Zwei Tage nach dem soeben erzählten Ereignisse begegnete ich ihr in einer zahlreichen Gesellschaft, die in drei Wagen fuhr und von Reitern umgeben war. Sie winkte mich mit der Hand heran, ließ den Wagen halten und bat mich dringend, ich möchte mich doch der Gesellschaft anschließen. In der Equipage fand sich ein Platz für mich; sie stellte mich lachend ihren Begleiterinnen, reich gekleideten Damen, vor und erklärte mir, sie begäben sich alle auf eine außerordentlich interessante Expedition. Sie lachte laut und schien überaus glücklich zu sein. In der letzten Zeit hatte sich ihrer eine an Ausgelassenheit grenzende Fröhlichkeit bemächtigt. Das Unternehmen war in der Tat exzentrisch: alle wollten sich über den Fluß nach dem Hause des Kaufmanns Sewastjanow begeben, bei dem in einem Nebengebäude schon seit etwa zehn Jahren in Ruhe, Zufriedenheit und Behaglichkeit unser gottbegnadeter Prophet Semjon Jakowlewitsch lebte, der nicht nur bei uns, sondern auch in den angrenzenden Gouvernements und sogar in den Hauptstädten wohlbekannt war. Alle möglichen Leute, namentlich Fremde, besuchten ihn, um aus seinem Munde ein ihm von Gott eingegebenes Wort zu hören, ihm ihre Verehrung zu bezeigen und eine Geldspende zu opfern. Die mitunter sehr beträchtlichen Opfergaben wurden, wenn Semjon Jakowlewitsch nicht sofort selbst darüber verfügte, frommerweise einer Kirche überwiesen, vorzugsweise unserem Bogorodski-Kloster; zu diesem Zwecke hatte das Kloster die Einrichtung getroffen, daß beständig ein Mönch bei Semjon Jakowlewitsch Dienst hatte. Alle erwarteten ein großes Amüsement. Keiner von dieser Gesellschaft hatte bisher Semjon Jakowlewitsch gesehen. Nur Ljamschin war früher einmal bei ihm gewesen und erzählte jetzt, dieser habe befohlen, ihn mit einem Besen wegzujagen, und ihm eigenhändig zwei große gekochte Kartoffeln nachgeworfen. Unter den Reitern bemerkte ich auch Peter Stepanowitsch, wieder auf einem gemieteten Kosakenpferde, auf dem er sich sehr schlecht hielt, und Nikolai Wsewolodowitsch, ebenfalls zu Pferde. Dieser schloß sich manchmal von den gemeinsamen Vergnügungen nicht aus, zeigte bei solchen Gelegenheiten immer, wie es der Anstand gebot, eine heitere Miene, redete aber wie früher nur selten und nur wenig. Als die Kavalkade auf dem abwärtsführenden Wege sich der Brücke näherte und zu einem Gasthause gelangte, machte jemand plötzlich die Mitteilung, daß in einem Logierzimmer des Gasthauses soeben ein Fremder gefunden sei, der sich erschossen habe; man warte jetzt auf die Polizei. Sofort wurde der Gedanke ausgesprochen, man solle sich den Selbstmörder ansehen. Dieser Gedanke wurde beifällig aufgenommen: unsere Damen hatten noch nie einen Selbstmörder gesehen. Ich erinnere mich, daß eine derselben sogleich laut äußerte, alles sei schon so langweilig geworden, daß man keine Zerstreuung von der Hand weisen dürfe, wenn sie nur interessant sei. Nur wenige blieben vor der Haustür und warteten; die übrigen betraten in dichtem Schwarme den unsauberen Flur, und unter ihnen erblickte ich zu meiner Verwunderung auch Lisaweta Nikolajewna. Das Zimmer des Selbstmörders stand offen, und natürlich wagte niemand, uns den Eintritt zu verwehren. Es war ein noch sehr junger Mensch, etwa neunzehnjährig, jedenfalls nicht älter, von sehr hübschem Äußeren, mit vollem, blondem Haar, regelmäßiger, ovaler Gesichtsbildung und reiner, schöner Stirn. Er war schon starr geworden, und sein blasses Gesicht sah aus wie aus Marmor gemeißelt. Auf dem Tische lag ein von ihm geschriebener Zettel, man möge niemandem die Schuld an seinem Tode beimessen; er habe sich erschossen, weil er vierhundert Rubel »verjeudet« habe. Das Wort »verjeudet« stand so auf dem Zettel; in den vier Zeilen, die derselbe enthielt, steckten drei orthographische Fehler. Neben dem Toten stand ächzend und stöhnend ein dicker Gutsbesitzer, der wohl in der Heimat desselben sein Nachbar sein mochte, in eigenen Geschäften nach der Stadt gekommen war und in einem anderen Zimmer logierte. Aus seinen Mitteilungen war zu entnehmen, daß der junge Mensch von seiner Familie, das heißt von seiner verwitweten Mutter, seinen Schwestern und Tanten, aus ihrem Dorfe nach der Stadt geschickt war, um unter der Leitung einer in der Stadt lebenden Verwandten verschiedene Einkäufe für die Aussteuer der ältesten Schwester zu machen, die sich demnächst verheiraten wollte, und die Sachen nach Hause zu bringen. Sie hatten ihm vierhundert Rubel anvertraut, die sie sich in Jahrzehnten zusammengespart hatten, bei seiner Abreise vor Angst gestöhnt, ihm endlose Ermahnungen mit auf den Weg gegeben, viel für ihn gebetet und unzählige Male das Zeichen des Kreuzes über ihn gemacht. Der junge Mensch war bisher wohlgesittet gewesen und hatte die besten Hoffnungen erweckt. Als er vor drei Tagen in die Stadt gekommen war, hatte er sich bei seiner Verwandten nicht blicken lassen, sondern war in dem Gasthause abgestiegen und geradeswegs in einen Klub gegangen, in der Hoffnung, in einem Hinterzimmer einen von auswärts zugereisten Bankhalter oder wenigstens ein Pochspiel zu finden. Aber Poch wurde an diesem Abend nicht gespielt; es war auch kein Bankhalter da. Erst gegen Mitternacht war er in sein Zimmer zurückgekehrt, hatte sich Champagner und Havannazigarren geben lassen und sich ein Abendessen von sechs oder sieben Gängen bestellt. Aber von dem Champagner war er betrunken geworden, und die Zigarren hatten ihm Übelkeit erregt, so daß er die aufgetragenen Speisen nicht angerührt, sondern sich beinah bewußtlos schlafen gelegt hatte. Als er am andern Tage aufgewacht war, hatte er sich frisch und munter gefühlt und sich sogleich zu einer jenseits des Flusses in der Vorstadt lagernden Zigeunerhorde begeben, von der er tags zuvor im Klub gehört hatte, und hatte sich im Gasthause zwei Tage lang nicht sehen lassen. Gestern war er endlich um fünf Uhr nachmittags erschienen, hatte sich sogleich hingelegt und bis zehn Uhr abends geschlafen. Als er aufgewacht war, hatte er sich ein Kotelett, eine Flasche Château Yquem und Weintrauben, sowie Papier, Feder und Tinte geben lassen. Niemand hatte an ihm etwas Besonderes bemerkt; er war ruhig, still und freundlich gewesen. Wahrscheinlich hatte er sich schon um Mitternacht erschossen, obwohl sonderbarerweise niemand den Schuß gehört hatte; man war erst heute mittag darauf aufmerksam geworden, daß von dem jungen Manne nichts zu sehen und zu hören war, und hatte nach vergeblichem Klopfen die Tür aufgebrochen. Die Flasche Château Yquem war zur Hälfte geleert, der Teller mit Weintrauben war ebenfalls noch halb voll. Der Schuß war aus einem kleinen dreiläufigen Revolver abgefeuert worden und gerade ins Herz gegangen. Blut war nur sehr wenig herausgeflossen; der Revolver war ihm aus der Hand auf den Teppich gefallen. Der junge Mann saß halbliegend in der Sofaecke. Der Tod mußte augenblicklich eingetreten sein; auf dem Gesichte war nichts von Todeskampf zu bemerken; der Ausdruck desselben war ruhig, beinah glücklich, wie wenn er lebte. Die Unsrigen betrachteten den Toten alle mit lebhafter Neugier. Überhaupt liegt in jedem Unglück des Nächsten immer etwas, was ein fremdes Auge erfreut; das trifft für jeden Menschen zu. Unsere Damen schwiegen während dieser Besichtigung des Selbstmörders; ihre Begleiter aber suchten sich durch scharfsinnige Bemerkungen und besondere Geistesgegenwart hervorzutun. Einer äußerte, dies sei der beste Ausweg gewesen, und etwas Verständigeres habe der junge Mann überhaupt nicht ersinnen können; ein anderer hob hervor, daß er wenigstens eine kurze Zeit einmal gut gelebt habe. Ein dritter warf plötzlich die Frage auf, woher es nur komme, daß das sich Erhängen und sich Erschießen bei uns so häufig werde; gerade als ob die Menschen von ihren Wurzeln abgesägt seien, gerade als ob ihnen allen der Boden unter den Füßen wegglitte! Den, der so philosophierte, sah man unfreundlich an. Dafür mauste Ljamschin, der es sich zur Ehre anrechnete, die Rolle des Narren zu spielen, eine Weintraube vom Teller; nach ihm tat ein zweiter lachend dasselbe, und ein dritter streckte schon die Hand nach dem Château Yquem aus. Aber er mußte innehalten, da in diesem Augenblicke der Polizeimeister eintrat; dieser ersuchte uns sogar, das Zimmer zu verlassen. Da alle bereits genug gesehen hatten, gingen sie widerspruchslos hinaus, obgleich Ljamschin gern mit dem Polizeimeister angebunden hätte. Die allgemeine Fröhlichkeit, das Lachen, das muntere Gespräch, alles das zeigte sich auf der noch übrigen Hälfte des Weges auf das Doppelte gesteigert.
Wir kamen bei Semjon Jakowlewitsch Punkt ein Uhr an. Das Tor des ziemlich großen Kaufmannshauses stand weit offen, und der Zugang zu dem Nebengebäude war unbehindert. Wir erfuhren sogleich, daß Semjon Jakowlewitsch gerade beim Mittagessen sei, aber trotzdem Besuch empfange. Unsere ganze Schar trat zugleich ein. Das Zimmer, in dem der Gottesmann empfing und speiste, war ziemlich geräumig, dreifenstrig und durch ein halbmannshohes Holzgitter, das querüber von einer Wand zur andern ging, in zwei gleiche Teile geteilt. Die gewöhnlichen Besucher blieben außerhalb des Gitters; die Glückskinder aber wurden auf Anweisung des Gottesmannes durch ein Türchen des Gitters in seine Hälfte hereingelassen, und er ließ sie, wenn er wollte, auf seinen alten Ledersesseln und auf dem Sofa Platz nehmen; er selbst aber saß unveränderlich auf einem alten, abgescheuerten Lehnstuhl. Er war ein ziemlich großer, aufgedunsener Mann mit gelblicher Hautfarbe, etwa fünfundfünfzig Jahre alt, mit dünnem, blondem Haar und einer Glatze, mit rasiertem Gesichte, mit geschwollener rechter Backe und etwas schiefgezogenem Munde, mit einer großen Warze nahe am linken Nasenflügel, mit kleinen, schmalen Augen und einem ruhigen, gesetzten, schläfrigen Gesichtsausdruck. Er trug deutsche Tracht, einen schwarzen Oberrock, aber keine Weste und kein Halstuch. Unter seinem Rocke schaute ein ziemlich grobes, aber weißes Hemd hervor; die anscheinend kranken Füße steckten in Pantoffeln. Ich hörte, daß er einmal Beamter gewesen sei und zu einer der Rangklassen gehört habe. Er hatte soeben eine leichte Fischsuppe gegessen und machte sich nun an sein zweites Gericht: Kartoffeln in der Schale mit Salz. Etwas anderes aß er niemals; er trank nur viel Tee, von dem er ein großer Freund war. Um ihn waren drei Diener, die ihm der Kaufmann hielt, in geschäftiger Bewegung; einer von ihnen trug einen Frack; der zweite sah aus wie ein Arbeiter, der dritte wie ein Kirchendiener. Es war auch ein etwa sechzehnjähriger, sehr munterer Knabe anwesend. Außer der Dienerschaft war da noch ein ehrwürdiger, grauhaariger, nur etwas zu korpulenter Mönch mit einer Sammelbüchse. Auf einem der Tische siedete ein gewaltiger Samowar, und es stand dort auch ein Präsentierbrett mit nahezu zwei Dutzend Gläsern. Auf einem andern, gegenüberstehenden Tische hatten die dargebrachten Gaben ihren Platz gefunden: mehrere Hüte Zucker, sowie einige einzelne Pfunde Zucker, ferner ungefähr zwei Pfund Tee, ein Paar gestickte Pantoffeln, ein seidenes Taschentuch, ein Stück Tuch, ein Stück Leinwand und so weiter. Die Geldspenden wurden fast alle in die Sammelbüchse des Mönchs hineingetan. Im Zimmer waren eine Menge Menschen, schon allein an Besuchern etwa ein Dutzend, von denen zwei bei Semjon Jakowlewitsch innerhalb des Gitters saßen; das waren ein alter, grauhaariger Wallfahrer, ein Mann aus dem Volke, und ein kleiner, magerer Mönch von auswärts, der sehr manierlich mit niedergeschlagenen Augen dasaß. Die übrigen Besucher standen alle außerhalb des Gitters; auch sie gehörten größtenteils dem gewöhnlichen Volke an, nur drei Personen nicht: ein dicker, bärtiger Kaufmann, der aus einer Kreisstadt gekommen war, russische Tracht trug, aber, wie man wußte, hunderttausend Rubel besaß; ferner eine bejahrte, bedürftige adelige Dame und drittens ein Gutsbesitzer. Alle warteten auf ihr Glück, ohne daß sie selbst gewagt hätten zuerst zu reden. Vier von ihnen lagen auf den Knien; am meisten von allen zog der Gutsbesitzer die Aufmerksamkeit auf sich, ein dicker Mann von etwa fünfundvierzig Jahren; er kniete dicht am Gitter an besonders sichtbarer Stelle und wartete andächtig auf einen gnädigen Blick oder ein gnädiges Wort Semjon Jakowlewitschs. Er kniete schon ungefähr eine Stunde lang; der aber beachtete ihn gar nicht.
Unsere Damen drängten sich, heiter und spöttisch miteinander tuschelnd, am Gitter zusammen. Sie schoben die Knienden und alle andern Besucher beiseite oder traten vor sie hin und verdeckten ihnen den Blick; nur bei dem Gutsbesitzer gelang ihnen dies nicht, der hartnäckig an seinem Platze blieb und sich sogar mit den Händen am Gitter festhielt. Sie richteten vergnügte Blicke voll neugieriger Spannung auf Semjon Jakowlewitsch; ja sie sahen auch durch Lorgnetten, Pincenezs und sogar durch Operngläser nach ihm hin; wenigstens benutzte Ljamschin ein solches. Semjon Jakowlewitsch überschaute sie ruhig und lässig mit seinen kleinen Augen.
»Liebäugler, Liebäugler!« rief er halblaut mit seiner heiseren Baßstimme.
Die Unsrigen fingen alle an zu lachen: »Was heißt das: Liebäugler?« Aber Semjon Jakowlewitsch versank in Schweigen und aß seine Kartoffeln weiter. Endlich wischte er sich mit einer Serviette den Mund, und es wurde ihm Tee gereicht.
Er trank den Tee gewöhnlich nicht allein, sondern ließ auch den Besuchern welchen eingießen, aber bei weitem nicht einem jeden; gewöhnlich bezeichnete er selbst denjenigen von ihnen, der beglückt werden sollte. Diese Anordnungen überraschten immer dadurch, daß sie völlig unberechenbar waren. Manchmal befahl er mit Übergehung der Reichen und Vornehmen, einem Bauer oder einer hinfälligen alten Frau Tee zu reichen; ein andermal überging er die geringen Leute und bedachte irgendeinen wohlgenährten, reichen Kaufmann. Der Tee wurde auch in verschiedener Weise gereicht; die einen erhielten ihn mit Zucker darin; anderen wurde ein Stück Zucker zum Abbeißen dazugelegt; wieder andere bekamen ihn ganz ohne Zucker. Diejenigen, die diesmal beglückt wurden, waren der fremde Mönch, der ein Glas Tee mit Zucker darin erhielt, und der alte Wallfahrer, dem er ganz ohne Zucker gegeben wurde. Dagegen wurde dem dicken Mönche aus unserem Kloster, dem mit der Sammelbüchse, aus unverständlichem Grunde überhaupt kein Tee gereicht, obgleich dieser bisher täglich sein Glas erhalten hatte.
»Semjon Jakowlewitsch, sagen Sie mir doch etwas; ich habe schon so lange gewünscht, Ihre Bekanntschaft zu machen,« sagte in singendem Tone, lächelnd und die Augen ein wenig zusammenkneifend, die elegante Dame aus unserem Wagen, die vorhin bemerkt hatte, daß man keine Zerstreuung von der Hand weisen dürfe, wenn sie nur interessant sei.
Semjon Jakowlewitsch blickte gar nicht nach ihr hin. Der kniende Gutsbesitzer seufzte laut und tief, so daß es klang, wie wenn ein großer Blasebalg angehoben und niedergedrückt wurde.
»Mit Zucker darin!« befahl Semjon Jakowlewitsch plötzlich, auf den Kaufmann mit den hunderttausend Rubeln weisend.
Dieser trat nach vorn und stellte sich neben den Gutsbesitzer.
»Gib ihm noch mehr Zucker!« befahl Semjon Jakowlewitsch, als das Glas schon eingegossen war; es wurde noch ein Stück hineingelegt. »Noch mehr, noch mehr!« Es wurde zum dritten Male und zuletzt auch noch zum vierten Male Zucker hineingetan.
Der Kaufmann begann ohne Widerspruch seinen Sirup zu trinken.
»O Gott!« flüsterten die einfachen Leute und bekreuzten sich.
Der Gutsbesitzer seufzte wieder laut und tief.
»Väterchen! Semjon Jakowlewitsch!« rief auf einmal die ärmliche Dame, welche die Unsrigen an die Wand gedrückt hatten, mit kummervoller Stimme, die aber schärfer klang, als man hätte erwarten können. »Eine ganze Stunde lang warte ich schon auf deine Wohltat, Liebster, Bester! Sprich zu mir Ärmsten, entscheide mein Schicksal!«
»Frage sie!« befahl Semjon Jakowlewitsch dem Kirchendiener.
Dieser trat an das Gitter heran.
»Hast du das ausgeführt, was dir Semjon Jakowlewitsch das vorige Mal befohlen hat?« fragte er die Witwe leise und gemessen.
»Wie konnte ich es denn ausführen, Väterchen Semjon Jakowlewitsch? Wie soll man es denn ausführen, wenn die so sind?« heulte die Witwe. »Menschenschinder sind sie; sie machen eine Eingabe gegen mich beim Bezirksdirektor und drohen mir mit dem Senat; so benehmen sie sich gegen ihre leibliche Mutter!«
»Gib ihr den!« befahl Semjon Jakowlewitsch, auf einen Hut Zucker weisend.
Der Knabe sprang herzu, nahm den Hut Zucker und trug ihn zu der Witwe hin.
»Ach, Väterchen, deine Gnade ist groß. Was soll ich denn mit soviel?« fing die Witwe wieder an.
»Noch einen, noch einen!« befahl Semjon Jakowlewitsch zur Belohnung.
Es wurde noch ein Hut Zucker zu ihr hingeschleppt. »Noch einen, noch einen!« ordnete der Gottesmann an, und es wurde ein dritter und schließlich ein vierter hingetragen. Die Witwe war von allen Seiten mit Zuckerhüten umstellt. Der Mönch aus dem Kloster seufzte; all dies hätte gleich heute nach dem Kloster gebracht werden können, wie das früher geschehen war.
»Aber was soll ich denn mit soviel?« stöhnte die Witwe demütig. »Es wird mir ja übel werden, wenn ich das allein verzehren soll! ... Liegt darin vielleicht eine Prophezeiung, Väterchen?«
»Gewiß, darin liegt eine Prophezeiung,« sagte jemand in der Menge.
»Noch ein Pfund, noch ein Pfund!« befahl Semjon Jakowlewitsch, der nicht müde wurde zu schenken.
Auf dem Tische war noch ein ganzer Hut Zucker übriggeblieben; aber Semjon Jakowlewitsch hatte nur befohlen, ein Pfund zu geben, und so gab man denn der Witwe ein Pfund.
»O Gott, o Gott!« seufzte das Volk und bekreuzte sich. »Eine deutliche Prophezeiung!«
»Versüßen Sie zuerst Ihr Herz durch Güte und Freundlichkeit, und dann kommen Sie her, um sich über Ihre eigenen Kinder zu beklagen, die doch Bein von Ihrem Bein und Fleisch von Ihrem Fleisch sind! Das ist, wie man annehmen muß, die Bedeutung dieses Sinnbildes,« sagte der dicke, mit dem Tee übergangene Mönch aus dem Kloster leise, aber selbstzufrieden, indem er in einem Anfall gereizter Eitelkeit die Ausdeutung auf sich nahm.
»Aber was redest du da, Väterchen!« erwiderte die Witwe, die auf einmal zornig wurde. »Sie haben mich mit einem Fangstrick ins Feuer schleppen wollen, als es bei Werchischins brannte. Sie haben mir eine tote Katze in meinen Kasten gelegt, und so sind sie zu jeder Schändlichkeit bereit ...«
»Jage sie weg, jage sie weg!« rief Semjon Jakowlewitsch mit einer entsprechenden Handbewegung.
Der Kirchendiener und der Knabe eilten durch die Tür im Gitter nach dem äußeren Teile des Zimmers. Der Kirchendiener faßte die Witwe unter den Arm; sie hatte sich wieder beruhigt und ließ sich zur Tür ziehen, wobei sie sich nach den ihr geschenkten Hüten Zucker umsah, die der Knabe ihr nachschleppte.
»Einen wegnehmen! Nimm ihr einen wieder weg!« befahl Semjon Jakowlewitsch dem bei ihm zurückgebliebenen Arbeiter.
Dieser eilte den Hinausgehenden nach, und nach einiger Zeit kehrten alle drei Diener zurück und brachten einen Hut Zucker mit, der der Witwe zuerst geschenkt und nun wieder abgenommen war; die drei andern trug sie jedoch mit sich fort.
»Semjon Jakowlewitsch,« erscholl eine Stimme von hinten, ganz von der Tür her. »Mir hat von einem Vogel geträumt, von einer Dohle; die kam aus dem Wasser geflogen und flog ins Feuer. Was hat der Traum zu bedeuten?«
»Kälte,« antwortete Semjon Jakowlewitsch.
»Semjon Jakowlewitsch, warum haben Sie mir denn nichts geantwortet? Ich interessiere mich doch schon so lange für Sie,« begann unsere Dame wieder.
»Frage ihn!« befahl Semjon Jakowlewitsch, ohne auf sie zu hören, und wies auf den knienden Gutsbesitzer.
Der Mönch aus dem Kloster, an den der Befehl zum Fragen gerichtet war, trat gemessenen Ganges an den Gutsbesitzer heran.
»Womit haben Sie gesündigt? Und war Ihnen nicht befohlen worden, etwas auszuführen?«
»Ich sollte nicht schlagen, sollte meine Hände im Zaum halten,« antwortete der Gutsbesitzer heiser.
»Haben Sie das getan?« fragte der Mönch.
»Es ist mir nicht möglich; meine eigene Kraft trägt den Sieg über mich davon.«
»Jage ihn fort, jage ihn fort! Mit dem Besen, mit dem Besen!« rief Semjon Jakowlewitsch, wieder heftig gestikulierend.
Der Gutsbesitzer wartete die Ausführung der Bestrafung nicht ab, sondern sprang auf und lief aus dem Zimmer hinaus.
»Er hat an seinem Platze ein Goldstück zurückgelassen,« meldete der Mönch und hob einen halben Imperial vom Fußboden auf.
»Wer soll das bekommen?« sagte Semjon Jakowlewitsch und zeigte mit dem Finger auf den Kaufmann mit den hunderttausend Rubeln.
Der reiche Mann wagte es nicht, das Geschenk abzulehnen, und nahm das Goldstück hin.
»Gold zu Golde!« konnte sich der Mönch aus dem Kloster nicht enthalten zu bemerken.
»Und diesem mit Zucker darin!« befahl Semjon Jakowlewitsch plötzlich und wies auf Mawriki Nikolajewitsch.
Ein Diener goß Tee ein und wollte ihn versehentlich dem Stutzer mit dem Pincenez bringen.
»Dem Langen, dem Langen!« berichtigte Semjon Jakowlewitsch.
Mawriki Nikolajewitsch nahm das Glas entgegen, machte eine militärische Verbeugung und begann zu trinken. Ich weiß nicht warum; aber die Unsrigen wollten sich ausschütten vor Lachen.
»Mawriki Nikolajewitsch!« wandte sich auf einmal Lisa an ihn. »Der Herr, der da gekniet hat, ist weggegangen; knien Sie an seiner Stelle nieder!«
Mawriki Nikolajewitsch blickte sie erstaunt an.
»Ich bitte Sie darum; Sie werden mir damit das größte Vergnügen machen, hören Sie wohl, Mawriki Nikolajewitsch?« sagte sie hartnäckig, eigensinnig und mit fieberhafter Hast. »Tun Sie es ohne Widerrede; ich will unbedingt sehen, wie Sie da knien. Wenn Sie es nicht tun, dann dürfen Sie nie wieder zu mir kommen. Ich will es unbedingt; unbedingt will ich es!«
Ich weiß nicht, was sie damit beabsichtigte; aber sie stellte ihre Forderung mit einer unerbittlichen Hartnäckigkeit wie in einem Krankheitsanfall. Mawriki Nikolajewitsch erklärte sich, wie wir später sehen werden, bei ihr solche namentlich in der letzten Zeit häufigen launischen Anwandlungen als Ausbrüche eines blinden Hasses gegen ihn, eines Hasses, der nicht etwa auf böser Gesinnung beruhte (vielmehr achtete, liebte und schätzte sie ihn sehr, und er selbst wußte das), sondern ein eigenartiger, unbewußter Haß war, den sie zu gewissen Zeiten schlechterdings nicht zu unterdrücken vermochte.
Er übergab sein Teeglas schweigend einer hinter ihm stehenden alten Frau, öffnete die Tür im Gitter, ging ohne Einladung in Semjon Jakowlewitschs reservierte Hälfte und kniete in der Mitte des Raumes vor aller Augen nieder. Ich glaube, daß er in seiner zartfühlenden, ehrlichen Seele durch den plumpen Scherz, den sich Lisa angesichts der ganzen Gesellschaft erlaubte, sich tief verletzt fühlte. Vielleicht meinte er, sie werde sich ihres Benehmens schämen, wenn sie seine Erniedrigung sähe, auf der sie so eigensinnig bestanden hatte. Allerdings hätte es wohl niemand außer ihm versucht, eine Frau auf eine so naive, gewagte Weise zu bessern. So lag er nun da auf den Knien, mit seinem unerschütterlichen Ernst im Gesichte, mit seiner langen Gestalt, in ungeschickter, lächerlicher Haltung. Aber die Unsrigen lachten nicht; der überraschende Vorgang brachte eine peinliche Wirkung hervor. Alle blickten Lisa an.
»Öl, Öl!« murmelte Semjon Jakowlewitsch.
Lisa wurde auf einmal ganz blaß, schrie auf und eilte nach der andern Seite des Gitters. Hier spielte sich mit großer Geschwindigkeit eine sehr aufgeregte Szene ab: sie bemühte sich mit aller Kraft, Mawriki Nikolajewitsch aus seiner knienden Stellung aufzuheben, indem sie ihn mit beiden Händen an den Ellbogen faßte.
»Stehen Sie auf, stehen Sie auf!« rief sie wie von Sinnen. »Stehen Sie sofort auf, sofort! Wie konnten Sie das nur tun!«
Mawriki Nikolajewitsch erhob sich von den Knien. Sie preßte mit ihren Händen seine Arme oberhalb der Ellbogen zusammen und sah ihm unverwandt ins Gesicht. Eine große Angst lag in ihrem Blicke.
»Liebäugler, Liebäugler!« sagte Semjon Jakowlewitsch noch einmal.
Sie zog endlich Mawriki Nikolajewitsch wieder nach der andern Seite des Gitters; in dem ganzen Schwarm der Unsrigen machte sich eine starke Bewegung bemerklich. Die Dame aus unserem Wagen, die wahrscheinlich diesen Eindruck zu verwischen wünschte, fragte Semjon Jakowlewitsch zum dritten Male mit heller, klagender Stimme und wie früher mit einem affektierten Lächeln:
»Nun, Semjon Jakowlewitsch, werden Sie mir denn wirklich gar nichts sagen? Und ich hatte doch so bestimmt darauf gerechnet!«
»Du kannst ...« sagte auf einmal Semjon Jakowlewitsch, zu ihr gewendet, und bediente sich dabei eines ganz unerlaubten Ausdrucks, den er grimmig und mit erschreckender Deutlichkeit aussprach. Unsere Damen kreischten auf und liefen Hals über Kopf hinaus; die Herren brachen in ein homerisches Gelächter aus. Damit endete unsere Fahrt zu Semjon Jakowlewitsch.
Und doch ereignete sich dabei, wie man sagt, noch ein höchst rätselhafter Vorfall, und um seinetwillen habe ich eigentlich diese Fahrt so ausführlich erzählt.
Man sagt, als alle in dichtem Schwarm herausströmten, sei Lisa, die von Mawriki Nikolajewitsch am Arm geführt wurde, auf einmal in der Tür im Gedränge mit Nikolai Wsewolodowitsch zusammengestoßen. Es muß bemerkt werden, daß die beiden seit jenem Sonntagvormittag und seit jener Ohnmacht einander zwar mehrfach begegnet, aber nie in persönliche Berührung miteinander gekommen waren und kein Wort miteinander gewechselt hatten. Ich sah, wie sie in der Tür zusammentrafen; es kam mir vor, als ob sie beide einen Augenblick stutzten und einander sonderbar ansähen. Aber ich konnte in dem dichten Haufen schlecht sehen. Es wurde aber behauptet, und zwar ganz ernst, daß Lisa Nikolai Wsewolodowitsch angesehen, schnell die Hand bis zur Höhe seines Gesichtes erhoben habe und ihn sicherlich geschlagen haben würde, wenn er sich nicht noch schnell vorher abgewandt hätte. Vielleicht mißfiel ihr der Ausdruck seines Gesichtes oder ein Lächeln auf demselben, besonders jetzt nach dem eigenartigen Vorfall mit Mawriki Nikolajewitsch. Ich muß gestehen, daß ich selbst nichts gesehen habe; dagegen versicherten alle andern, es gesehen zu haben, obgleich alle es in dem Getümmel bestimmt nicht hatten sehen können, sondern höchstens einige. Aber ich glaubte diese Geschichte damals nicht. Ich erinnere mich jedoch, daß Nikolai Wsewolodowitsch auf dem ganzen Rückwege etwas blaß aussah.