An demselben Tage und fast zu derselben Stunde kam nun auch endlich die Wiederbegegnung zwischen Stepan Trofimowitsch und Warwara Petrowna zustande, die diese schon längst beabsichtigt, schon längst ihrem früheren Freunde angekündigt, aber seither aus irgendwelchem Grunde immer wieder verschoben hatte. Sie fand in Skworeschniki statt. Warwara Petrowna war in sorgenvoller Erregung nach ihrem nahe bei der Stadt gelegenen Gute gekommen; denn tags zuvor war endgültig bestimmt worden, daß das bevorstehende Fest bei der Frau Adelsmarschall veranstaltet werden sollte. Aber Warwara Petrowna hatte sich mit der ihr eigenen Schnelligkeit des Denkens sofort gesagt, daß niemand sie hindern könne, nach dem Feste selbst ein besonderes Fest, und zwar dann in Skworeschniki, zu geben und von neuem die ganze Stadt dazu einzuladen. Dann würden alle sich mit eigenen Augen davon überzeugen können, wessen Haus das beste sei, und wo man es am besten verstehe, Gäste zu empfangen und mit Geschmack einen Ball zu geben. Sie schien eine ganz andere geworden zu sein und sich aus der früheren unnahbaren »höchstklassigen Dame« (ein Ausdruck Stepan Trofimowitschs) in eine ganz gewöhnliche, unvernünftige Weltdame verwandelt zu haben. Übrigens schien das möglicherweise auch nur so.
Nachdem sie in dem unbewohnten Hause angekommen war, ging sie in Begleitung des treuen, altmodischen Alexei Jegorowitsch und Fomuschkas, eines Menschen, der sich in der Welt umgesehen hatte und im Dekorationsfache Spezialist war, durch alle Zimmer. Nun begannen die Überlegungen und Beratungen: was an Möbeln aus dem Stadthause herüberzuholen sei; welche Kunstgegenstände und Gemälde; wo sie zu placieren seien; wie sich die Orangerie und die Blumen am passendsten arrangieren ließen; wo man neue Draperien anbringen müsse, wo das Büfett eingerichtet werden solle, und ob eines oder zwei, und so weiter, und so weiter. Und siehe da, mitten in diesem Trubel von Sorgen kam ihr plötzlich der Einfall, einen Wagen zu Stepan Trofimowitsch zu schicken, um ihn abholen zu lassen.
Dieser war schon längst benachrichtigt und bereit und erwartete täglich gerade eine solche plötzliche Aufforderung. Als er in den Wagen stieg, bekreuzte er sich: die Entscheidung seines Schicksals stand bevor. Er traf seine Freundin in dem großen Saale, auf einem kleinen, in einer Nische stehenden Sofa, an einem kleinen Marmortischchen, mit Bleistift und Papier in den Händen; Fomuschka maß mit einem Zollstock die Höhe der Galerien und der Fenster, und Warwara Petrowna notierte selbst die Zahlen und machte Randbemerkungen dazu. Ohne sich in ihrer Arbeit zu unterbrechen, nickte sie Stepan Trofimowitsch zu, und als dieser eine Begrüßung murmelte, gab sie ihm schnell die Hand und wies ihm, ohne ihn anzusehen, einen Platz neben sich an.
»Ich saß und wartete wohl fünf Minuten lang, mein Herz zur Ruhe zwingend,« erzählte er mir nachher. »Ich sah nicht die Frau vor mir, die ich zwanzig Jahre lang gekannt hatte. Die feste Überzeugung, daß alles zu Ende sei, verlieh mir eine Kraft, von der selbst sie überrascht war. Ich versichere Sie, sie war erstaunt über meinen Stoizismus in dieser letzten Stunde.«
Warwara Petrowna legte auf einmal den Bleistift auf das Tischchen und wandte sich schnell zu Stepan Trofimowitsch.
»Stepan Trofimowitsch, wir müssen ein sachliches Gespräch führen. Ich bin überzeugt, daß Sie nach Ihrer Art allerlei hochtrabende Worte und Redensarten sich zurechtgelegt haben; aber es wäre doch wohl das Beste, gleich zur Sache zu kommen, nicht wahr?«
Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Sie beeilte sich so, den Ton für das bevorstehende Gespräch anzugeben; was konnte nun noch Gutes kommen?
»Warten Sie, schweigen Sie, lassen Sie mich reden; nachher können Sie selbst reden, wiewohl ich wirklich nicht weiß, was Sie mir antworten könnten,« fuhr sie in schnellem Tempo fort. »Ich halte es für meine heilige Pflicht, Ihnen Ihre Pension von zwölfhundert Rubeln bis an Ihr Lebensende zu zahlen. Aber warum heilige Pflicht? Nennen wir es ganz einfach eine vertragsmäßige Verpflichtung, das wird weit realistischer sein, nicht wahr? Wenn Sie wollen, können wir es schriftlich machen. Für den Fall meines Todes habe ich besondere Anordnungen getroffen. Aber Sie empfangen von mir jetzt Wohnung und Dienerschaft und den gesamten Unterhalt. Veranschlagen wir das in Geld, so werden etwa fünfzehnhundert Rubel herauskommen, nicht wahr? Ich werde noch einen Extraposten von dreihundert Rubeln hinzufügen, so daß es volle dreitausend Rubel ergibt. Reicht Ihnen das für ein Jahr? Ich möchte meinen, es ist nicht wenig. In ganz besonderen Fällen werde ich übrigens noch etwas zulegen. Also nehmen Sie das Geld, schicken Sie mir meine Leute zurück, und leben Sie für sich, wo Sie wollen: in Petersburg, in Moskau, im Auslande oder hier, nur nicht bei mir! Hören Sie auch zu?«
»Vor kurzem wurde ebenso dringlich und ebenso schnell von demselben Munde eine andere Forderung an mich gestellt,« antwortete Stepan Trofimowitsch traurig, langsam und deutlich. »Ich fügte mich ... und tanzte Ihnen zu Gefallen den Kosakentanz. Oui, la comparaison peut être permise. C'était comme un petit cosaque du Don, qui sautait sur sa propre tombe. Jetzt ...«
»Halt, Stepan Trofimowitsch! Sie machen viele Worte. Sie haben nicht getanzt, sondern sind mit einer neuen Krawatte, weißer Wäsche und Handschuhen, pomadisiert und parfümiert zu mir gekommen. Ich versichere Ihnen, daß Sie selbst die größte Lust hatten zu heiraten; das stand Ihnen auf dem Gesichte geschrieben, und Sie können es glauben: dieser Ausdruck war durchaus ungekünstelt. Wenn ich es Ihnen nicht gleich damals aussprach, so unterließ ich es einzig aus Zartgefühl. Aber Sie wünschten, Sie wünschten zu heiraten, trotz der Schändlichkeiten, die Sie im geheimen über mich und Ihre Braut geschrieben hatten. Jetzt liegt die Sache ganz anders. Und was soll hier der cosaque du Don, der auf Ihrem Grabe tanzt? Ich verstehe nicht, was das für ein Vergleich ist. Vielmehr: sterben Sie nicht, sondern leben Sie; leben Sie, so lange wie möglich, und ich werde mich sehr darüber freuen.«
»Im Armenhause?«
»Im Armenhause? Mit dreitausend Rubeln Jahreseinnahme geht man nicht ins Armenhaus. Ach so, ich erinnere mich,« fügte sie lächelnd hinzu, »Peter Stepanowitsch hat wirklich einmal im Scherz etwas vom Armenhause gesagt. Aber da handelte es sich in der Tat um ein besonderes ›Armenhaus‹, das in Erwägung zu ziehen sich der Mühe lohnt. Es ist für die achtenswertesten Personen bestimmt; es wohnen Obersten darin; sogar ein General will jetzt hinziehen. Wenn Sie mit Ihrem ganzen Gelde da eintreten, so finden Sie da Ruhe, Behaglichkeit, Bedienung. Sie werden sich da mit den Wissenschaften beschäftigen können und immer die Möglichkeit haben, eine Partie Préférence zu spielen.«
»Passons!«
»Passons?« wiederholte Warwara Petrowna, sich verletzt fühlend. »In diesem Falle sind wir zu Ende; Sie sind benachrichtigt, daß wir von jetzt an vollständig getrennt leben werden.«
»Und das ist alles? Alles, was von zwanzig Jahren übriggeblieben ist? Ihr letztes Abschiedswort?«
»Sie sind ein großer Liebhaber von pathetischen Ausrufen, Stepan Trofimowitsch. Heutzutage ist das gar nicht mehr Mode. Man redet jetzt einfach und geradezu. Bleiben Sie mir vom Leibe mit Ihren zwanzig Jahren! Zwanzig Jahren eines beiderseitigen Egoismus, weiter nichts! Jeder Brief, den Sie mir schrieben, war nicht für mich bestimmt, sondern für die Nachwelt. Sie sind ein Stilist, aber kein Freund, und unsere Freundschaft war nur ein großartig klingendes Wort, in Wirklichkeit aber ein wechselseitiges Begießen mit Spülicht ...«
»O Gott, wie viele entlehnte Ausdrücke! Auswendig gelernte Pensen! Auch Ihnen haben diese Menschen schon ihre Uniform angezogen! Auch Sie sind vergnügt und sonnen sich; chère, chère, für welches Linsengericht haben Sie diesen Menschen Ihre Freiheit verkauft!«
»Ich bin kein Papagei, daß ich die Worte anderer nachsprechen sollte,« ereiferte sich Warwara Petrowna. »Seien Sie überzeugt, daß ich einen genügenden Vorrat eigener Worte besitze! Was haben Sie diese zwanzig Jahre her für mich getan? Sie haben mir sogar die Bücher vorenthalten, die ich Ihnen kommen ließ, und die ohne den Buchbinder unaufgeschnitten geblieben wären. Was haben Sie mir zu lesen gegeben, wenn ich Sie in den ersten Jahren bat, mich zu führen und zu leiten? Immer Capefigue und Capefigue.1 Sie sahen sogar meine geistige Entwicklung ungern und ergriffen Maßregeln dagegen. Und dabei machen über Sie selbst sich alle Leute lustig. Ich gestehe, ich habe Sie immer nur für einen Kritiker gehalten; Sie sind ein literarischer Kritiker, weiter nichts. Als ich Ihnen auf der Reise nach Petersburg auseinandersetzte, daß ich die Absicht hätte, ein Journal herauszugeben und ihm mein ganzes Leben zu weihen, da begannen Sie sogleich, mich mit ironischen Blicken zu betrachten, und wurden auf einmal furchtbar hochmütig.«
»Das verhielt sich nicht so, das verhielt sich nicht so ... wir fürchteten damals Verfolgungen ...«
»Genau so verhielt es sich, und Verfolgungen hatten Sie in Petersburg keine zu befürchten. Erinnern Sie sich dann wohl später im Februar, als jene Nachricht kam, wie Sie da auf einmal erschrocken zu mir gelaufen kamen und von mir verlangten, ich solle Ihnen sofort eine Bestätigung geben, in Form eines Briefes, daß das geplante Journal Sie gar nichts angehe, daß die jungen Männer zu mir kämen und nicht zu Ihnen, und daß Sie nur ein Hauslehrer seien, der im Hause wohnen geblieben sei, weil er noch nicht sein ganzes Gehalt ausgezahlt bekommen habe, nicht wahr? Erinnern Sie sich wohl noch daran? Sie haben sich Ihr ganzes Leben lang herrlich benommen, Stepan Trofimowitsch!«
»Das war nur ein Augenblick des Kleinmutes, ein Augenblick des intimen Gespräches!« rief er bekümmert aus. »Aber können Sie denn wirklich, wirklich um so kleinlicher Empfindungen willen alle Bande zerreißen? Ist denn wirklich nach so langen Jahren nichts von unseren Beziehungen übriggeblieben?«
»Sie sind ein kluger Rechner; Sie möchten es immer so darstellen, als ob ich noch in Ihrer Schuld wäre. Als Sie aus dem Auslande zurückkamen, da sahen Sie mich von oben herab an und erlaubten mir nicht, auch meinerseits ein Wort zu sagen, und als ich selbst ins Ausland gefahren war und nachher mit Ihnen über den Eindruck zu reden anfing, den mir die Madonna gemacht hatte, da hörten Sie mich nicht zu Ende und begannen hochmütig in Ihre Krawatte hineinzulächeln, als ob ich nicht ebensolche Empfindungen haben könnte wie Sie.«
»Das verhielt sich nicht so, wahrscheinlich verhielt sich das nicht so ... J'ai oublié.«
»Nein, das verhielt sich genau so; und dabei hatten Sie gar keinen Anlaß, sich vor mir zu brüsten; denn das war ja alles dummes Zeug und nur Einbildung von Ihnen. Heutzutage gerät kein Mensch, kein Mensch mehr über die Madonna in Entzücken, und niemand verliert mehr seine Zeit damit außer ein paar verstockten alten Herren. Das ist bewiesen.«
»Auch schon bewiesen?«
»Sie ist zu nichts zu gebrauchen. Dieser Krug ist nützlich, weil man Wasser hineingießen kann, und dieser Bleistift ist nützlich, weil man mit ihm alles mögliche schreiben kann; aber jenes gemalte Frauengesicht hat geringeren Wert als alle anderen, wirklichen Gesichter. Machen Sie die Probe: zeichnen Sie einen Apfel, und legen Sie hier einen wirklichen Apfel daneben; welchen werden Sie nehmen? Sie werden gewiß nicht fehlgreifen. Solche Resultate haben unsere Theorien jetzt bereits gezeitigt, wo sie soeben der erste Strahl der freien Forschung erleuchtet hat.«
»Ja, ja.«
»Sie lächeln ironisch. Aber was haben Sie mir zum Beispiel vom Almosengeben gesagt? Und doch ist der Genuß, den man beim Almosengeben empfindet, ein hochmütiger, unmoralischer Genuß, die Freude des Reichen über seinen Reichtum, über seine Macht und über seine gesellschaftliche Stellung im Vergleich mit der des Armen. Das Almosengeben verdirbt sowohl den Gebenden als auch den Nehmenden und erfüllt überdies nicht einmal seinen Zweck, da es die Bettelei nur vermehrt. Faule Menschen, die nicht arbeiten wollen, drängen sich um die Gebenden wie Spieler um den Spieltisch in der Hoffnung zu gewinnen. Und dabei reichen die kläglichen paar Groschen, die man ihnen hinwirft, nicht im entferntesten für ihre Bedürfnisse aus. Haben Sie in Ihrem Leben schon viel Geld weggeben? Wohl nicht mehr als etwa acht Zehnkopekenstücke; denken Sie einmal darüber nach! Suchen Sie sich einmal zu erinnern, wann Sie zum letztenmal ein Almosen gegeben haben; das wird wohl schon zwei Jahre, vielleicht vier Jahre zurückliegen. Sie machen nur törichtes Geschrei und schaden der Sache. Das Almosengeben müßte auch schon im jetzigen Staate gesetzlich verboten werden. In dem neu geordneten Staate wird es überhaupt keine Armen geben.«
»Oh, welch eine Reproduktion fremder Gedanken! Also sind Sie auch schon bis zur Neuordnung des Staates gelangt? Sie Unglückliche, möge Ihnen Gott helfen!«
»Ja, dahin bin ich gelangt, Stepan Trofimowitsch; Sie haben sorgsam alle neuen Ideen vor mir verborgen gehalten, die jetzt schon allen Leuten bekannt sind, und haben das einzig und allein aus Egoismus getan, um über mich eine Macht zu besitzen. Jetzt ist mir sogar diese Julija meilenweit voraus. Aber jetzt sind mir die Augen aufgegangen. Ich habe Sie verteidigt, Stepan Trofimowitsch, soviel ich nur konnte; denn geradezu alle erheben Anklagen gegen Sie!«
»Genug!« sagte er und stand von seinem Platze auf. »Genug! Und was kann ich Ihnen nun noch anderes wünschen als Reue?«
»Setzen Sie sich noch auf einen Augenblick, Stepan Trofimowitsch! Ich wollte Sie noch etwas fragen. Es ist Ihnen die Aufforderung überbracht worden, bei der literarischen Matinee etwas vorzulesen; das ist durch meine Vermittelung erfolgt. Sagen Sie, was werden Sie denn vorlesen?«
»Gerade etwas über diese Königin der Königinnen, über dieses Ideal der Menschheit, die Sixtinische Madonna, die Ihrer Ansicht nach nicht soviel wert ist wie ein Glas oder ein Bleistift.«
»Also nichts Historisches?« fragte Warwara Petrowna unangenehm überrascht. »Aber da werden Sie keine aufmerksamen Zuhörer haben. Verschonen Sie uns mit dieser Madonna! Wie kann es Ihnen nur Vergnügen machen, alle einzuschläfern! Seien Sie überzeugt, Stepan Trofimowitsch, daß ich nur in Ihrem Interesse rede. Das Richtige wäre, wenn Sie ein kurzes, interessantes, mittelalterliches Hofhistörchen aus der spanischen Geschichte nähmen, oder besser gesagt eine Anekdote, und diese dann noch mit eigenen Anekdoten und geistreichen Bemerkungen farcierten. Es hat dort üppige Hofhaltungen gegeben und zweifelhafte Damen und Vergiftungen. Karmasinow sagt, es würde sonderbar sein, wenn Sie aus der spanischen Geschichte nicht etwas Interessantes zum Zwecke der Vorlesung herausfänden.«
»Karmasinow, dieser Dummkopf, der sich ausgeschrieben hat, sucht für mich Themata!«
»Karmasinow, dieser Mann mit dem großartigen Verstande! Sie lassen Ihrer Zunge zu sehr den Zügel schießen, Stepan Trofimowitsch!«
»Ihr Karmasinow ist ein altes, wütendes Weib, das sich ausgeschrieben hat! Chère, chère, haben Sie sich schon lange in die Knechtschaft dieser Menschen begeben? O Gott!«
»Ich kann ihn jetzt auch nicht leiden wegen seiner Wichtigtuerei; aber ich lasse seinem Verstande Gerechtigkeit widerfahren. Ich wiederhole, ich habe Sie aus all meiner Kraft verteidigt, soviel ich nur konnte. Und wozu wollen Sie sich denn durchaus als einen lächerlichen, langweiligen Menschen hinstellen? Treten Sie doch lieber mit einem würdevollen Lächeln an das Rednerpult als der Vertreter eines vergangenen Zeitalters, und erzählen Sie drei Anekdoten mit all Ihrem Witz, erzählen Sie sie so, wie nur Sie manchmal zu erzählen verstehen! Mögen Sie auch ein alter Mann sein, mögen Sie auch einem Zeitalter angehören, das sich überlebt hat, mögen Sie endlich auch hinter den Männern von heute rückständig sein; aber Sie werden das selbst in der Vorrede lächelnd einräumen, und alle werden sehen, daß Sie eine liebenswürdige, gutherzige, geistreiche Ruine sind, kurz, ein Mensch von altem Witz und Verstand, ein Mensch, der so weit vorgeschritten ist, daß er die ganze Torheit mancher Anschauungen, in denen er bisher befangen gewesen ist, selbst zu beurteilen vermag. Also, tun Sie mir den Gefallen; ich bitte Sie darum.«
»Chère, genug! Bitten Sie mich nicht; ich kann es nicht tun. Ich werde über die Madonna lesen; aber ich werde einen Sturm erregen, der entweder sie alle zu Boden wirft oder mich allein vernichtet!«
»Sicherlich Sie allein, Stepan Trofimowitsch.«
»Das ist dann eben mein Schicksal! Ich werde von dem gemeinen Knechte, von dem übelriechenden, liederlichen Bedienten erzählen, der als der erste mit einer Schere in der Hand auf die Leiter steigen und das göttliche Antlitz dieses Ideals zerschneiden wird, im Namen der Gleichheit, des Neides und ... der Verdauung. Möge mein Fluch wie ein Donner erschallen, und dann, dann ...«
»Ins Irrenhaus?«
»Vielleicht. Aber jedenfalls, mag ich nun unterliegen oder als Sieger hervorgehen, jedenfalls werde ich gleich an jenem Abend meinen Sack, meinen Bettelsack nehmen, werde alle meine Habseligkeiten, alle Ihre Geschenke, alle Pensionen und Versprechungen künftiger Wohltaten zurücklassen und zu Fuß davonwandern, um mein Leben bei einem Kaufmann als Hauslehrer zu beschließen oder irgendwo an einem Zaune zu verhungern. Weiter habe ich nichts mehr zu sagen. Alea jacta est!«
Er erhob sich von neuem.
»Ich war schon seit Jahren davon überzeugt,« sagte Warwara Petrowna mit funkelnden Augen, indem sie ebenfalls aufstand, »daß Ihr eigentlicher Lebenszweck darin besteht, zuletzt mich und mein Haus durch Verleumdung in Unehre zu bringen! Was wollen Sie mit Ihrer Hauslehrerstelle bei einem Kaufmann oder mit dem Tode am Zaun sagen? Bosheit, Verleumdung, nichts weiter!«
»Sie haben mich immer geringgeschätzt; aber ich werde als treuer Ritter meiner Dame enden; denn Ihre Meinung ist mir immer überaus teuer gewesen. Von diesem Augenblicke ab nehme ich nichts mehr an, und die Vorlesung werde ich unentgeltlich halten.«
»Wie dumm Sie reden!«
»Sie haben mich nie geachtet. Ich habe gewiß eine Menge Schwächen gehabt. Ja, ich habe bei Ihnen schmarotzt, um in der Sprache des Nihilismus zu reden; aber das Schmarotzen ist niemals das höchste Prinzip meines Handelns gewesen. Das hat sich so ganz von selbst gemacht, ich weiß nicht wie ... Ich habe immer gedacht, daß zwischen uns noch höhere Beziehungen beständen als das bloße Essen, und bin niemals, niemals ein Lump gewesen. Nun will ich mich also auf den Weg machen, um die Sache wieder zurechtzubringen! Auf einen späten Weg; draußen ist Spätherbst; der Nebel liegt auf den Feldern; der kalte Reif des Alters verdeckt den Pfad, den ich zu wandern habe, und der heulende Wind kündet mir, daß mein Grab nahe ist ... Aber auf den Weg will ich mich machen, auf den Weg, auf den neuen Weg:
›Voll von edler, reiner Liebe,
Treu der süßen Schwärmerei ...‹
Oh, lebe wohl, meine Schwärmerei! Zwanzig Jahre! Alea jacta est.«
Die Tränen brachen ihm aus den Augen und netzten seine Wangen; er griff nach seinem Hute.
»Ich verstehe kein Latein,« sagte Warwara Petrowna, die sich mit aller Kraft zusammennahm.
Wer weiß, vielleicht hätte auch sie am liebsten angefangen zu weinen; aber Unwille und Eigensinn gewannen noch einmal die Oberhand.
»Ich weiß nur eins, nämlich daß das alles bloß Geschwätz ist. Sie werden nie imstande sein, Ihre egoistischen Drohungen wahr zu machen. Sie werden nirgends hingehen, zu keinem Kaufmann, sondern werden ganz ruhig den Rest Ihres Lebens in meiner Nähe verbringen und Ihre Pension in Empfang nehmen und Dienstags Ihre Freunde, diese unglaublichen Menschen, bei sich sehen. Leben Sie wohl, Stepan Trofimowitsch!«
»Alea jacta est!« sagte er noch einmal, verbeugte sich tief vor ihr und ging, halb tot vor Aufregung, nach Hause.
Fußnoten
1 Ein ungründlicher Historiker, 1802-1872.
Anmerkung des Übersetzers.