Übrigens spielten hier auch noch andere Gründe mit. Peter Stepanowitsch hatte allerdings gegen seinen Vater einen bestimmten Anschlag im Kopfe. Meiner Ansicht nach beabsichtigte er, den alten Mann zur Verzweiflung zu bringen und ihn dadurch in einer gewissen Art zu einem offenen Skandal zu treiben. Daran war ihm um weiterer, andersartiger Ziele willen gelegen, von denen später die Rede sein wird. Ähnliche Pläne und Absichten mannigfacher Art hatten sich damals in großer Menge in seinem Kopfe angesammelt, allerdings hatten sie fast alle etwas Phantastisches. Außer Stepan Trofimowitsch hatte er noch einen anderen zum Märtyrer bestimmt. Überhaupt machte er nicht wenige Menschen zu Märtyrern, wie sich das in der Folge herausstellte; aber diesen hatte er besonders ins Auge gefaßt, und das war Herr v. Lembke selbst.
Andrei Antonowitsch v. Lembke gehörte zu jenem von der Natur begünstigten Volksstamme, von dem man in Rußland laut den Angaben des Kalenders einige Hunderttausende zählt, und der, vielleicht ohne es selbst zu wissen, bei uns in seiner ganzen Masse einen streng organisierten Bund bildet. Dieser Bund ist natürlich nicht planmäßig ausgedacht und ersonnen; aber er besteht in dem ganzen Volksstamm von selbst ohne Worte und Verabredungen als eine Art von moralischer Verpflichtung zu gegenseitiger Unterstützung aller Mitglieder dieses Volksstammes, immer und überall und unter allen Umständen. Andrei Antonowitsch hatte die Ehre gehabt, in einem jener vornehmen russischen Lehrinstitute erzogen zu werden, die von den Söhnen der reichsten und mit den besten Verbindungen ausgestatteten Familien besucht werden. Die Zöglinge dieser Anstalt wurden fast unmittelbar nach Absolvierung des Kursus dazu bestimmt, ziemlich bedeutende Ämter in einem Ressort des Staatsdienstes zu bekleiden. Andrei Antonowitsch hatte einen Onkel, welcher Ingenieuroberst, und einen andern, welcher Bäcker war; aber er drängte sich auf die vornehme Schule und traf dort eine Anzahl von Stammesgenossen ähnlicher Art. Er war ein munterer Kamerad; das Lernen fiel ihm ziemlich schwer; aber alle hatten ihn gern. Als er schon in den oberen Klassen war, hatten viele seiner Mitschüler, meist Russen, schon gelernt über sehr bedeutsame Fragen der Gegenwart zu disputieren, mit einer Miene, welche besagte, sowie sie würden abgegangen sein, würden sie alle diese Probleme erledigen; aber Andrei Antonowitsch fuhr immer noch fort, sich mit den unschuldigsten Schülerstreichen zu beschäftigen. Er brachte durch seine allerdings nicht sehr schlauen, mitunter nur derben Späße alle zum Lachen; aber eben dies hatte er sich zur Aufgabe gemacht. So zum Beispiel schneuzte er sich mit erstaunlichem Geräusche, wenn der Lehrer sich beim Unterrichte mit einer Frage an ihn wandte, wodurch er seine Mitschüler und den Lehrer erheiterte; oder er gab auf dem Schlafsaal ein lebendes Bild zum Besten, indem er irgendeine zynische Haltung annahm, die ein allgemeines Händeklatschen hervorrief; oder er spielte lediglich mit der Nase (und zwar recht geschickt) die Ouvertüre zu Fra Diavolo. Er zeichnete sich auch durch absichtliche Unsauberkeit aus, da er dies seltsamerweise für geistreich hielt. Im letzten Jahre begann er russische Verse zu schreiben. In seiner Muttersprache beging er zahlreiche grammatische Fehler, wie viele Angehörige dieses Volkes in Rußland. Diese Neigung zur Poesie brachte ihn in Verkehr mit einem mürrischen, schüchternen Klassengenossen, dem Sohne eines armen russischen Generals, der auf der Anstalt für einen zukünftigen großen Schriftsteller galt. Dieser übernahm ihm gegenüber die Rolle eines Gönners. Aber es begab sich, daß nach dem Abgange von der Anstalt, ungefähr drei Jahre nachher, dieser mürrische Kamerad, der seine dienstliche Laufbahn um der russischen Literatur willen aufgegeben hatte und infolgedessen schon in zerrissenen Stiefeln umherstolzierte und im Spätherbst im Sommerüberzieher vor Kälte mit den Zähnen klapperte, zufällig bei der Anitschkow-Brücke seinen früheren Protégé »Lembka« traf, wie diesen alle auf der Schule genannt hatten. Er erkannte ihn beim ersten Blick gar nicht wieder und blieb erstaunt stehen. Vor ihm stand ein tadellos gekleideter junger Mann, mit einem vorzüglich gepflegten Backenbarte von rötlicher Farbe, mit einem Pincenez, Lackstiefeln, ganz neuen Handschuhen, einem von Scharmer angefertigten stattlichen Überzieher und mit einer Aktenmappe unter dem Arme. Lembke sprach mit dem Schulkameraden freundlich, gab ihm seine Adresse an und lud ihn ein, ihn abends einmal zu besuchen. Dabei stellte sich auch heraus, daß er nicht mehr »Lembka« war, sondern v. Lembke. Dennoch ging der Schulkamerad zu ihm hin, vielleicht nur aus Bosheit. Auf der Treppe, die ziemlich häßlich und ganz und gar nicht prunkvoll, aber mit rotem Tuch belegt war, begegnete ihm der Portier, fragte ihn, zu wem er wolle, und zog dann eine nach oben führende Klingel, die laut ertönte. Aber statt der Reichtümer, die der Besucher zu sehen erwartete, fand er seinen »Lembka« in einem sehr kleinen Seitenzimmerchen, das ein dunkles, altes Aussehen hatte und durch einen großen dunkelgrünen Vorhang in zwei Teile geteilt war; möbliert war es mit zwar weichen, aber sehr alten dunkelgrünen Möbeln; an den schmalen, hohen Fenstern hingen dunkelgrüne Vorhänge. Herr v. Lembke wohnte bei einem sehr entfernten Verwandten, einem General, der ihn protegierte. Er empfing den Gast freundlich und benahm sich ernst und mit auserlesener Höflichkeit. Es wurde auch über Literatur gesprochen, aber in anständigen Grenzen. Ein Diener mit weißer Krawatte brachte dünnen Tee mit kleinen, runden, trockenen Küchelchen. Der Schulkamerad bat aus Bosheit um Selterwasser. Es wurde ihm gereicht, aber mit einiger Verzögerung, da Lembke darüber verlegen zu sein schien, daß er den Diener noch einmal rufen und ihm einen Befehl geben mußte. Übrigens fragte er selbst seinen Gast, ob er nicht einen Imbiß zu sich nehmen wolle, und war offenbar zufrieden, als dieser dankte und endlich wegging. Kurz gesagt: Lembke hatte seine Karriere begonnen und wohnte bei einem Stammesgenossen, der aber ein angesehener General war.
Zu jener Zeit hatte er sich in die fünfte Tochter des Generals verliebt, und seine Neigung schien erwidert zu werden. Aber dennoch gab man Amalie, als die Zeit da war, einem alten deutschen Fabrikbesitzer, einem alten Freunde des alten Generals, zur Frau. Andrei Antonowitsch vergoß darüber nicht viele Tränen, sondern klebte sich aus Pappe ein Theater zusammen. Der Vorhang ging in die Höhe; die Schauspieler traten heraus und gestikulierten mit den Händen; in den Logen saß das Publikum; das Orchester fuhr mittels einer kleinen Maschinerie mit den Violinbögen über die Violinen; der Kapellmeister schwang den Taktstock; die Kavaliere und Offiziere im Parkett klatschten in die Hände. Alles war aus Pappe gemacht; alles hatte v. Lembke selbst ersonnen und gearbeitet; er hatte an dem Theater ein halbes Jahr gearbeitet. Der General gab expreß eine intime Abendgesellschaft; das Theater wurde zur Schau gestellt; die sämtlichen fünf Töchter des Generals, einschließlich der neuvermählten Amalie, ihr Fabrikbesitzer und viele deutsche Fräulein und Frauen nebst deren Männern nahmen das Theater aufmerksam in Augenschein und lobten es sehr; nachher wurde getanzt. Lembke war sehr zufrieden und tröstete sich bald.
Die Jahre gingen dahin, und seine Karriere gestaltete sich günstig. Er bekleidete immer Ämter, bei denen man auf ihn aufmerksam wurde, und immer unter Landsleuten als Vorgesetzten, und erreichte schließlich eine für seine Jahre sehr ansehnliche Stellung. Er hatte schon lange den Wunsch sich zu verheiraten und hielt schon lange vorsichtig Umschau. Ohne Wissen seines Vorgesetzten sandte er der Redaktion einer Zeitschrift eine Novelle ein; aber sie wurde nicht gedruckt. Dafür klebte er einen ganzen Eisenbahnzug, und wieder kam etwas sehr Wohlgelungenes heraus: das Publikum ging mit Koffern und Reisetaschen, Kindern und Hunden aus dem Wartesaal und in die Waggons. Die Schaffner und Beamten liefen hin und her; eine Glocke ertönte, das Abfahrtssignal wurde gegeben, und der Zug setzte sich in Bewegung. Über diesem klugen Kunstwerke hatte er ein ganzes Jahr gesessen. Aber er mußte sich nun doch verheiraten. Der Kreis seiner Bekanntschaften war ein ziemlich ausgedehnter, vorzugsweise in der deutschen Gesellschaft; aber er verkehrte auch in der russischen Sphäre, natürlich bei Vorgesetzten. Endlich, als er schon achtunddreißig Jahre alt war, fiel ihm eine Erbschaft zu. Sein Onkel, der Bäcker, starb und hinterließ ihm testamentarisch dreizehntausend Rubel. Das kam ihm sehr zupaß. Herr v. Lembke war trotz seines ziemlich hohen Dienstranges ein sehr bescheidener Mensch. Er würde sich gern mit irgendeiner kleinen selbständigen Stellung begnügt haben, in der er etwa fiskalisches Holz nach seinen eigenen Dispositionen abzunehmen gehabt oder sich einer ähnlichen Annehmlichkeit erfreut hätte, und wäre darin ruhig sein Lebelang verblieben. Aber da kam ihm statt einer erwarteten Minna oder Ernestine auf einmal Julija Michailowna in den Wurf. Seine Karriere erhielt mit einem Schlage für ihn eine erhöhte Wichtigkeit. Der bescheidene, gewissenhafte v. Lembke fühlte, daß auch er selbstbewußt sein konnte.
Julija Michailowna besaß nach alter Rechnung zweihundert Seelen und erfreute sich außerdem guter Protektion. Auf der andern Seite war v. Lembke ein hübscher Mann, und sie hatte bereits das vierzigste Lebensjahr überschritten. Es ist bemerkenswert, daß er sich ganz allmählich in sie verliebte und tatsächlich um so mehr, je mehr er sich in seine Stellung als Bräutigam hineinfand. Am Morgen des Hochzeitstages sandte er ihr Verse. Ihr gefiel dies alles sehr, selbst die Verse: vierzig Jahre sind kein Spaß. Bald darauf erhielt er ein höheres Amt und einen höheren Orden und wurde in der Folge zum Gouverneur unseres Gouvernements ernannt.
Als sie sich anschickten, zu uns zu ziehen, begann Julija Michailowna eifrig an ihrem Gatten zu arbeiten. Er war nach ihrer Meinung nicht unbefähigt, verstand, in einen Salon einzutreten und sich in gutem Lichte zu zeigen, auch tiefsinnig zuzuhören und zu schweigen; er besaß sehr anständige Manieren, konnte sogar Reden halten, hatte sogar einige Gedankenpartikelchen aufzuweisen und trug die Politur des neuesten unumgänglich notwendigen Liberalismus. Aber doch beunruhigte es sie, daß er bereits recht unregsam war und nach einem so langen Strebertum ein entschiedenes Ruhebedürfnis zu empfinden begann. Sie wollte ihm ihren Ehrgeiz einflößen; aber da begann er auf einmal eine Kirche zu kleben: der Pastor trat heraus, um eine Predigt zu halten; die Kirchenbesucher hörten, fromm die Hände faltend, zu; eine Dame trocknete sich mit dem Taschentuche die Tränen; ein alter Mann schneuzte sich; gegen Ende ertönte ein kleines Orgelwerk, das trotz der Kosten in der Schweiz auf Bestellung angefertigt und von dort bereits hergeschickt war. Julija Michailowna bekam einen ordentlichen Schreck, als sie von dieser Arbeit erfuhr, nahm sie ihrem Manne sogleich weg und schloß sie bei sich in die Kommode ein; statt dessen erlaubte sie ihm, Romane zu schreiben, aber nur insgeheim. Von der Zeit an begann sie, nur auf sich selbst zu rechnen. Das Unglück war dabei nur, daß sie gar zu unbesonnen war und nicht Maß zu halten verstand. Das Schicksal hatte sie gar zu lange eine alte Jungfer bleiben lassen. Eine Idee nach der andern keimte nun in ihrem ehrgeizigen und etwas reizbaren Geiste. Sie schmiedete Pläne; sie wollte unbedingt das Gouvernement regieren, sah sich schon vorahnend von einer Schar von Anhängern umgeben und wählte sich eine politische Richtung. Herr v. Lembke wurde sogar ein wenig ängstlich, wiewohl er mit seinem Beamteninstinkt bald herausfühlte, daß er für sein Ansehen als Gouverneur eigentlich keinen Anlaß zu Befürchtungen habe. Die ersten zwei, drei Monate vergingen sogar in recht befriedigender Weise. Aber da erschien Peter Stepanowitsch auf der Bildfläche, und es begab sich etwas sehr Sonderbares.
Die Sache war die, daß der junge Werchowenski gleich von seinem ersten Auftreten an eine entschiedene Respektlosigkeit gegen Andrei Antonowitsch an den Tag legte und ihm gegenüber ganz sonderbare Rechte in Anspruch nahm, Julija Michailowna aber, die doch sonst immer so eifersüchtig darauf bedacht war, die Autorität ihres Gatten zu wahren, überhaupt nichts davon zu bemerken schien; wenigstens maß sie der Sache keine Bedeutung bei. Der junge Mann wurde ihr Günstling, aß und trank im Hause, ja er schlief sogar dort mitunter. Herr v. Lembke suchte sich gegen ihn zu wehren, nannte ihn in Anwesenheit anderer »junger Mann«, klopfte ihm gönnerhaft auf die Schulter, machte aber damit auf ihn keinen Eindruck. Peter Stepanowitsch lachte, selbst wenn er anscheinend ernst sprach, ihm immer geradezu ins Gesicht und sagte ihm in Gegenwart anderer die unerwartetsten Dinge. Als v. Lembke eines Tages nach Hause zurückkehrte, fand er den jungen Menschen uneingeladen in seinem Arbeitszimmer, wo er auf dem Sofa schlief. Dieser erklärte, er habe ihm einen Besuch machen wollen und sei, da er ihn nicht zu Hause getroffen habe, zufällig eingeschlafen. Herr v. Lembke fühlte sich beleidigt und beklagte sich von neuem bei seiner Gemahlin; aber diese lachte ihn wegen seiner Empfindlichkeit aus und bemerkte anzüglich, er selbst verstehe offenbar nicht, den richtigen Standpunkt einzunehmen; ihr gegenüber wenigstens erlaube sich »dieser Junge« niemals Familiaritäten; übrigens besitze er »eine hübsche Naivität und Frische, wenn auch keine gesellschaftlichen Formen«. Herr v. Lembke schmollte. Diesmal brachte sie eine Versöhnung zwischen den beiden zustande. Peter Stepanowitsch bat nicht eigentlich um Entschuldigung, sondern half sich durch einen derben Witz heraus, den man unter andern Umständen für eine neue Beleidigung hätte halten können, der aber im vorliegenden Falle als ein Ausdruck von Reue aufgefaßt wurde. Der schwache Punkt lag darin, daß Andrei Antonowitsch gleich zu Beginn einen Fehler begangen, nämlich dem andern von seinem Roman Mitteilung gemacht hatte. Da er in ihm einen jungen Mann von feurigem Temperamente und poetischen Empfindungen zu erkennen geglaubt und sich schon längst einen Zuhörer gewünscht hatte, so hatte er gleich in den ersten Tagen der Bekanntschaft ihm eines Abends zwei Kapitel vorgelesen. Peter Stepanowitsch hatte zugehört, ohne seine Langeweile zu verbergen, hatte unhöflich gegähnt, an keiner Stelle ein Lob ausgesprochen, aber beim Weggehen sich das Manuskript ausgebeten, um sich in Muße eine Meinung darüber bilden zu können, und Andrei Antonowitsch hatte es ihm überlassen. Seitdem hatte er das Manuskript nicht zurückgegeben, obwohl er täglich ins Haus kam, und auf Fragen danach nur mit Lachen geantwortet; zuletzt hatte er erklärt, er habe es gleich damals auf der Straße verloren. Als Julija Michailowna davon erfuhr, wurde sie auf ihren Mann gewaltig böse.
»Hast du ihm am Ende gar auch von der Kirche etwas gesagt?« fragte sie aufgeregt und ängstlich.
Herr v. Lembke wurde entschieden nachdenklich; aber das Nachdenken war ihm schädlich und war ihm von den Ärzten verboten worden. Abgesehen davon, daß ihm die Verwaltung des Gouvernements viel Mühe und Sorge machte, wovon wir weiter unten sprechen werden, war da noch ein besonderer Umstand, und es litt dabei sogar sein Herz und nicht nur sein Ehrgefühl als hoher Beamter. Als Andrei Antonowitsch seine Ehe einging, hielt er es für ganz ausgeschlossen, daß in seiner Familie künftig einmal Streitigkeiten und Zerwürfnisse vorkommen könnten. Diese Vorstellung hatte er sein ganzes Leben über gehabt, wenn er von einer Minna und Ernestine träumte. Er fühlte, daß er nicht imstande sei, häusliche Gewitter zu ertragen. Julija Michailowna sprach sich endlich mit ihm offen aus.
»Zu ärgern brauchst du dich doch darüber nicht,« sagte sie, »schon deswegen nicht, weil du dreimal so verständig bist als er und auf der gesellschaftlichen Stufenleiter unermeßlich hoch über ihm stehst. In diesem Jungen stecken noch viele Überreste früherer freidenkerischer übler Angewohnheiten oder nach meiner Auffassung einfach viel Unart; aber so plötzlich ist dagegen nichts zu tun; da muß man Schritt für Schritt vorgehen. Man muß unsere jungen Leute achten und schätzen; ich wirke durch Freundlichkeit auf sie ein und halte sie so am Rande des Abgrundes zurück.«
»Aber er redet ganz tolle Geschichten,« erwiderte v. Lembke. »Ich kann mich nicht tolerant benehmen, wenn er in meiner Gegenwart und vor den Ohren anderer Leute behauptet, die Regierung befördere absichtlich das Branntweintrinken, um das Volk zu verdummen und dadurch von einem Aufstande abzuhalten. Stelle dir vor, was ich für eine Rolle spiele, wenn ich so etwas in Gegenwart aller Leute anhören muß!«
Als v. Lembke dies sagte, erinnerte er sich an ein Gespräch, das er unlängst mit Peter Stepanowitsch gehabt hatte. Mit der unschuldigen Absicht, diesen durch Bekundung einer liberalen Gesinnung zu entwaffnen, hatte er ihm seine eigene geheime Sammlung von allen möglichen in Rußland und im Auslande erschienenen revolutionären Proklamationen gezeigt; er hatte diese Papiere seit dem Jahre 1859 mit großer Sorgfalt gesammelt, nicht sowohl aus innerem Interesse als vielmehr einfach, weil er sich davon möglicherweise einen Nutzen versprach. Peter Stepanowitsch, der seine Absicht erriet, bemerkte grob, in einer einzigen Zeile der neuen Proklamationen stecke mehr Sinn und Verstand als in einer ganzen Regierungskanzlei, »die Ihrige nicht ausgenommen«.
Lembke fühlte sich verletzt.
»Aber das ist für uns noch verfrüht, stark verfrüht,« erwiderte er in beinah bittendem Tone, indem er auf die Proklamationen wies.
»Nein, es ist nicht verfrüht; Sie fürchten sich ja davor; also ist es nicht verfrüht.«
»Aber hier steht doch zum Beispiel eine Aufforderung zur Zerstörung der Kirchen.«
»Warum denn nicht? Sie sind ja doch ein verständiger Mensch und glauben gewiß selbst an nichts, sehen aber recht gut ein, daß der Glaube für Sie notwendig ist, damit das Volk dumm bleibt. Die Wahrheit ist ehrenhafter als die Lüge.«
»Einverstanden, einverstanden, ich bin mit Ihnen vollkommen einverstanden; aber das ist für uns noch verfrüht, verfrüht,« versetzte v. Lembke mit gerunzelter Stirn.
»Aber was sind Sie denn für ein Regierungsbeamter, wenn Sie sich selbst damit einverstanden erklären, daß das Volk die Kirchen zerstören und mit Keulen bewaffnet nach Petersburg ziehen soll, und nur über den Zeitpunkt, wann das geschehen soll, anderer Meinung sind?«
Als v. Lembke sich in so grober Weise hatte fangen lassen, war er sehr pikiert.
»So verhält sich das nicht, so verhält sich das nicht,« sagte er, in seinem Selbstgefühl verletzt und immer mehr in Eifer geratend. »Sie als junger Mensch, und namentlich bei Ihrer Unbekanntschaft mit unseren Zielen, befinden sich in einem großen Irrtum. Sehen Sie, liebster Peter Stepanowitsch; Sie nennen uns Regierungsbeamte? Richtig. Selbständige Beamte? Richtig. Aber erlauben Sie, wie verfahren wir? Auf uns liegt die Verantwortung, und alles in allem genommen, dienen wir der gemeinsamen Sache ebenso wie Sie jungen Leute. Wir stützen nur das, was Sie wankend machen, und was ohne unsere Tätigkeit nach allen Seiten auseinanderfallen würde. Wir sind nicht Ihre Feinde, durchaus nicht; wir sagen zu Ihnen: ›Gehen Sie vorwärts, wirken Sie fortschrittlich; rütteln Sie sogar an allem Alten, das der Umgestaltung bedarf; aber wir werden Sie, wenn es erforderlich ist, auch in den notwendigen Grenzen halten und Sie dadurch vor sich selbst retten, weil Sie ohne uns nur Rußland erschüttern und seines hohen Ansehens berauben würden; unsere Aufgabe aber besteht gerade darin, für die Erhaltung dieses hohen Ansehens zu sorgen. Seien Sie überzeugt, daß wir und Sie einander wechselseitig nötig haben! In England haben die Whigs und die Torys einander ebenfalls nötig. Nun also: wir sind die Torys und Sie die Whigs.‹ Das ist meine Auffassung.«
Andrei Antonowitsch wurde sogar pathetisch. Er liebte es, noch von Petersburg her, verständig und liberal zu reden, und hier (was die Hauptsache war) behorchte ihn niemand. Peter Stepanowitsch schwieg und benahm sich ungewöhnlich ernsthaft. Das regte den Redner noch mehr an.
»Wissen Sie wohl,« fuhr er fort, indem er in seinem Arbeitszimmer auf und ab ging, »wissen Sie wohl, daß ich, ›der Herr des Gouvernements‹, wegen der Menge meiner Obliegenheiten keine einzige von ihnen wirklich zu erfüllen vermag, andrerseits aber ebenso wahrheitsgemäß sagen kann, daß ich hier nichts zu tun habe? Das ganze Geheimnis liegt darin, daß hier alles von den Anschauungen der Regierung abhängt. Wenn die Regierung zum Beispiel aus Politik oder zur Besänftigung der Leidenschaften die Republik ausrufen und andrerseits dementsprechend die Amtsgewalt der Gouverneure vergrößern sollte, so werden wir Gouverneure uns auch mit der Republik abfinden; und was sage ich Republik: mit jeder beliebigen Staatsform werden wir uns abfinden; ich wenigstens fühle, daß ich dazu imstande bin ... Kurz, wenn mir die Regierung telegraphisch eine activité dévorante anbefiehlt, so werde ich eine activité dévorante leisten. Ich habe hier den Leuten gerade ins Gesicht gesagt: ›Meine Herren, zur Herstellung des Gleichgewichts und zum Gedeihen aller Institutionen des Gouvernements ist eines unumgänglich notwendig: die Vergrößerung der Amtsgewalt des Gouverneurs.‹ Sehen Sie, es ist notwendig, daß alle diese Institutionen, landschaftliche und gerichtliche, sozusagen ein Doppelleben führen, das heißt, es ist notwendig, daß sie existieren (ich gebe zu, daß das erforderlich ist), nun, und andrerseits ist es notwendig, daß sie nicht existieren. Immer nach der Anschauung der Regierung geurteilt. Kommt ein Erlaß, daß diese Institutionen notwendig seien, so sind sie sofort bei mir faktisch vorhanden; geht die Notwendigkeit vorüber, so wird niemand diese Institutionen bei mir finden. So verstehe ich die activité dévorante, und eine solche ist ohne Vergrößerung der Amtsgewalt des Gouverneurs nicht möglich. Ich spreche mit Ihnen ganz vertraulich. Wissen Sie, ich habe bereits in Petersburg auf die Notwendigkeit einer besonderen Schildwache vor dem Hause des Gouverneurs hingewiesen. Ich warte auf die Antwort.«
»Sie brauchen zwei Schildwachen,« sagte Peter Stepanowitsch.
»Warum zwei?« fragte v. Lembke, indem er vor ihm stehen blieb.
»Ich bitte Sie, eine ist zu wenig, damit man Sie hochschätzt. Sie brauchen unbedingt zwei.«
Andrei Antonowitsch verzog das Gesicht.
»Sie ... Sie erlauben sich denn aber doch etwas zuviel, Peter Stepanowitsch. Sie mißbrauchen meine Gutherzigkeit um Stichelreden zu führen und sozusagen den bourru bienfaisant zu spielen ...«
»Na, meinetwegen,« murmelte Peter Stepanowitsch; »Sie bahnen uns damit doch nur den Weg und ermöglichen uns den Erfolg.«
»Wen meinen Sie mit ›uns‹, und von was für einem Erfolge reden Sie?« fragte v. Lembke, ihn erstaunt anstarrend; aber er erhielt keine Antwort.
Als Julija Michailowna einen Bericht über dieses Gespräch anhörte, war sie sehr unzufrieden.
»Aber«, verteidigte sich v. Lembke, »ich konnte doch deinen Günstling nicht wie einen Untergebenen behandeln, und noch dazu unter vier Augen ... Da konnte es leicht kommen, daß ich ein Wort zuviel sagte ... aus Gutherzigkeit.«
»Aus übergroßer Gutherzigkeit. Ich habe gar nicht gewußt, daß du eine Sammlung von Proklamationen hast; tu mir den Gefallen und zeige sie mir!«
»Aber ... aber er hat mich gebeten, sie ihm auf einen Tag nach Hause zu geben.«
»Und das hast du wirklich wieder getan!« rief Julija Michailowna ärgerlich. »Was für eine Taktlosigkeit!«
»Ich werde sofort zu ihm hinschicken und sie zurückholen lassen.«
»Er wird sie nicht zurückgeben.«
»Ich werde es verlangen!« brauste v. Lembke auf und sprang sogar von seinem Platze in die Höhe. »Wer ist er, daß man sich so vor ihm fürchten müßte, und wer bin ich, daß ich nichts mehr zu tun wagen sollte?«
»Setze dich hin und beruhige dich!« hemmte Julija Michailowna seinen Zornesausbruch. »Ich will auf deine erste Frage antworten: er ist mir vorzüglich empfohlen worden; er besitzt gute Fähigkeiten und spricht manchmal sehr verständige Dinge. Karmasinow hat mir versichert, dieser Peter Stepanowitsch habe fast überall seine Verbindungen und übe auf die jungen Leute in der Residenz einen bedeutenden Einfluß aus. Wenn ich nun durch ihn alle an mich heranziehe und um mich gruppiere, dann rette ich sie vom Verderben, indem ich ihrem Ehrgeize einen neuen Weg zeige. Er ist mir von ganzem Herzen ergeben und gehorcht mir in allen Dingen.«
»Aber während man sie so freundlich behandelt, können sie ja weiß der Teufel was alles anrichten! Allerdings, das ist eine Idee ...« verteidigte v. Lembke sich immer noch unruhig. »Aber ... aber da höre ich, daß im Kreise B*** Proklamationen erschienen sind.«
»Ach, dieses Gerücht ging ja schon im Sommer; Proklamationen, falsches Papiergeld, was nicht noch alles; aber eingeliefert ist dir bisher nichts davon. Wer hat es dir gesagt?«
»Ich habe es von v. Blümer gehört.«
»Ach, verschone mich mit deinem Blümer und erwähne ihn, bitte, nie wieder!«
Julija Michailowna regte sich sehr auf und war sogar einen Augenblick nicht imstande zu reden. Herr v. Blümer war ein Beamter der Gouvernementskanzlei, den sie ganz besonders haßte. Davon später.
»Bitte, beunruhige dich nicht über Werchowenski!« schloß sie das Gespräch. »Wenn er an irgendwelchen Dummheiten beteiligt wäre, so würde er nicht so sprechen, wie er mit dir und mit allen hier spricht. Leute, die hochtönende Reden führen, sind nicht gefährlich, und ich kann sogar sagen: sollte etwas passieren, so würde ich die erste sein, die durch ihn etwas davon erfährt. Er ist mir fanatisch ergeben, ganz fanatisch.«
Den Ereignissen vorgreifend, bemerke ich, daß, wenn Julija Michailowna nicht einen solchen Dünkel und einen solchen Ehrgeiz besessen hätte, vielleicht das, was diese schändlichen Burschen bei uns nachher angerichtet haben, nicht geschehen wäre. Sie trägt dabei an vielem die Schuld.