberalismus halten und eine solche Benutzung meiner Haut inhibieren; und daher beschränke ich mich auf die Studenten. Ich will mein Skelett der Universität vermachen, aber nur unter der Bedingung, daß an der Stirn desselben für alle Zeit ein Etikett angeklebt wird mit der Aufschrift: ›Ein reuiger Freidenker.‹ Ja, so ist das.«
Der Hauptmann sprach mit großer Lebhaftigkeit und glaubte natürlich selbst an die Schönheit seines amerikanischen Testamentes; aber er war auch schlau und wünschte sehr, Nikolai Wsewolodowitsch, bei dem er früher lange Zeit die Stellung eines Narren innegehabt hatte, zum Lachen zu bringen. Aber dieser lächelte nicht, sondern fragte vielmehr mit einem gewissen Mißtrauen:
»Sie beabsichtigen also wohl, Ihr Testament noch bei Ihren Lebzeiten zu publizieren, um eine Belohnung dafür zu erhalten?«
»Ach, wenn sich das nur so machte, Nikolai Wsewolodowitsch, wenn sich das nur so machte!« sagte Lebjadkin, sein Gegenüber vorsichtig betrachtend. »Was habe ich für ein trauriges Schicksal! Ich habe sogar aufgehört, Verse zu schreiben; und früher einmal haben doch auch Sie, Nikolai Wsewolodowitsch, sich über meine Verse amüsiert, erinnern Sie sich wohl noch, bei der Flasche? Aber meine Feder ruht jetzt. Ich habe nur noch ein Gedicht geschrieben, wie Gogol seine ›Letzte Erzählung‹; Sie erinnern sich wohl, er verkündete dem ganzen Rußland, sie sei seiner Brust ›entströmt‹. So habe auch ich dieses Gedicht verfaßt und damit Schluß gemacht.«
»Was denn für ein Gedicht?«
»Die Überschrift lautet: ›Wenn sie sich das Bein bräche‹.«
»Wa-as?«
Darauf hatte der Hauptmann nur gewartet. Seine Gedichte bewunderte und schätzte er über alle Maßen; aber infolge einer schlauen Zweiteiligkeit seiner Seele hatte er zugleich seine Freude daran gehabt, daß Nikolai Wsewolodowitsch sich oft über seine Verse amüsierte und manchmal so darüber lachte, daß er sich die Seiten halten mußte. Auf diese Weise erreichte er zwei Ziele, ein dichterisches und ein geschäftliches; aber jetzt hatte er noch ein drittes, besonderes, sehr heikles Ziel: der Hauptmann beabsichtigte, indem er die Verse aufmarschieren ließ, sich hinsichtlich eines Punktes zu rechtfertigen, in betreff dessen er für sich ganz besondere Befürchtungen hegte und sich für besonders schuldig hielt.
»›Wenn sie sich das Bein bräche‹, das heißt bei einem Spazierritt. Es ist eine Phantasie, Nikolai Wsewolodowitsch, ein Hirngespinst, aber das Hirngespinst eines Dichters. Als ich einmal einer Reiterin begegnete, überraschte mich ihr Anblick, und ich legte mir die materielle Frage vor: ›was würde dann geschehen?‹ nämlich in jenem Falle. Die Sache ist klar: alle Verehrer würden sich zurückziehen, alle Bewerber würden über Nacht verschwinden; nur der Dichter mit dem zerquetschten Herzen in der Brust würde treu bleiben. Nikolai Wsewolodowitsch, sogar eine Laus darf verliebt sein; auch der ist es durch kein Gesetz verboten. Und doch fühlte die betreffende Person sich durch meinen Brief und durch meine Verse beleidigt. Sogar Sie sollen ärgerlich geworden sein; ist dem so? Das wäre schmerzlich; ich wollte es gar nicht glauben! Nun, wem hätte ich denn durch dieses Produkt meiner Einbildungskraft schaden können? Außerdem versichere ich Ihnen mit meinem Ehrenworte, daß mich Liputin dazu angestiftet hatte. ›Schicke es ab, schicke es ab!‹ sagte er. ›Jeder Mensch hat das Recht, Briefe zu schreiben‹; und so schickte ich es denn ab.«
»Sie haben sich ja wohl als Bräutigam angeboten?«
»Feinde, Feinde, nichts als Feinde!«
»Nun, dann sagen Sie Ihre Verse!« unterbrach ihn Nikolai Wsewolodowitsch verdrossen.
»Es ist ein Hirngespinst, ein Hirngespinst; das muß ich hervorheben.«
Indessen, er richtete sich gerade, streckte die Hand aus und begann:
»Ein Bein die schöne Reit'rin brach,
Was ihren Reiz nur noch vermehrte,
Und doppelt liebte sie danach
Er, der schon stets sie hoch verehrte.«
»Nun genug!« sagte Nikolai Wsewolodowitsch und winkte ihm ab.
»Ich träume von Petersburg,« rief Lebjadkin mit schnellem Übergange zu einem anderen Gegenstande, als ob von Versen nie die Rede gewesen wäre. »Ich träume von einer Auferstehung ... Mein Wohltäter! Darf ich darauf rechnen, daß Sie mir die Mittel zur Reise nicht abschlagen werden? Ich habe die ganze Woche über auf Sie gewartet wie auf die Sonne.«
»Nein, entschuldigen Sie mich; ich habe fast gar keine Geldmittel übrig. Und weshalb sollte ich Ihnen auch Geld geben?«
Nikolai Wsewolodowitsch schien auf einmal ärgerlich zu werden. Mit kurzen, trockenen Worten zählte er alle Übeltaten des Hauptmanns auf: seine Trunksucht, seine Lügen, die Vergeudung des für Marja Timofejewna bestimmten Geldes, daß er sie aus dem Kloster herausgenommen hatte, seine frechen Briefe mit der Drohung, ein Geheimnis zu veröffentlichen, sein Benehmen gegen Darja Pawlowna usw. usw. Der Hauptmann bog sich hin und her, gestikulierte, begann etwas zu erwidern; aber Nikolai Wsewolodowitsch hielt ihn jedesmal gebieterisch zurück.
»Und erlauben Sie,« bemerkte er endlich, »Sie schreiben immer von ›Familienschande‹. Was liegt für Sie darin für eine Schande, daß Ihre Schwester mit Stawrogin in legitimer Form verheiratet ist?«
»Aber es ist eine heimliche Ehe, Nikolai Wsewolodowitsch, eine heimliche Ehe, ein verhängnisvolles Geheimnis. Ich empfange von Ihnen Geld, und da fragt man mich: ›Wofür ist dieses Geld?‹ Ich bin gebunden und kann darauf nicht antworten, zum Schaden meiner Schwester und zum Schaden der Familienehre.«
Der Hauptmann erhob die Stimme; er liebte dieses Thema und hatte fest darauf gerechnet. O weh, er ahnte nicht, welche schreckliche Nachricht ihm bevorstand. Ruhig und bestimmt, als ob es sich um die alltäglichste häusliche Angelegenheit handelte, teilte ihm Nikolai Wsewolodowitsch mit, daß er in den nächsten Tagen, vielleicht schon morgen oder übermorgen, seine Ehe im ganzen Orte bekannt zu machen gedenke, »sowohl der Polizei als auch der Gesellschaft«; damit werde sich die Frage der Familienehre und zugleich auch die Frage der Subsidien ganz von selbst erledigen. Der Hauptmann riß die Augen auf: er verstand gar nicht; es mußte ihm erst noch einmal erläutert werden.
»Aber sie ist ja ... nur halb bei Verstande?«
»Ich werde die erforderlichen Anordnungen treffen.«
»Aber ... was wird Ihre Mutter dazu sagen?«
»Nun, mag sie sagen, was sie will.«
»Aber werden Sie denn Ihre Gattin in Ihr Haus einführen?«
»Vielleicht auch das. Übrigens ist das absolut nicht Ihre Sache und geht Sie gar nichts an.«
»Wieso geht mich das nichts an?« rief der Hauptmann. »Und wie ist's mit mir?«
»Nun, Sie werden selbstverständlich nicht in mein Haus kommen.«
»Aber ich bin ja doch ein Verwandter?«
»Solche Verwandten hält man fern. Wozu sollte ich Ihnen dann noch Geld geben? Überlegen Sie sich das nur selbst!«
»Nikolai Wsewolodowitsch, Nikolai Wsewolodowitsch, das ist unmöglich; Sie werden sich das vielleicht noch überlegen; Sie werden nicht selbst Hand an sich legen wollen ... Was wird die vornehme Welt davon denken, dazu sagen?«
»Ich fürchte mich auch wohl sehr vor Ihrer vornehmen Welt! Ich habe damals Ihre Schwester geheiratet, als mir die Lust ankam, nach einem Diner mit vielem Wein, infolge einer Wette, und jetzt werde ich es laut veröffentlichen ... wenn mir das jetzt Freude macht.«
Er sagte das in besonders gereiztem Tone, so daß Lebjadkin in seiner Angst zu glauben anfing.
»Aber ich, ich bin ja doch dabei die Hauptsache! ... Sie scherzen vielleicht, Nikolai Wsewolodowitsch?«
»Nein, ich scherze nicht.«
»Nehmen Sie es nicht übel, Nikolai Wsewolodowitsch, aber ich kann es nicht glauben ... Dann habe ich eine Bitte an Sie.«
»Sie sind furchtbar dumm, Hauptmann.«
»Mag sein; aber es bleibt mir ja nichts anderes übrig!« erwiderte der Hauptmann total verwirrt. »Früher gaben mir die Leute für die Dienstleistungen meiner Schwester wenigstens eine Unterkunft in ihren elenden Wohnungen; aber was wird jetzt aus mir werden, wenn Sie Ihre Hand ganz von mir abziehen?«
»Sie wollen ja nach Petersburg fahren und Ihre Karriere wechseln. Apropos, ist das wahr, ich habe gehört, Sie hätten die Absicht, zum Zwecke einer Denunziation hinzureisen, in der Hoffnung, Verzeihung zu erlangen, wenn Sie alle andern angäben?«
Der Hauptmann öffnete den Mund, riß die Augen auf und antwortete nicht.
»Hören Sie mal, Hauptmann,« begann auf einmal Stawrogin außerordentlich ernst, indem er sich zu dem Tische vorbeugte. Er hatte bis dahin gewissermaßen zweideutig gesprochen, so daß Lebjadkin, der sich in die Rolle eines Narren eingelebt hatte, bis zum letzten Augenblicke immer noch ein wenig ungläubig gewesen war: ob sein Herr wirklich ärgerlich sei oder nur Spaß mache, ob er wirklich die böse Absicht habe, die Ehe zu veröffentlichen, oder nur scherze. Jetzt aber war Nikolai Wsewolodowitschs ungewöhnlich strenge Miene so überzeugend, daß dem Hauptmann sogar ein Schauer über den Rücken lief. »Hören Sie mal, sagen Sie die Wahrheit, Lebjadkin: haben Sie eine Denunziation eingereicht oder noch nicht? Haben Sie wirklich schon etwas getan? Haben Sie vielleicht in Ihrer Dummheit einen Brief abgeschickt?«
»Nein, ich habe noch nichts getan, und ... ich habe auch gar nicht daran gedacht,« erwiderte der Hauptmann, starr vor sich hinblickend.
»Nun, daß Sie nicht daran gedacht hätten, das lügen Sie. Deswegen erbaten Sie sich ja auch das Reisegeld nach Petersburg. Wenn Sie nicht geschrieben haben, haben Sie nicht hier zu jemand so etwas geschwatzt? Sagen Sie die Wahrheit; ich habe etwas gehört.«
»In betrunkenem Zustande, zu Liputin. Liputin ist ein Verräter. Ich habe ihm mein Herz ausgeschüttet,« flüsterte der arme Hauptmann.
»Ach was, Herz! Man darf kein Dummkopf sein. Wenn Sie einen solchen Gedanken hatten, so mußten Sie ihn für sich behalten; heutzutage schweigen verständige Menschen und plaudern nicht.«
»Nikolai Wsewolodowitsch,« begann der Hauptmann zitternd; »Sie selbst sind ja an nichts beteiligt gewesen; gegen Sie kann ich ja nichts ...«
»Ihre Melkkuh würden Sie ja natürlich nicht zu denunzieren wagen.«
»Nikolai Wsewolodowitsch, urteilen Sie selbst, urteilen Sie selbst! ...«
Und nun erzählte der Hauptmann in heller Verzweiflung und unter Tränen hastig, wie es ihm in den ganzen letzten vier Jahren ergangen war. Es war die alberne Geschichte eines Dummkopfes, der sich in eine Sache, die nicht für ihn paßte, eingelassen und infolge seiner Trunksucht und seines Bummellebens den Ernst derselben bis zum letzten Augenblicke kaum begriffen hatte. Er erzählte, er habe sich schon in Petersburg anfangs einfach aus Freundschaft, wie ein richtiger Student, obwohl er kein Student gewesen sei, hinreißen lassen und, ohne etwas davon zu verstehen, »in aller Unschuld« allerlei Papiere auf den Treppen ausgestreut, dutzendweis an den Türen und Klingeln hinterlassen, statt der Zeitungen hindurchgeschoben, ins Theater mitgenommen, dort in die Hüte hineingetan und den Leuten in die Taschen gesteckt. Dann habe er auch angefangen, Geld von ihnen anzunehmen; »denn mit meinen Mitteln war es gar zu kläglich bestellt!« In zwei Gouvernements habe er in den einzelnen Kreisen »allen möglichen Schund« verbreitet.
»Oh, Nikolai Wsewolodowitsch!« rief er aus. »Am meisten war ich darüber empört, daß dies den bürgerlichen Gesetzen und namentlich den vaterländischen Gesetzen durchaus zuwiderlief! Da stand auf diesen Blättern plötzlich gedruckt, die Bauern sollten mit Heugabeln ausziehen und nicht vergessen, daß, wer am Morgen arm ausziehe, am Abend als reicher Mann nach Hause zurückkehren könne, – nun denken Sie einmal an! Ich selbst zitterte dabei, aber ich verbreitete die Blätter. Oder es waren da auf einmal fünf, sechs Zeilen an ganz Rußland, in denen es ohne Weiteres hieß: ›Schließt schnell die Kirchen, schafft Gott ab, hebt die Ehen auf, vernichtet das Erbrecht, ergreift die Messer!‹ und weiß der Teufel was sonst noch. Mit diesem fünfzeiligen Blatte wäre es mir beinah schlimm gegangen; denn bei einem Regimente prügelten mich die Offiziere durch; indes ließen sie mich noch laufen, Gott lohne es ihnen! Und im vorigen Jahre wäre ich beinah abgefaßt worden, als ich Fünfzigrubelscheine französischen Fabrikats an Korowajew ablieferte; aber Gott sei Dank, Korowajew ertrank damals gerade in betrunkenem Zustande in einem Teiche, und da konnten sie mir nichts beweisen. Hier bei Wirginski verkündigte ich die Freiheit der sozialistischen Frau. Im Juni habe ich wieder im Kreise B*** Flugblätter verbreitet. Sie sagen, sie werden mich noch weiter dazu zwingen ... Peter Stepanowitsch teilt mir auf einmal mit, ich müsse gehorchen; er droht mir schon lange. Und wie hat er mich damals am Sonntag behandelt! Nikolai Wsewolodowitsch, ich bin ein Sklave, ein Wurm, aber kein Gott; nur dadurch unterscheide ich mich von Derschawin1. Aber mit meinen Mitteln ist es gar zu kläglich bestellt!«
Nikolai Wsewolodowitsch hatte aufmerksam zugehört.
»Vieles davon habe ich nicht gewußt,« sagte er. »Mit Ihnen konnten sie natürlich alles mögliche anfangen ... Hören Sie,« fuhr er nach kurzer Überlegung fort, »wenn Sie wollen, so sagen Sie ihnen doch (ich meine denjenigen, mit denen Sie da bekannt sind), Liputin hätte gelogen, und Sie hätten, in der Annahme, daß ich ebenfalls kompromittiert sei, mich nur durch eine Denunziation einschüchtern wollen, um auf diese Weise von mir mehr Geld herauszuquetschen ... Verstehen Sie?«
»Nikolai Wsewolodowitsch, Täubchen, droht mir wirklich von jenen Menschen Gefahr? Ich habe nur darum so ungeduldig auf Sie gewartet, um Sie danach zu fragen.«
Nikolai Wsewolodowitsch lächelte.
»Nach Petersburg wird man Sie allerdings nicht reisen lassen, auch wenn ich Ihnen das Reisegeld gäbe ... Übrigens, es ist Zeit, daß ich zu Marja Timofejewna gehe.«
Er stand vom Stuhle auf.
»Nikolai Wsewolodowitsch, wie ist es aber mit Marja Timofejewna?«
»So, wie ich Ihnen gesagt habe.«
»Ist das wirklich wahr?«
»Glauben Sie es immer noch nicht?«
»Werden Sie mich wirklich wegwerfen wie einen alten abgetragenen Stiefel?«
»Ich werde einmal sehen,« erwiderte Nikolai Wsewolodowitsch lachend. »Nun, lassen Sie mich zu ihr!«
»Befehlen Sie nicht, daß ich mich vor die Haustür stelle, ... damit ich nicht unversehens etwas mit anhöre ... denn die Zimmer sind sehr klein.«
»Das ist richtig; stellen Sie sich vor die Haustür! Nehmen Sie meinen Schirm!«
»Ihren Schirm? ... Ist der nicht zu schade für mich?« fragte der Hauptmann süßlich.
»Jeder Mensch ist einen Regenschirm wert.«
»Da haben Sie in knappster Form das Minimum der Menschenrechte definiert ...«
Aber er redete nur noch mechanisch; er war durch diese Nachrichten zu sehr niedergedrückt und vollständig aus der Fassung geraten. Und dennoch begann fast in demselben Augenblicke, als er vor die Haustür trat und den Schirm aufspannte, sich in seinem leichtsinnigen, schlauen Kopfe wieder der stets beruhigend wirkende Gedanke Bahn zu brechen, daß man ihn zu überlisten suche und ihn belüge, und daß, wenn dem so sei, er sich nicht zu fürchten brauche, sondern die andern vor ihm Furcht hätten.
»Wenn sie lügen und mich zu überlisten suchen, warum tun sie es dann eigentlich?« diese Frage ging ihm durch den Kopf. Die Veröffentlichung der Ehe erschien ihm als eine Albernheit. »Allerdings ist bei diesem seltsamen Menschen alles möglich; er lebt nur, um anderen Leuten zu schaden. Aber wie, wenn er sich selbst fürchtet, nach dem Affront vom Sonntag, und sich so fürchtet wie sonst noch niemals? Da kommt er nun hergelaufen, um zu versichern, daß er es selbst veröffentlichen werde, aus Furcht, daß ich es veröffentliche. Ei, ei, schieße keinen Bock, Lebjadkin! Und warum kommt er heimlich bei Nacht, während er doch selbst die Publikation wünscht? Wenn er sich aber fürchtet, so hat sich diese Furcht jetzt eingestellt, gerade jetzt, gerade vor einigen Tagen ... Ei, ei, tu nur keinen falschen Schritt, Lebjadkin! ...«
»Er schreckt mich mit Peter Stepanowitsch. O weh, das ist schlimm; o weh, das ist schlimm; ja, das ist wirklich sehr schlimm! Mußte mich auch der Teufel plagen, zu Liputin zu schwatzen! Weiß der Teufel, was diese nichtswürdigen Kerle vorhaben; ich bin nie so recht daraus klug geworden. Nun haben sie wieder ihre Organisation geändert wie vor fünf Jahren. Es ist wahr: an wen sollte ich eine Denunziation einreichen? ›Haben Sie auch nicht in Ihrer Dummheit an jemand geschrieben?‹ Hm! Also kann ich doch schreiben, unter dem Scheine der Dummheit? Gibt er mir vielleicht damit einen Rat? ›Dies ist die Absicht, in der Sie nach Petersburg fahren wollen.‹ Der Schurke! mir hat nur davon geträumt, und da hat er auch schon meinen Traum erraten! Es klingt, als ob er mich selbst zu der Reise veranlassen wollte. Da sind sicherlich zwei Möglichkeiten, eine oder die andere: entweder fürchtet er wieder einmal für sich selbst, weil er einen dummen Streich gemacht hat, oder ... oder er fürchtet für sich selbst nichts und möchte mich nur dazu veranlassen, alle anderen zu denunzieren! Ach, es ist ein schlimmes Ding, Lebjadkin; ach, schieße nur ja keinen Bock! ...«
Er war so nachdenklich geworden, daß er längere Zeit sogar das Horchen vergaß. Übrigens hatte das Horchen auch seine Schwierigkeit; die Tür war dick und einflügelig, und sie sprachen sehr leise; es drangen nur undeutliche Laute heraus. Der Hauptmann spuckte ärgerlich aus, nachdem er vergeblich etwas zu erlauschen versucht hatte, und ging wieder hinaus, um nachdenklich vor der Haustür zu pfeifen.
Fußnoten
1 Derschawin sagt in seiner Ode »Gott« (1784): »Ich bin ein Fürst, ein Sklav, ein Wurm, ein Gott!«
Anmerkung des Übersetzers.