Von Warwara Petrowna ging er sogleich schnell zu seinem Vater, und wenn er sich so beeilte, so tat er das lediglich aus Bosheit, um sich für eine frühere Beleidigung zu rächen, von der ich bis dahin noch keine Kenntnis gehabt hatte. Die Sache war die, daß bei ihrem letzten Zusammensein, nämlich am Donnerstag der vorhergehenden Woche, Stepan Trofimowitsch, der übrigens den Streit selbst angefangen hatte, schließlich seinen Sohn mit dem Stocke hinausgejagt hatte. Diese Tatsache hatte er mir damals verheimlicht; aber als jetzt Peter Stepanowitsch hereingelaufen kam, mit seinem steten naiv-hochmütigen Lächeln und mit seinem unangenehm neugierigen, in allen Ecken herumhuschenden Blicke, da machte mir Stepan Trofimowitsch sofort ein geheimes Zeichen, ich möchte das Zimmer nicht verlassen. Auf diese Weise enthüllten sich mir ihre augenblicklichen Beziehungen; denn diesmal hörte ich das ganze Gespräch mit an.
Stepan Trofimowitsch saß, halb liegend, auf einer Chaiselongue. Seit jenem Donnerstage war er abgemagert und gelblich geworden. Peter Stepanowitsch setzte sich mit der familiärsten Miene neben ihn, wobei er ungeniert die Beine unter den Leib schlug und auf der Chaiselongue weit mehr Platz einnahm, als sich mit dem Respekt gegen seinen Vater vertrug. Stepan Trofimowitsch rückte schweigend und würdevoll zur Seite.
Auf dem Tische lag ein aufgeschlagenes Buch. Es war der Roman: »Was ist zu tun?«1 Leider muß ich hier eine sonderbare Schwäche unseres Freundes bekennen: der Gedanke, daß er aus seiner Vereinsamung heraustreten und die letzte Schlacht liefern müsse, gewann in seiner irregehenden Phantasie immer mehr die Oberhand. Ich erriet, daß er sich diesen Roman einzig und allein zu dem Zwecke beschafft hatte und nun studierte, um bei dem mit Sicherheit erwarteten Zusammenstoße mit den »Schreiern« im voraus ihre Methode und ihre Argumente aus ihrem eigenen Katechismus kennen zu lernen und, so vorbereitet, alle seine Gegner vor den Augen seiner Gönnerin zu widerlegen. Oh, wie quälte ihn dieses Buch! Er warf es manchmal in Verzweiflung hin und ging, von seinem Platze aufspringend, ganz außer sich im Zimmer hin und her.
»Ich gebe zu, daß der Grundgedanke des Verfassers richtig ist,« sagte er zu mir in fieberhafter Erregung; »aber das ist ja um so schrecklicher! Es ist derselbe Gedanke, den wir ausgesprochen haben, genau unser Gedanke; wir, wir sind die ersten gewesen, die ihn gepflanzt und großgezogen und ausgestaltet haben, – und was könnten sie nach uns noch Neues sagen! Aber, mein Gott, wie haben sie das alles ausgedrückt, entstellt, verdreht!« rief er, mit den Fingern auf das Buch klopfend. »Sind das die Resultate, nach denen wir gestrebt haben? Wer kann da den ursprünglichen Gedanken wiedererkennen?«
»Du klärst dich wohl auf?« fragte Peter Stepanowitsch, der das Buch vom Tische aufgenommen und den Titel gelesen hatte, lächelnd. »Das hättest du schon längst tun sollen. Ich werde dir noch Besseres bringen, wenn du willst.«
Stepan Trofimowitsch beobachtete wieder ein würdevolles Stillschweigen. Ich saß in einer Ecke auf dem Sofa.
Peter Stepanowitsch erklärte schnell den Anlaß seines Besuches. Natürlich war Stepan Trofimowitsch maßlos überrascht und hörte diese Mitteilung mit einem Schrecken an, in den sich ein gut Teil Unwille mischte.
»Und diese Julija Michailowna rechnet wirklich darauf, daß ich zu ihr hinkomme und etwas vorlese!«
»Das heißt, eigentlich hat sie dich überhaupt nicht nötig. Sie tut es vielmehr nur, um dir eine Freundlichkeit zu erweisen und sich dadurch bei Warwara Petrowna einzuschmeicheln. Aber selbstverständlich wirst du es nicht wagen, die Vorlesung abzulehnen. Ich glaube auch, du hast selbst große Lust dazu,« fügte er lächelnd hinzu. »Ihr alten Herren habt ja alle einen höllischen Ehrgeiz. Aber hör mal, du darfst es nicht langweilig machen. Du hast wohl etwas fertig, spanische Geschichte, wie? Gib es mir doch auf drei Tage zur Durchsicht; sonst bringst du womöglich die Zuhörer zum Einschlafen.«
Die unverhüllte Grobheit dieser eilig vorgebrachten Sticheleien war offenbar beabsichtigt. Er tat, als könne man mit Stepan Trofimowitsch überhaupt nicht in feinerer Ausdrucks- und Denkweise reden. Stepan Trofimowitsch beharrte standhaft dabei, die Beleidigung nicht zu bemerken; aber die ihm mitgeteilten Tatsachen versetzten ihn in immer steigende Aufregung.
»Und sie selbst, sie selbst hat dich beauftragt, mir dies zu bestellen?« fragte er erblassend.
»Das heißt, siehst du, sie will dir Tag und Ort zu einer gegenseitigen Aussprache bestimmen; das ist noch so ein Überrest von eurer Sentimentalität. Du hast zwanzig Jahre lang mit ihr kokettiert und ihr die lächerlichsten Manieren angewöhnt. Aber beunruhige dich nicht; die Sache liegt jetzt ganz anders; sie sagt selbst alle Augenblicke, sie fange jetzt erst an ›klar zu sehen.‹ Ich habe ihr geradezu auseinandergesetzt, daß eure ganze Freundschaft nur ein wechselseitiges Begießen mit Spülicht war. Sie hat mir vieles erzählt, mein Lieber; pfui, was für eine Bedientenstellung hast du diese ganze Zeit her innegehabt! Ich bin ordentlich rot geworden, so habe ich mich über dein Verhalten geschämt.«
»Ich hätte eine Bedientenstellung innegehabt?« brauste Stepan Trofimowitsch auf.
»Sogar eine noch schlimmere; du bist ein Parasit gewesen, das heißt ein freiwilliger Bedienter. Zu faul zum Arbeiten, haben wir doch Appetit auf Geld. All das durchschaut auch sie jetzt; wenigstens hat sie mir schrecklich viel über dich erzählt. Na, mein Lieber, und wie habe ich über deine Briefe an sie gelacht! Die sind ja gräßlich, zum Schämen! Aber ihr Parasiten seid sittlich so verdorben, sittlich so verdorben! Im Almosenempfangen liegt doch etwas, was den Menschen für immer zugrunde richtet. Dafür bist du ein eklatantes Beispiel!«
»Sie hat dir meine Briefe gezeigt?«
»Alle. Das heißt, natürlich, wie könnte ich sie durchlesen? Donnerwetter, was hast du ihr für eine Menge Briefe geschrieben; ich glaube, es sind über zweitausend Stück da ... Aber weißt du, Alter, ich glaube, es hat bei euch einmal einen Augenblick gegeben, wo sie bereit war, dich zu heiraten. Du hast dir die Gelegenheit höchst dummer Weise entgehen lassen! Ich sage das natürlich von deinem Standpunkte aus; aber es wäre doch besser gewesen als jetzt, wo man dir wie einem Hausnarren eine Braut gibt, damit du für Geld fremde Sünden zudeckst.«
»Für Geld! Sie, sie sagt: ›Für Geld!‹« jammerte Stepan Trofimowitsch schmerzerfüllt.
»Aber was ist denn dabei? Was willst du denn? Das habe ich zu deiner Verteidigung angeführt. Das ist ja der einzige Weg, um deine Handlungsweise zu entschuldigen. Sie sieht das selbst ein, daß du Geld brauchtest, wie jeder Mensch, und daß du von diesem Gesichtspunkte aus am Ende recht getan hast, so zu verfahren. Ich habe ihr mathematisch bewiesen, daß ihr von eurem Zusammenleben alle beide Vorteil gehabt habt: sie als Kapitalistin und du als ihr sentimentaler Hausnarr. Übrigens ist sie des Geldes wegen nicht weiter ärgerlich, obgleich du sie gemolken hast wie eine Ziege. Sie ist bloß darüber wütend, daß sie dir zwanzig Jahre lang geglaubt hat, und daß du sie mit deiner vornehmen Gesinnung so betrogen und sie gezwungen hast, so lange zu lügen. Daß sie von selbst gelogen hat, wird sie nie eingestehen; aber du sollst jetzt doppelt dafür gestraft werden. Ich begreife nicht, daß du dir nicht gesagt hast, es müsse doch notwendigerweise einmal zur Abrechnung mit dir kommen! Du hattest ja doch immer einigen Verstand. Ich habe ihr gestern geraten, dich in ein Armenhaus zu geben; beruhige dich, in ein anständiges; darin wird für dich keine Beleidigung liegen; ich glaube, sie wird es auch tun. Erinnerst du dich an den letzten Brief, den du mir vor drei Wochen nach dem Gouvernement Ch*** schriebst?«
»Hast du ihr den wirklich gezeigt?« rief Stepan Trofimowitsch und sprang erschrocken auf.
»Na, aber selbstverständlich! Vor allen Dingen! Das ist derselbe Brief, in dem du mitteiltest, sie beute dich aus und beneide dich um dein Talent; na, und dann schriebst du darin von ›fremden Sünden‹. Nun, mein Lieber, apropos, was besitzt du doch für eine Eitelkeit! Ich habe so darüber gelacht! Im ganzen sind deine Briefe allerdings langweilig; du hast einen schauderhaften Stil. Ich habe sie oft gar nicht gelesen, und einer liegt bei mir noch jetzt uneröffnet umher; ich werde ihn dir morgen zuschicken. Aber dieser, dieser dein letzter Brief, das war das Nonplusultra! Wie habe ich gelacht, wie habe ich gelacht!«
»Du Unmensch, du Unmensch!« jammerte Stepan Trofimowitsch.
»Pfui Teufel, aber mit dir kann man auch gar nicht reden! Hör mal, du fühlst dich wohl wieder beleidigt wie vorigen Donnerstag?«
Stepan Trofimowitsch richtete sich drohend auf.
»Wie kannst du es wagen, mir gegenüber eine solche Sprache zu führen?«
»Was denn für eine Sprache? Ich rede schlicht und deutlich.«
»Aber sage mir doch endlich, du Unmensch, bist du mein Sohn oder nicht?«
»Das mußt du besser wissen als ich. Allerdings neigt jeder Vater in diesem Punkte zur Selbstverblendung ...«
»Schweig, schweig!« rief Stepan Trofimowitsch, am ganzen Leibe zitternd.
»Siehst du, du schreist und schimpfst gerade wie vorigen Donnerstag, wo du sogar den Stock gegen mich erheben wolltest; ich suchte damals ein Dokument. Aus Neugier kramte ich den ganzen Abend über in deinem Koffer umher. Allerdings habe ich nichts Zuverlässiges gefunden; du kannst dich trösten. Es war nur ein Briefchen meiner Mutter an jenen Polen da. Aber nach ihrem Charakter zu schließen ...«
»Noch ein Wort, und ich gebe dir ein paar Ohrfeigen!«
»So sind die Menschen!« wandte Peter Stepanowitsch sich auf einmal zu mir. »Sehen Sie, das schreibt sich bei uns noch vom vorigen Donnerstag her. Ich freue mich, daß Sie wenigstens heute hier sind und sich ein Urteil darüber bilden können. Zuerst eine Tatsache: er macht es mir zum Vorwurf, daß ich so über meine Mutter spreche; aber hat er mich nicht selbst darauf hingestoßen? Hat er mich nicht in Petersburg, als ich noch Gymnasiast war, oft zweimal in der Nacht aufgeweckt, mich umarmt und wie ein altes Weib geweint, und was meinen Sie, was er mir da in der Nacht erzählt hat? Eben diese unsauberen Geschichtchen von meiner Mutter! Er ist der erste gewesen, von dem ich sie gehört habe.«
»Oh, ich verfolgte damals damit eine höhere Absicht! Oh, du hast mich nicht verstanden. Nichts, nichts hast du verstanden!«
»Aber doch kommt es bei dir gemeiner heraus als bei mir; das mußt du selbst zugeben. Siehst du, mir kann es ja ganz egal sein. Ich redete von deinem Gesichtspunkte aus. Von meinem Gesichtspunkte aus mache ich meiner Mutter keine Vorwürfe, da kannst du unbesorgt sein; ob du mein Vater bist oder der Pole, ist mir ganz egal. Ich kann nichts dafür, daß es bei euch in Berlin so dumm herging. Und es hätte freilich bei euch etwas verständiger hergehen können. Na, muß man unter diesen Umständen nicht sagen, daß ihr lächerliche Menschen seid? Und ist es dir nicht ganz gleichgültig, ob ich dein Sohn bin oder nicht? Hören Sie,« wandte er sich wieder zu mir, »sein ganzes Leben lang hat er auch nicht einen Rubel für mich ausgegeben; bis zu meinem sechzehnten Lebensjahre hat er mich überhaupt nicht gekannt; dann hat er mich hier ausgeplündert; und jetzt schreit er, das Herz habe ihm sein ganzes Leben lang um mich weh getan, und gebärdet sich vor mir wie ein Schauspieler. Aber ich bin ja doch nicht Warwara Petrowna; ich bitte dich!«
Er stand auf und griff nach seinem Hute.
»Ich verfluche dich!« rief Stepan Trofimowitsch, blaß wie der Tod, und streckte den Arm gegen ihn aus.
»Auf was für Dummheiten der Mensch doch verfällt!« bemerkte Peter Stepanowitsch sehr erstaunt. »Na, leb wohl, Alter; ich werde nun nie mehr wieder zu dir kommen. Das Manuskript zu der Vorlesung schick mir nur recht bald vorher; vergiß es nicht; und wenn du kannst, so gib dir Mühe, daß kein Unsinn darin steht: Tatsachen, Tatsachen, nichts als Tatsachen, und, was die Hauptsache ist, kurz. Adieu!«
Fußnoten
1 Von dem Nihilisten Tschernyschewski, erschienen im Jahre 1863.
Anmerkung des Übersetzers.