VI.


Geredet wurde übrigens nur wenig; größtenteils wurde geschrien. Ich habe jetzt nicht mehr genau im Kopfe, in welcher Reihenfolge dies alles damals vorging; denn es herrschte ein gewaltiger Wirrwarr. Stepan Trofimowitsch rief etwas auf französisch und schlug vor Erstaunen die Hände zusammen; aber Warwara Petrowna hatte keine Lust, sich mit ihm abzugeben. Sogar Mawriki Nikolajewitsch brummte ein paar abgebrochene Bemerkungen schnell vor sich hin. Aber den größten Eifer von allen entwickelte Peter Stepanowitsch; er gab sich unter vielen Gestikulationen die denkbar größte Mühe, Warwara Petrowna von etwas zu überzeugen; aber ich konnte lange Zeit nichts davon verstehen. Auch an Praskowja Iwanowna wandte er sich und an Lisaweta Nikolajewna; er schrie in seinem Eifer sogar seinem Vater etwas zu; kurz, er bewegte sich geschäftig im ganzen Zimmer umher. Warwara Petrowna, die ganz rot im Gesicht geworden war, sprang von ihrem Platze auf und schrie Praskowja Iwanowna zu: »Hast du gehört, hast du gehört, was er hier eben zu ihr gesagt hat?« Aber diese war nicht mehr imstande zu antworten und murmelte nur mit abwehrenden Handbewegungen etwas vor sich hin. Die Ärmste hatte ihre eigene Sorge: sie drehte alle Augenblicke den Kopf nach Lisa hin und blickte sie in grenzenloser Angst an; aber aufzustehen und fortzufahren, bevor sich ihre Tochter erhob, das wagte sie nicht. Inzwischen ließ der Hauptmann deutlich den Wunsch erkennen, sich fortzuschleichen. Dies bemerkte ich. Er befand sich von dem Augenblicke an, wo Nikolai Wsewolodowitsch erschienen war, zweifellos in starker Angst; aber Peter Stepanowitsch ergriff ihn am Arme und ließ ihn nicht weggehen.

»Das ist unbedingt notwendig, unbedingt notwendig,« redete er in seiner gewandten Weise auf Warwara Petrowna ein, immer noch bemüht, sie zu überzeugen.

Er stand vor ihr; sie hatte sich bereits wieder auf den Lehnstuhl gesetzt, und ich erinnere mich, daß sie ihm eifrig zuhörte; er hatte dies erreicht und ihre Aufmerksamkeit gefesselt.

»Das ist unbedingt notwendig. Sie sehen selbst, Warwara Petrowna, daß hier ein Mißverständnis vorliegt; dem Anscheine nach ist hier vieles wunderbar, in Wirklichkeit aber ist die Sache sonnenklar und außerordentlich einfach. Ich bin mir sehr wohl bewußt, daß mich niemand ermächtigt hat, die Sache zu erzählen, und daß ich mich vielleicht lächerlich mache, wenn ich mich selbst dazu aufdränge. Aber erstens legt Nikolai Wsewolodowitsch selbst dieser Sache keine Bedeutung bei, und dann gibt es Fälle, in denen es dem Betreffenden schwer wird, sich zu einer persönlichen Darlegung zu entschließen, und dies notwendigerweise ein dritter übernehmen muß, dem es leichter wird, gewisse delikate Dinge auszusprechen. Glauben Sie mir, Warwara Petrowna, Nikolai Wsewolodowitsch hat ganz recht gehandelt, wenn er Ihnen soeben auf Ihre Frage keine erschöpfende Erklärung gab, trotzdem die Sache eine Lappalie ist; ich kenne sie schon von Petersburg her. Außerdem macht die ganze Geschichte ihm nur Ehre, wenn man dieses unbestimmte Wort ›Ehre‹ einmal gebrauchen soll ...«

»Wollen Sie sagen, daß Sie Zeuge eines Ereignisses gewesen sind, aus dem diese unverständliche Situation hervorgegangen ist?« fragte Warwara Petrowna.

»Zeuge und Teilnehmer,« versicherte Peter Stepanowitsch eilig.

»Wenn Sie mir Ihr Wort darauf geben können, daß Nikolai Wsewolodowitsch, der mir nichts zu verbergen pflegt, dadurch nicht in seinem Zartgefühl verletzt wird, und wenn Sie außerdem davon überzeugt sind, daß Sie ihm damit sogar einen Gefallen erweisen ...«

»Ganz bestimmt erweise ich ihm damit einen Gefallen, und eben deswegen wird es mir ein besonderes Vergnügen sein. Ich bin überzeugt, daß er selbst mich darum bitten würde.«

Das aufdringliche Verlangen dieses plötzlich vom Himmel herabgefallenen Herrn, fremde Erlebnisse zu erzählen, war allerdings recht sonderbar und verstieß gegen die üblichen Formen des Verkehrs. Aber er hatte nun einmal Warwara Petrowna an seiner Angel gefangen, indem er ihren wundesten Punkt berührt hatte. Ich kannte damals den Charakter dieses Menschen noch nicht völlig und noch weniger seine Absichten.

»Nun, dann werde ich zuhören,« sagte Warwara Petrowna zurückhaltend und vorsichtig; ihre Nachgiebigkeit kam ihr offenbar schwer an.

»Die Geschichte ist nur kurz; man kann sogar sagen, daß es eigentlich gar keine Geschichte ist,« begann das Wortgeriesel. »Übrigens könnte ein Romanschriftsteller, wenn er Langeweile hat, daraus einen Roman zurechtkneten. Es ist eine ganz interessante kleine Affäre, Praskowja Iwanowna, und ich bin überzeugt, daß Lisaweta Nikolajewna sie mit lebhafter Teilnahme anhören wird, weil darin viele wenn auch nicht wunderbare, so doch wunderliche Dinge vorkommen. Vor fünf Jahren lernte Nikolai Wsewolodowitsch in Petersburg diesen Herrn kennen, ebendiesen Herrn Lebjadkin hier, der mit offenem Munde dasteht und anscheinend soeben große Lust hatte zu verschwinden. Entschuldigen Sie, Warwara Petrowna! Ich rate Ihnen übrigens nicht, sich davonzumachen, Herr Proviantbeamter a.D. (Sie sehen, ich erinnere mich Ihrer ganz genau). Sowohl mir als auch Nikolai Wsewolodowitsch sind Ihre hiesigen Streiche sehr gut bekannt, und Sie werden, vergessen Sie das nicht, Rechenschaft davon ablegen müssen. Ich bitte noch einmal um Entschuldigung, Warwara Petrowna. Nikolai Wsewolodowitsch nannte diesen Herrn damals seinen Falstaff; das muß wohl«, fügte er zur Erklärung hinzu, »früher einmal ein burlesker Charakter gewesen sein, über den alle sich lustig machten, und der selbst nichts dagegen hatte, daß alle über ihn lachten, wenn sie ihm nur Geld gaben. Nikolai Wsewolodowitsch führte damals in Petersburg ein sozusagen spöttisches Leben; mit einem andern Ausdruck kann ich es nicht bezeichnen: Blasiertheit liegt ihm fern, eine ernste Beschäftigung aber verschmähte er damals. Ich rede nur von der damaligen Zeit, Warwara Petrowna. Dieser Lebjadkin hatte eine Schwester, ebendieselbe, die soeben hier gesessen hat. Bruder und Schwester hatten keine eigene Wohnung und nomadisierten bei anderen Leuten. Er trieb sich in den Bogengängen des Kaufhofes umher, wobei er stets seine frühere Uniform trug, und hielt anständig aussehende Passanten an, und was er bekam, vertrank er. Seine Schwester nährte sich wie die Vögel unter dem Himmel. Sie half in fremden Wohnungen und verrichtete Magddienste für den notwendigsten Unterhalt. Es war ein wüstes, unordentliches Leben, von dem ich keine genauere Schilderung geben will; aber an diesem Leben beteiligte sich damals infolge einer wunderlichen Laune auch Nikolai Wsewolodowitsch. Ich rede nur von der damaligen Zeit, Warwara Petrowna, und was die wunderliche Laune anlangt, so ist das sein eigener Ausdruck. Er ist gegen mich sehr offenherzig. Auf Mademoiselle Lebjadkina, mit der Nikolai Wsewolodowitsch eine Zeitlang häufig zusammentraf, machte sein Äußeres großen Eindruck. Er war sozusagen ein Brillant auf dem schmutzigen Hintergrunde ihres Lebens. Ich verstehe mich schlecht auf die Schilderung von Gefühlen und gehe deshalb darüber hinweg; aber elende Gesellen machten das Mädchen sofort zur Zielscheibe ihres Spottes, und da versank sie in Traurigkeit. Man hatte sich dort überhaupt von jeher über sie lustig gemacht; aber früher hatte sie das gar nicht bemerkt. Ihr Kopf war schon damals in Unordnung, wenn auch nicht so wie jetzt. Es ist Grund zu der Annahme vorhanden, daß sie in ihrer Kindheit durch eine Wohltäterin eine leidliche Erziehung und Bildung erhalten hat. Nikolai Wsewolodowitsch wandte ihr nie die geringste Aufmerksamkeit zu und spielte lieber mit alten schmutzigen Karten um eine Viertelkopeke Preference mit kleinen Beamten. Aber einmal, als sie von einem solchen Beamten beleidigt wurde, da faßte er, ohne viel zu fragen, diesen am Rockkragen und warf ihn aus dem zweiten Stockwerk durchs Fenster. Von ritterlicher Entrüstung zugunsten der beleidigten Unschuld war dabei nicht die Rede; der ganze Vorgang spielte sich unter allgemeinem Gelächter ab, und am meisten von allen lachte Nikolai Wsewolodowitsch selbst; und als alles glücklich abgelaufen war, versöhnten sie sich und fingen an, Punsch zu trinken. Aber die verfolgte Unschuld selbst vergaß diese Begebenheit nicht. Natürlich endete die Sache mit einer vollständigen Zerrüttung ihrer geistigen Fähigkeiten. Ich wiederhole, ich verstehe mich schlecht auf die Schilderung von Gefühlen; aber hier war die Hauptsache ein Hang zu phantastischer Träumerei. Und Nikolai Wsewolodowitsch nährte wie mit Absicht diesen Hang bei ihr noch mehr: statt über sie zu lachen, begann er auf einmal ihr mit überraschender Hochachtung zu begegnen. Kirillow, der dort lebte (er ist ein außerordentliches Original, Warwara Petrowna, und ein äußerst wortkarger Mensch; Sie werden ihn vielleicht einmal zu sehen bekommen; denn er wohnt jetzt hier), na also dieser Kirillow, der gewöhnlich immer schweigt, der wurde da auf einmal hitzig und sagte, wie ich mich erinnere, zu Nikolai Wsewolodowitsch, dieser behandle das Fräulein wie eine Marquise und richte sie damit vollständig zugrunde. Ich füge hinzu, daß Nikolai Wsewolodowitsch vor diesem Kirillow eine gewisse Achtung empfand. Und was meinen Sie, daß er ihm antwortete? ›Sie glauben, Herr Kirillow,‹ sagte er, ›daß ich mich über sie lustig mache; aber seien Sie versichert, ich schätze sie wirklich hoch; denn sie ist besser als wir alle.‹ Und wissen Sie, das sagte er in durchaus ernstem Tone. Dabei hatte er in diesen zwei, drei Monaten außer ›Guten Tag‹ und ›Adieu‹ in Wirklichkeit zu ihr kein Wort gesprochen. Ich, der ich damals dort lebte, erinnere mich zuverlässig, daß sie schließlich dahin gelangte, ihn für ihren Liebhaber zu halten, der einzig deswegen nicht wage, sie zu entführen, weil er viele Feinde habe oder in seiner Familie auf Hindernisse stoße oder aus ähnlichen Gründen. Es wurde dort viel darüber gelacht. Die Sache endete damit, daß Nikolai Wsewolodowitsch, als er damals hierher reisen mußte, vorher für ihren Unterhalt sorgte, und zwar in der Weise, daß er ihr eine ziemlich beträchtliche jährliche Pension aussetzte, mindestens dreihundert Rubel, wenn nicht mehr. Kurz, wir können annehmen, daß das alles von seiner Seite ein mutwilliges Spiel war, die Laune eines vor der Zeit müde Gewordenen, oder auch schließlich, wie Kirillow sagte, eine neue psychologische Studie eines Übersättigten, um zu sehen, wie weit man einen geistesgestörten Krüppel treiben kann. ›Sie haben sich‹, sagte Kirillow, ›absichtlich das elendeste Wesen ausgesucht, ein verkrüppeltes Wesen, das lebenslänglich nur Schande und Schläge kennen gelernt hat, und von dem Sie obendrein wissen, daß es in komischer Weise in Sie verliebt ist; und nun machen Sie sich absichtlich daran, dieses Mädchen zu betrügen, lediglich um zu sehen, was dabei herauskommt!‹ Schließlich: trifft denn einen Mann wirklich ein so besonderer Vorwurf, wenn eine geistesgestörte Frauensperson, mit der er, wohlgemerkt, die ganze Zeit über kaum ein paar Worte gewechselt hatte, auf phantastische Ideen gerät? Es gibt Dinge, Warwara Petrowna, über die man nicht verständig sprechen kann, ja, über die überhaupt zu reden unverständig ist. Nun, mag es schließlich auch eine wunderliche Laune gewesen sein; aber einen stärkeren Ausdruck kann man jedenfalls nicht dafür anwenden; und trotzdem hat man jetzt eine Skandalgeschichte daraus gemacht ... Es ist mir zum Teil bekannt, Warwara Petrowna, was hier vorgeht.«

Der Erzähler brach plötzlich ab und wollte sich an Lebjadkin wenden; aber Warwara Petrowna hielt ihn davon zurück; sie befand sich in einer hochgradigen Erregung.

»Sind Sie zu Ende?« fragte sie.

»Nein, noch nicht; um der Vollständigkeit wegen muß ich, wenn Sie erlauben, diesen Herrn hier über etwas befragen ... Sie werden sofort sehen, um was es sich handelt, Warwara Petrowna.«

»Genug davon; lassen Sie das bis nachher; warten Sie einen Augenblick; ich bitte Sie. O wie gut habe ich daran getan, daß ich Sie reden ließ!«

»Und bitte, beachten Sie das wohl, Warwara Petrowna,« rief Peter Stepanowitsch erregt: »Konnte etwa Nikolai Wsewolodowitsch Ihnen dies alles selbst vorhin auseinandersetzen, als Antwort auf Ihre Frage, die vielleicht etwas zu schroff war?«

»Ja, das war sie!«

»Und hatte ich nicht recht, wenn ich sagte, daß es in manchen Fällen für einen dritten weit leichter ist, eine Erklärung zu geben, als für den Beteiligten selbst?«

»Ja, ja! ... Aber in einem Punkte haben Sie sich geirrt und irren sich, wie ich zu meinem Bedauern sehe, auch noch.«

»Wirklich? Worin denn?«

»Sehen Sie ... Aber wollen Sie sich denn nicht setzen, Peter Stepanowitsch?«

»Oh, wie es Ihnen beliebt; ich bin allerdings müde; ich danke Ihnen.«

Im Nu hatte er einen Lehnstuhl herbeigezogen und so gedreht, daß er zwischen Warwara Petrowna auf der einen Seite und Praskowja Iwanowna am Tische auf der andern Seite saß und Herrn Lebjadkin sich gegenüber hatte, von dem er seine Augen auch nicht einen Augenblick wegwandte.

»Sie irren sich darin, daß Sie dies eine wunderliche Laune nennen ...«

»Oh, wenn es nur das ist ...«

»Nein, nein, nein, warten Sie!« hielt ihn Warwara Petrowna zurück, die sich offenbar zu einer längeren, affektvollen Äußerung anschickte.

Sobald Peter Stepanowitsch dies bemerkte, war er sofort ganz Ohr.

»Nein, das war etwas Höheres als eine wunderliche Laune, und ich versichere Sie, sogar etwas Heiliges! Er ist ein stolzer, in früher Jugend gekränkter Mensch, der schließlich dahin gelangt ist, jenes ›spöttische Leben‹ zu führen, von dem Sie so treffend gesprochen haben; kurz, er ist ein Prinz Harry, mit dem ihn damals Stepan Trofimowitsch so prächtig verglich; und das würde vollständig richtig sein, wenn er nicht noch mehr Ähnlichkeit mit Hamlet hätte, wenigstens meiner Ansicht nach.«

»Et vous avez raison,« rief Stepan Trofimowitsch gefühlvoll und nachdrücklich.

»Ich danke Ihnen, Stepan Trofimowitsch, und danke Ihnen ganz besonders dafür, daß Sie nie den Glauben an Nikolai, den Glauben an seine Seelengröße und an seinen hohen Beruf verloren haben. Diesen Glauben haben Sie auch bei mir gekräftigt, als ich kleinmütig geworden war.«

»Chère, chère ...«

Stepan Trofimowitsch wollte schon vortreten; aber er bedachte, daß es gefährlich sei, sie zu unterbrechen, und blieb auf seinem Platze.

»Und wenn Nikolai immer« (Warwara Petrowna war bereits in einen etwas singenden Ton geraten) »einen stillen, in seiner Ruhe großen Horatio um sich gehabt hätte (ein anderer schöner Ausdruck von Ihnen, Stepan Trofimowitsch), dann wäre er vielleicht schon längst von dem traurigen ›Dämon der Ironie‹, der ihn sein ganzes Leben lang gepeinigt hat, befreit. (Der Dämon der Ironie, das ist wieder ein wundervoller Ausdruck von Ihnen, Stepan Trofimowitsch.) Aber Nikolai hat nie weder einen Horatio noch eine Ophelia gehabt. Er hatte nur seine Mutter; aber was kann eine Mutter allein tun, und in solchen Umständen? Wissen Sie, Peter Stepanowitsch, es ist mir sogar außerordentlich verständlich, daß ein Mensch wie Nikolai es fertiggebracht hat, sich in jenen schmutzigen Spelunken zu zeigen, von denen Sie erzählt haben. Ich stelle mir jetzt mit völliger Klarheit dieses ›spöttische Leben‹ vor (ein erstaunlich treffender Ausdruck von Ihnen!), diesen unersättlichen Durst nach dem Kontraste, diesem dunklen Hintergrund des Bildes, von dem er sich wie ein Brillant abhebt; wieder ein Vergleich von Ihnen, Peter Stepanowitsch. Und da trifft er nun ein von allen Menschen gequältes, verkrüppeltes, halbirres Wesen, das gleichzeitig vielleicht von den edelsten Gefühlen erfüllt ist! ...«

»Hm ... Ja, nehmen wir das an!«

»Und unter diesen Umständen ist es Ihnen nicht begreiflich, daß er über dieses Mädchen nicht lacht wie alle andern? O ihr Menschen! Habt ihr denn kein Verständnis dafür, daß er sie gegen ihre Beleidiger verteidigt, ihr ›wie einer Marquise‹ Achtung erweist (dieser Kirillow muß eine ungewöhnlich tiefe Menschenkenntnis besitzen, wiewohl auch er Nikolai nicht verstanden hat). Möglicherweise ist das Unglück gerade infolge dieses Kontrastes entstanden; hätte die Unglückliche in anderen Verhältnissen gelebt, so wäre sie vielleicht nicht zu solchen wahnwitzigen Phantasien gelangt. Nur eine Frau, nur eine Frau kann das verstehen, Peter Stepanowitsch, und wie schade, daß Sie ... das heißt nicht, daß Sie keine Frau sind, sondern daß Sie es nicht wenigstens für dieses Mal sind, um die Sache verstehen zu können!«

»Also in dem Sinne, wie man sagt: je schlimmer, um so besser; ich verstehe, ich verstehe, Warwara Petrowna. Das ist ungefähr so wie in der Religion: je schlechter es einem Menschen geht, oder je geplagter und ärmer ein Volk ist, um so hartnäckiger träumen sie von den Belohnungen im Paradiese; und wenn dabei noch hunderttausend Geistliche eifrig tätig sind, die diese phantastischen Hoffnungen anfachen und auf sie ihre Spekulationen gründen, dann ... ich verstehe Sie, Warwara Petrowna; seien Sie unbesorgt!«

»Ganz allerdings doch wohl nicht; aber sagen Sie: sollte Nikolai wirklich, um diese phantastische Idee in diesem unglücklichen Organismus zu vernichten« (warum Warwara Petrowna hier das Wort »Organismus« gebrauchte, war mir nicht verständlich), »sollte er wirklich auch seinerseits über sie lachen und mit ihr so umgehen, wie es jene gemeinen Gesellen taten? Verwerfen Sie wirklich jenes hohe Mitleid, jenes edle Zittern des ganzen Organismus, mit welchem Nikolai Herrn Kirillow ernst zur Antwort gab: ›Ich lache nicht über sie‹? Eine edle, eine heilige Antwort!«

»Sublime!« murmelte Stepan Trofimowitsch.

»Und beachten Sie auch dies: er ist keineswegs so reich, wie Sie meinen; ich bin reich, nicht er, und er erhielt damals von mir fast gar nichts.«

»Ich verstehe, ich verstehe das alles, Warwara Petrowna,« versetzte Peter Stepanowitsch, der sich bereits etwas ungeduldig auf seinem Stuhle hin und her bewegte.

»Oh, das ist mein eigener Charakter! Ich erkenne mich selbst in Nikolai wieder. Ich erkenne diese Jugendlichkeit wieder, diese Neigung zu stürmischen, heftigen Ausbrüchen ... Und wenn wir beide einander einmal näher treten sollten, Peter Stepanowitsch, was ich meinerseits aufrichtig wünsche, um so mehr, da ich Ihnen bereits zu Dank verpflichtet bin, dann werden Sie vielleicht den Drang begreifen ...«

»Oh, glauben Sie mir, ich wünsche es auch meinerseits,« murmelte Peter Stepanowitsch kurz.

»Sie werden dann den Drang begreifen, vermöge dessen man in der Blindheit des Edelmutes auf einmal nach einem Menschen greift, der unser in keiner Beziehung wert ist, nach einem Menschen, der uns absolut nicht versteht und es fertigbringt, uns bei jeder Gelegenheit zu quälen. Und in einem solchen Menschen sieht man dann trotz alledem die Verkörperung eines Ideales, des eigenen Traumgebildes und setzt auf ihn all seine Hoffnungen; man beugt sich vor ihm, liebt ihn das ganze Leben lang, ohne im geringsten zu wissen, wofür, – vielleicht ebendeswegen, weil er dieser Liebe nicht würdig ist ... Oh, wie ich mein ganzes Leben lang gelitten habe, Peter Stepanowitsch!«

Stepan Trofimowitsch wollte mit schmerzlicher Miene meinen Blick auffangen; aber ich wandte mich noch rechtzeitig ab.

»... Und erst vor kurzem, erst vor kurzem – oh, wie habe ich mich gegen Nikolai vergangen! ... Sie können es gar nicht glauben: von allen Seiten haben sie mich gequält, alle, alle, meine Feinde, und elende Menschen, und meine Freunde; und die Freunde vielleicht noch mehr als die Feinde. Als ich den ersten verächtlichen anonymen Brief erhielt, Peter Stepanowitsch, da ließ ich es (Sie werden es nicht glauben) an der gebührenden Verachtung als Antwort auf diese ganze Schändlichkeit fehlen ... Niemals, niemals werde ich mir meinen Kleinmut verzeihen!«

»Ich habe schon ein wenig von den hiesigen anonymen Briefen gehört,« bemerkte Peter Stepanowitsch, der nun auf einmal wieder lebhaft wurde, »und ich werde den Schreiber derselben schon ausfindig machen; seien Sie unbesorgt!«

»Aber Sie können sich gar nicht vorstellen, was hier für Intrigen begonnen haben! Sogar unsere arme Praskowja Iwanowna hat man gequält; und warum sie eigentlich, warum sie? Ich habe mich vielleicht dir gegenüber heute arg vergangen, meine liebe Praskowja Iwanowna,« fügte sie in einem Anfalle von hochherziger Rührung, aber nicht ohne eine gewisse triumphierende Ironie hinzu.

»Lassen Sie es gut sein, meine Liebe!« murmelte jene mißvergnügt. »Meiner Ansicht nach sollte man nun der ganzen Sache ein Ende machen; es ist schon zuviel darüber geredet worden ...«

Sie ließ wieder einen schüchternen Blick zu Lisa hinüberschweifen; aber diese sah nach Peter Stepanowitsch hin.

»Aber dieses arme, unglückliche Wesen, diese Irrsinnige, die alles verloren und sich nur ihr Herz bewahrt hat, die beabsichtige ich jetzt selbst an Kindes Statt anzunehmen!« rief Warwara Petrowna plötzlich. »Das ist eine heilige Pflicht, die ich gewissenhaft zu erfüllen beabsichtige. Von diesem Tage an nehme ich sie unter meinen Schutz!«

»Und das wird in gewisser Hinsicht sogar sehr gut sein!« sagte Peter Stepanowitsch mit großer Lebhaftigkeit. »Entschuldigen Sie, ich war vorhin mit dem, was ich sagen wollte, nicht zu Ende gekommen. Ich wollte gerade noch über die Notwendigkeit eines Schutzes reden. Können Sie sich das vorstellen, daß damals nach Nikolai Wsewolodowitschs Abreise (ich fange genau an der Stelle wieder an, wo ich stehen blieb, Warwara Petrowna) dieser Herr, eben dieser Herr Lebjadkin hier, sich sofort für berechtigt hielt, über die seiner Schwester ausgesetzte Pension restlos zu verfügen? Und er verfügte darüber. Ich weiß nicht genau, welche Einrichtungen Nikolai Wsewolodowitsch damals getroffen hatte; aber als er nach einem Jahre (er befand sich zu dieser Zeit schon im Auslande) das Vorgefallene erfuhr, sah er sich genötigt, diese Einrichtungen abzuändern. Die Einzelheiten darüber sind mir wieder nicht bekannt; er wird sie ja selbst erzählen; ich weiß nur, daß die interessante Person in einem fernen Kloster untergebracht wurde, sogar in recht komfortabler Weise, aber unter freundlicher Aufsicht – Sie verstehen? Und was meinen Sie, was Herr Lebjadkin nun unternahm? Er machte zunächst die größten Anstrengungen, um herauszubekommen, wo man seinen Pachtacker, das heißt seine Schwester, vor ihm versteckt hatte; erst vor kurzem erreichte er seinen Zweck, nahm sie aus dem Kloster heraus, indem er eine Art von Recht auf sie geltend machte, und brachte sie geradeswegs hierher. Hier gibt er ihr nichts zu essen, schlägt sie, tyrannisiert sie, erhält schließlich auf irgendwelchem Wege von Nikolai Wsewolodowitsch eine beträchtliche Geldsumme und fängt sogleich an zu trinken. Statt aber dankbar zu sein, benimmt er sich gegen Nikolai Wsewolodowitsch mit der unverschämtesten Dreistigkeit, stellt ihm sinnlose Forderungen und droht, wenn die Pension künftig nicht zu seinen eigenen Händen bezahlt werde, mit dem Gerichte. Auf diese Weise faßt er Nikolai Wsewolodowitschs freiwillige Gabe als einen schuldigen Tribut auf, – können Sie sich das vorstellen? Herr Lebjadkin, ist alles, was ich soeben gesagt habe, wahr?«

Der Hauptmann, der bisher schweigend und mit niedergeschlagenen Augen dagestanden hatte, trat schnell zwei Schritte vor und wurde dunkelrot.

»Peter Stepanowitsch, Sie sind grausam mit mir verfahren,« sagte er und stockte dann.

»Wieso grausam? Warum? Aber erlauben Sie, über Grausamkeit oder Milde können wir nachher reden; jetzt bitte ich Sie nur, auf meine erste Frage zu antworten: ist alles, was ich gesagt habe, wahr oder nicht? Wenn Sie finden, daß es unwahr ist, so können Sie unverzüglich Ihre Gegenerklärung abgeben.«

»Ich ... Sie wissen selbst, Peter Stepanowitsch ...« murmelte der Hauptmann; dann brach er ab und verstummte.

Ich muß bemerken, daß Peter Stepanowitsch auf einem Lehnstuhl saß und ein Bein über das andere geschlagen hatte, der Hauptmann aber in respektvollster Haltung vor ihm stand.

Herrn Lebjadkins Zaudern schien Peter Stepanowitschs großes Mißfallen zu erregen; sein Gesicht verzog sich krampfartig zu einem bösen Ausdruck.

»Wollen Sie nicht doch eine Erklärung abgeben?« fragte er, den Hauptmann listig anblickend. »In diesem Falle seien Sie so gut; wir warten darauf.«

»Sie wissen selbst, Peter Stepanowitsch, daß ich keine Erklärung abgeben kann.«

»Nein, das weiß ich nicht; ich höre es sogar zum ersten Male; warum können Sie es denn nicht?«

Der Hauptmann schwieg und blickte zu Boden.

»Erlauben Sie mir, wegzugehen, Peter Stepanowitsch,« sagte er in entschlossenem Tone.

»Aber nicht eher, ehe Sie nicht eine Antwort auf meine erste Frage gegeben haben: ist alles, was ich gesagt habe, wahr?«

»Ja, es ist wahr,« antwortete Lebjadkin dumpf und richtete die Augen auf seinen Peiniger.

Es trat ihm sogar der Schweiß an den Schläfen heraus.


»Ist alles wahr?«

»Ja, alles.«

»Haben Sie nichts hinzuzufügen, zu bemerken? Wenn Sie finden, daß wir ungerecht sind, so sprechen Sie das aus; protestieren Sie dagegen; erklären Sie laut Ihre Unzufriedenheit!«

»Nein, ich habe nichts.«

»Haben Sie vor kurzem Nikolai Wsewolodowitsch gedroht?«

»Das ... das war mehr der Wein, Peter Stepanowitsch.« Er hob auf einmal den Kopf in die Höhe. »Peter Stepanowitsch! Wenn die Ehre der Familie und eine Schande, die das Herz nicht verdient hat, in einem aufheulen, ist dann ... ist dann wirklich der Mensch schuldig?« brüllte er, indem er sich plötzlich wieder in der Art wie vor einem Weilchen vergaß.

»Sind Sie jetzt nüchtern, Herr Lebjadkin?« fragte Peter Stepanowitsch und sah ihn durchdringend an.

»Ich ...bin nüchtern.«

»Was bedeutet denn das: ›die Ehre der Familie und eine Schande, die das Herz nicht verdient hat‹?«

»Das bezieht sich auf niemand; ich habe damit niemand gemeint. Ich sprach nur von mir ...« versetzte der Hauptmann, der wieder zusammensank.

»Sie scheinen sich durch die Ausdrücke, die ich von Ihnen und Ihrem Benehmen gebraucht habe, sehr beleidigt zu fühlen? Sie sind sehr empfindlich, Herr Lebjadkin. Aber erlauben Sie, ich habe ja noch gar nichts von Ihrem wirklichen Benehmen gesagt. Von Ihrem wirklichen Benehmen werde ich noch reden. Das werde ich tun, das kann sehr wohl noch geschehen; aber bis jetzt habe ich von Ihrem wirklichen Benehmen noch nicht gesprochen.«

Lebjadkin fing an zu zittern und starrte Peter Stepanowitsch wild an.

»Peter Stepanowitsch, ich fange erst jetzt an aufzuwachen!«

»Hm! Und da bin ich es wohl, der Sie aufgeweckt hat?«

»Ja, Sie haben mich aufgeweckt, Peter Stepanowitsch; ich habe vier Jahre lang unter einer über mir hängenden Gewitterwolke geschlafen. Darf ich mich nun endlich entfernen, Peter Stepanowitsch?«

»Das dürfen Sie jetzt, vorausgesetzt, daß nicht Warwara Petrowna selbst für nötig findet ...«

Aber diese winkte ablehnend mit der Hand.

Der Hauptmann verbeugte sich, machte zwei Schritte nach der Tür zu, blieb plötzlich stehen, legte die Hand aufs Herz, schien etwas sagen zu wollen, sagte aber nichts, sondern ging schnell hinaus. Aber in der Tür stieß er gerade mit Nikolai Wsewolodowitsch zusammen; dieser trat zur Seite; der Hauptmann krümmte sich ordentlich vor ihm zusammen und blieb regungslos auf dem Flecke stehen, ohne seine Augen von ihm abzuwenden, wie ein Kaninchen eine Riesenschlange anstarrt. Nikolai Wsewolodowitsch wartete einen Augenblick; dann schob er ihn sacht mit der Hand zur Seite und trat in den Salon.

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