I.

Die Katastrophe mit Lisa und der Tod Marja Timofejewnas machten auf Schatow einen tief schmerzlichen Eindruck. Ich habe bereits erwähnt, daß ich an jenem Vormittage nur flüchtig mit ihm sprach: es kam mir dabei vor, als hätte er nicht ganz seinen Verstand. Unter anderm teilte er mir mit, er sei am vorhergehenden Abend um neun Uhr (also drei Stunden vor der Feuersbrunst) bei Marja Timofejewna gewesen. Er ging am Vormittag hin, um sich die Leichen anzusehen, machte aber, soviel ich weiß, an jenem Vormittag nirgends Aussagen über das, was er wußte. Gegen Ende des Tages erhob sich indessen in seiner Seele ein wahrer Sturm, und ... und (ich glaube, ich kann das mit aller Bestimmtheit sagen) zur Zeit der Abenddämmerung gab es einen Augenblick, wo er aufstehen, hingehen und alles klarlegen wollte. Was er mit »alles« meinte, das wußte nur er selbst. Natürlich hätte er nichts erreicht, sondern nur sich selbst ans Messer geliefert. Er besaß keinerlei Beweise, um in die soeben ausgeführte Freveltat Licht hineinzubringen, und hatte selbst darüber nur unklare Vermutungen, die nur für ihn einer völligen Überzeugung gleichkamen. Aber er war bereit, sich selbst zugrunde zu richten, wenn er nur »die Schurken zermalmen« konnte; das waren seine eigenen Worte. Peter Stepanowitsch hatte diesen Drang bei ihm zum Teil richtig vorausgesehen und wußte selbst, daß er viel riskierte, wenn er die Ausführung seines neuen schrecklichen Planes auf den folgenden Tag verschob. Seinerseits bewies er dabei seiner Gewohnheit nach ein starkes Selbstvertrauen und eine herzliche Verachtung all dieser »geringwertigen Kerle« und insonderheit Schatows. Er verachtete Schatow schon lange wegen seines »weinerlichen, idiotenhaften Wesens«, wie er sich schon im Auslande über ihn ausgedrückt hatte, und hoffte fest, daß es ihm gelingen werde, mit diesem so wenig schlauen Menschen zurechtzukommen, das heißt ihn diesen ganzen Tag über nicht aus den Augen zu lassen und ihm bei der ersten Gefahr den Weg abzuschneiden. Und doch war das, was »die Schurken« noch für eine kurze Zeit rettete, nur ein ganz unerwarteter und von ihnen ganz und gar nicht vorhergesehener Umstand.

Zwischen sieben und acht Uhr abends (also gerade zu derselben Zeit, als die »Unsrigen« sich bei Erkel versammelt hatten, auf Peter Stepanowitsch warteten, unwillig wurden und in Erregung gerieten) lag Schatow mit Kopfschmerzen und leichtem Fieberfrost im Dunkeln ohne Licht ausgestreckt auf seinem Bette; er quälte sich mit Zweifeln, ärgerte sich, entschloß sich, konnte sich aber doch nicht endgültig entschließen und fühlte fluchend im voraus, daß das alles doch zu nichts führen werde. Allmählich benahm ihm ein leichter Schlaf das Bewußtsein; ein bedrückender Traum ängstigte ihn; es träumte ihm, er sei mit Stricken an sein Bett geschnürt, am ganzen Leibe festgebunden, so daß er sich nicht rühren könne; und dabei erschöllen im ganzen Hause furchtbare Schläge gegen den Zaun, gegen das Tor, gegen seine Haustür und gegen das Seitengebäude bei Kirillow, so daß das ganze Haus zittere, und eine ihm wohlbekannte Stimme, die aber schmerzliche Erinnerungen bei ihm erwecke, riefe ihn kläglich von ferne. Er kam auf einmal zur Besinnung und richtete sich auf dem Bette in die Höhe. Zu seinem Erstaunen dauerten die Schläge gegen das Tor fort; sie waren zwar bei weitem nicht so stark, wie es ihm im Traume vorgekommen war, folgten aber mit großer Hartnäckigkeit schnell aufeinander; und die sonderbare, ihm so schmerzliche Stimme, die allerdings überhaupt nicht kläglich, sondern im Gegenteil ungeduldig und gereizt klang, ließ sich immer noch unten am Tore vernehmen und mit ihr abwechselnd eine andere, ruhigere und gewöhnlichere Stimme. Er sprang auf, öffnete die Luftscheibe im Fenster und steckte den Kopf hinaus.

»Wer ist da?« rief er, geradezu starr vor Schreck.

»Wenn Sie Schatow sind,« wurde ihm von unten in scharfem, festem Tone geantwortet, »so geben Sie, bitte, einfach und ehrlich eine Erklärung darüber ab, ob Sie gewillt sind, mich hereinzulassen, oder nicht!«

Es war richtig; er erkannte diese Stimme!

»Marja! ... Bist du es?«

»Ja, ich bin es, Marja Schatowa, und ich versichere Ihnen, daß ich die Ungeduld des Droschkenkutschers keinen Augenblick länger beschwichtigen kann.«

»Sogleich ... ich will nur erst Licht ...« rief Schatow mit schwacher Stimme zurück. Dann suchte er hastig nach den Streichhölzern. Die waren, wie gewöhnlich in solchen Fällen, nicht zu finden. Er ließ in der Erregung den Leuchter mit der Kerze auf den Fußboden fallen, und als von unten wieder die ungeduldige Stimme erscholl, ließ er alles liegen und lief Hals über Kopf seine steile Treppe hinunter, um das Pförtchen zu öffnen.

»Tun Sie mir den Gefallen und halten Sie die Reisetasche, bis ich mich mit diesem Dummkopf auseinandergesetzt habe,« sagte unten Frau Marja Schatowa als Begrüßung zu ihm und schob ihm eine ziemlich leichte, billige Handtasche aus Segeltuch mit Messingbuckeln, Dresdner Fabrikat, in die Hand. Sie selbst fuhr gereizt auf den Kutscher los:

»Ich muß Ihnen sagen, daß Ihre Forderung übermäßig ist. Wenn Sie mich eine ganze Stunde lang unnötigerweise durch diese schmutzigen Straßen gekarrt haben, so sind Sie selbst daran schuld, da Sie offenbar nicht gewußt haben, wo diese dumme Straße und dieses verrückte Haus ist. Nehmen Sie Ihre dreißig Kopeken; Sie können sich darauf verlassen, daß Sie nicht mehr bekommen.«

»Ach, Madamchen, Sie haben ja doch selbst von der Wosnesenskaja-Straße gesprochen, und dies hier ist die Bogojawlenskaja-Straße. Die Wosnesenskaja-Gasse liegt ja an einem ganz anderen Ende. Wir haben den Wallach unnötig in Schweiß gebracht.«

»Wosnesenskaja, Bogojawlenskaja – alle diese dummen Benennungen mußten Ihnen besser bekannt sein als mir, da Sie ein hiesiger Einwohner sind; und außerdem haben Sie unrecht: ich habe Ihnen gleich von vornherein gesagt, daß ich nach dem Filippowschen Hause wollte, und Sie haben ausdrücklich versichert, daß Sie es kennten. Wenn Sie wollen, können Sie mich morgen beim Friedensrichter belangen; jetzt aber bitte ich Sie, mich in Ruhe zu lassen.«

»Da! Da sind noch fünf Kopeken,« sagte Schatow, indem er hastig ein Fünfkopekenstück aus der Tasche nahm und es dem Kutscher hinreichte.

»Ich bitte Sie, tun Sie mir den Gefallen und geben Sie ihm nichts!« rief Madame Schatowa hitzig; aber der Kutscher trieb schon »den Wallach« an, und Schatow ergriff sie bei der Hand und zog sie ins Tor hinein.

»Schnell, Marja, schnell ... das sind ja alles nur Kleinigkeiten, und – wie naß du geworden bist! Nur sachte, hier geht es nach oben, – schade, schade, daß ich kein Licht habe, – die Treppe ist steil; halte dich nur recht fest an meiner Hand! Nun, da ist auch mein Zimmerchen! Entschuldige, daß hier kein Licht ist ... Sofort!«

Er hob den Leuchter auf; aber die Streichhölzer ließen sich noch längere Zeit nicht finden. Frau Schatowa stand wartend mitten im Zimmer, rührte sich nicht und schwieg.

»Gott sei Dank! Endlich!« rief er freudig und machte das Zimmer hell.

Marja Schatowa musterte die Behausung mit einem schnellen Blicke.

»Es war mir gesagt worden, daß Sie eine garstige Wohnung hätten; aber so habe ich es mir doch nicht gedacht,« sagte sie geringschätzig und ging zum Bette. »Ach, was bin ich müde!« fuhr sie fort und setzte sich kraftlos auf das harte Bett. »Bitte, legen Sie die Reisetasche hin, und setzen Sie sich selbst auf einen Stuhl! Übrigens können Sie meinetwegen auch da so vor mir stehen bleiben. Ich bin nur für kurze Zeit zu Ihnen gekommen, nur bis ich Arbeit finde; denn ich weiß hier gar nicht Bescheid und habe kein Geld. Aber wenn ich Sie geniere, so bitte ich nochmals: tun Sie mir den Gefallen und sprechen Sie das sofort deutlich aus, wie das ja auch Ihre Pflicht ist, wenn Sie ein ehrenhafter Mensch sind. Ich kann immer noch morgen etwas verkaufen und in einem Gasthause bezahlen; wollen Sie mich nur selbst nach einem Gasthause hinführen ... Ach, aber ich bin so müde!«

Schatow zitterte am ganzen Leibe.

»Nicht doch, Marja; du brauchst nicht in ein Gasthaus zu gehen! Was redest du von einem Gasthause! Wozu, wozu?«

Er faltete mit flehender Gebärde die Hände.

»Nun, wenn ich nicht ins Gasthaus brauche, dann muß ich auseinandersetzen, wie die Dinge liegen. Sie werden sich erinnern, Schatow, daß ich mit Ihnen in Genf zwei Wochen und einige Tage lang als Ihre Ehefrau gelebt habe; es ist jetzt schon drei Jahre her, daß wir uns getrennt haben, übrigens ohne besonderen Streit. Aber glauben Sie nicht, daß ich zurückgekehrt bin, um irgendeine der früheren Dummheiten zu wiederholen! Ich bin zurückgekehrt, um Arbeit zu suchen, und wenn ich gerade nach dieser Stadt gekommen bin, so ist das geschehen, weil mir alles ganz gleichgültig ist. Ich bin nicht gekommen, um etwas zu bereuen; tun Sie mir den Gefallen und bilden Sie sich nicht eine solche Dummheit ein!«

»O Marja, das brauchst du nicht zu sagen, das brauchst du gar nicht zu sagen!« murmelte Schatow undeutlich.

»Nun, wenn es so steht, wenn Sie so weit fortgeschritten sind, daß Sie auch das begreifen können, dann möchte ich noch hinzufügen, daß, wenn ich mich jetzt direkt an Sie gewandt habe und in Ihre Wohnung gekommen bin, ich dies zum Teil deswegen getan habe, weil ich immer der Ansicht gewesen bin, daß Sie ganz und gar kein Schuft, sondern vielleicht weit besser sind als die andern ... diese Schurken!«

Ihre Augen begannen zu funkeln. Sie mußte wohl von solchen »Schurken« viel Schlimmes erlitten haben.

»Und seien Sie, bitte, überzeugt: ich habe mich soeben durchaus nicht über Sie lustig machen wollen, wenn ich Ihnen sagte, daß Sie ein guter Mensch sind. Ich habe gerade herausgesprochen, ohne schönklingende Phrasen, die ich überhaupt nicht leiden kann. Aber das ist alles dummes Zeug. Ich habe immer gehofft, daß Sie genug Verstand besitzen, um nicht lästigerweise an einem festzukleben ... Ach, genug davon, ich bin so müde!«

Und sie sah ihn mit einem langen, gequälten, müden Blicke an. Schatow stand vor ihr, fünf Schritte von ihr entfernt, mitten im Zimmer und hörte mit schüchterner Miene, aber gewissermaßen neubelebt, mit einem bei ihm noch nie dagewesenen Leuchten auf dem Gesichte ihr zu. Dieser starke, rauhe Mensch, der immer etwas Widerhaariges hatte, war auf einmal ganz weich geworden und strahlte förmlich. In seiner Seele zitterte ein ungewohntes, ihm ganz unerwartetes Gefühl. Die drei Jahre der Trennung, die drei Jahre des Nichtbestandes seiner Ehe hatten aus seinem Herzen nichts zu verdrängen vermocht. Und vielleicht hatte er in diesen drei Jahren täglich an Marja gedacht, an das teure Wesen, das einstmals zu ihm gesagt hatte: »Ich liebe Sie.« Da ich Schatow gekannt habe, kann ich mit Sicherheit sagen, daß er es nie auch nur für denkbar gehalten hätte, daß eine Frau zu ihm sagen könnte: »Ich liebe Sie.« Er war keusch und schamhaft bis zur Wunderlichkeit, hielt sich für ein schreckliches Scheusal, haßte sein Gesicht und seinen Charakter und glaubte auf einer Stufe zu stehen mit jenen Mißgeburten, die auf die Jahrmärkte gebracht und für Geld gezeigt werden. Infolge dieser ganzen Anschauung schätzte er die Ehrlichkeit am allerhöchsten, hielt an seinen Überzeugungen mit einem wahren Fanatismus fest und war finster, stolz, jähzornig und wortkarg. Aber nun war dieses einzige Wesen, das ihn zwei Wochen lang geliebt hatte (das hatte er immer geglaubt!), dieses Wesen, das er hoch, hoch über sich stellte, obwohl er über die Verirrungen desselben durchaus nüchtern urteilte, dieses Wesen, dem er imstande war alles, alles vollständig zu verzeihen (das konnte überhaupt nicht die Frage sein; es lag sogar das Umgekehrte vor, so daß er selbst seiner Ansicht nach ihr gegenüber in allen Stücken im Unrecht war), diese Frau, diese Marja Schatowa, die war nun auf einmal wieder in seinem Hause und saß da wieder vor ihm ... es war beinah unfaßbar! Er war dermaßen überrascht, in diesem Ereignis lag für ihn so viel Furchtbares und gleichzeitig so viel Glück, daß er gar nicht zur Besinnung kommen konnte, es vielleicht nicht einmal wünschte, sondern sich davor fürchtete. Es war ihm wie ein Traum. Aber als sie ihn mit diesem gequälten Blicke anschaute, begriff er auf einmal, daß dieses so sehr geliebte Wesen litt, vielleicht unter einer schweren Kränkung. Das Herz zog sich ihm krampfhaft zusammen. Mit einem schmerzlichen Gefühle betrachtete er ihre Gesichtszüge: schon längst war von diesem müden Gesichte der Schimmer der ersten Jugend verschwunden. Hübsch war sie allerdings immer noch, und in seinen Augen immer noch wie früher eine Schönheit. (In Wirklichkeit war sie eine Frau von ungefähr fünfundzwanzig Jahren, ziemlich kräftig gebaut, von mehr als Mittelgröße und somit größer als Schatow, mit reichem, dunkelblondem Haar, blassem, ovalem Gesichte und großen, dunklen Augen, die jetzt in fieberhaftem Glanze funkelten). Aber an die Stelle der früheren leichtsinnigen, naiven, harmlosen Energie, die er so gut gekannt hatte, war bei ihr eine mürrische Gereiztheit, die Verdrossenheit der Enttäuschung, eine Art von Zynismus getreten, an den sie sich noch nicht gewöhnt hatte, und der ihr selbst peinlich war. Aber die Hauptsache war: sie war krank; das erkannte er klar. Trotz all seiner Furcht vor ihr trat er plötzlich an sie heran und ergriff sie an beiden Händen:

»Marja ... weißt du ... du bist vielleicht sehr müde; um Gottes willen, sei nicht böse ... Wenn du dich doch überreden ließest, zum Beispiel Tee zu trinken, wie? Tee hebt die Kräfte sehr; was meinst du? Wenn du dich überreden ließest! ...«

»Was ist da erst noch zu überreden; natürlich lasse ich mich überreden; Sie sind noch immer dasselbe Kind wie früher. Wenn Sie können, dann geben Sie mir welchen! Wie eng es hier bei Ihnen ist! Und wie kalt!«

»Oh, ich will gleich Holz, Holz ... Holz habe ich!« erwiderte Schatow, der im Zimmer hin und her zu rennen anfing. »Holz ... das heißt, aber ... übrigens will ich auch gleich Tee ...« Er schwenkte den Arm, als hätte er einen schweren Entschluß gefaßt, und griff nach seiner Mütze.

»Wo wollen Sie denn hin? Sie haben wohl keinen Tee im Hause?«

»Ich werde welchen besorgen; sofort wird alles da sein ... ich ...«

Er nahm den Revolver vom Regal herunter.

»Ich werde gleich diesen Revolver verkaufen ... oder versetzen ...«

»Was für eine Dummheit! Und wie lange würde das dauern! Da, nehmen Sie mein Geld, wenn Sie keines haben; hier sind achtzig Kopeken, wie ich glaube; das ist alles, was ich habe. Bei Ihnen ist man wie in einem Irrenhause.«

»Dein Geld ist nicht erforderlich, nicht erforderlich; ich will gleich, in einem Augenblick ... es geht auch ohne den Revolver ...«

Er lief geradeswegs zu Kirillow. Das war wahrscheinlich etwa zwei Stunden, bevor Peter Stepanowitsch und Liputin zu Kirillow kamen. Obwohl Schatow und Kirillow auf demselben Grundstück wohnten, sahen sie einander doch fast gar nicht, und wenn sie einander begegneten, grüßten sie sich nicht und redeten nicht zusammen. Sie hatten zu lange in Amerika »zusammengelegen«.

»Kirillow, Sie haben ja immer Tee; haben Sie Tee und einen Samowar?«

Kirillow, der in seinem Zimmer von einer Ecke nach der anderen ging, was er die ganze Nacht über zu tun pflegte, blieb plötzlich stehen und blickte seinen Hausgenossen, der so unerwartet zu ihm hereingelaufen kam, unverwandt an, übrigens ohne besondere Verwunderung.

»Tee ist da, und Zucker ist da, und ein Samowar ist da. Aber ein Samowar ist nicht erforderlich; der Tee ist heiß. Setzen Sie sich hin, und trinken Sie ohne weiteres!«

»Kirillow, wir haben in Amerika zusammengelegen ... Meine Frau ist bei mir angekommen ... Ich ... Geben Sie mir Tee ... Ich brauche einen Samowar.«

»Wenn Ihre Frau da ist, dann ist allerdings ein Samowar nötig. Aber erst später. Ich habe ihrer zwei. Jetzt aber nehmen Sie die Teekanne, die auf dem Tische steht. Der Tee ist ganz heiß. Nehmen Sie alles; nehmen Sie den Zucker, den ganzen. Auch Brot ... Es ist viel Brot da; nehmen Sie es ganz. Es ist auch Kalbfleisch da. An Geld ein Rubel.«

»Geben Sie her, Freund; ich werde es Ihnen morgen wiedergeben! Ach, Kirillow!«

»Ist das die Frau, die in der Schweiz war? Das ist gut. Auch daß Sie zu mir gelaufen sind, ist gut.«

»Kirillow!« rief Schatow, indem er die Teekanne unter den Ellbogen schob und den Zucker und das Brot in beide Hände nahm. »Kirillow! Wenn ... Wenn Sie sich von Ihren schrecklichen Phantasien freimachen und Ihr atheistisches Gerede lassen könnten ... oh, was wären Sie dann für ein Mensch, Kirillow!«

»Man sieht, daß Sie Ihre Frau auch noch nach der Schweiz lieben. Das ist gut, daß Sie das auch nach der Schweiz noch tun. Wenn Sie noch Tee brauchen, so kommen Sie wieder her! Kommen Sie die ganze Nacht; ich schlafe gar nicht. Der Samowar wird in Ordnung sein. Nehmen Sie den Rubel; da! Gehen Sie zu Ihrer Frau; ich werde hier bleiben und an Sie und Ihre Frau denken.«

Marja Schatowa war augenscheinlich mit der Geschwindigkeit zufrieden und griff beinahe gierig nach dem Tee; aber den Samowar zu holen war nicht erforderlich; sie trank nur eine halbe Tasse und aß nur ein winziges Stückchen Brot. Das Kalbfleisch wies sie mürrisch und gereizt zurück.

»Du bist krank, Marja; das ist alles bei dir krankhaft ...« bemerkte Schatow schüchtern, der sie mit ängstlicher Beflissenheit bediente.

»Natürlich bin ich krank; bitte, setzen Sie sich hin! Wo haben Sie denn den Tee herbekommen, wenn Sie doch keinen hatten?«

Schatow erzählte ihr obenhin und in Kürze von Kirillow. Sie hatte schon einiges über ihn gehört.

»Ich weiß, daß er verrückt ist; aber hören wir, bitte, davon auf; es gibt ja so furchtbar viele Narren. Also Sie sind in Amerika gewesen? Ich habe davon gehört; Sie haben von dort aus geschrieben.«

»Ja, ich ... ich habe nach Paris geschrieben.«

»Genug davon; reden wir lieber von etwas anderem! Sie sind überzeugter Slawophile?«

»Ich ... eigentlich doch nicht ... Da es unmöglich ist, Russe zu sein, bin ich Slawophile geworden,« versetzte er mit jenem gezwungenen schiefen Lächeln, wie man es bei jemand zu sehen pflegt, der zur Unzeit und mit Anstrengung ein Witzwort produziert hat.

»Sind Sie denn nicht Russe?«

»Nein, ich bin nicht Russe.«

»Nun, das sind alles Dummheiten. Setzen Sie sich doch endlich; ich bitte Sie darum. Warum gehen Sie denn immer hin und her? Sie meinen, ich rede im Fieber. Das wird vielleicht noch kommen. Sie sagen, Sie sind nur zu zweien im Hause?«

»Ja, nur zu zweien ... Unten ...«

»Und beides so kluge Menschen. Was ist unten? Sie sagten ›unten‹?«

»Ach, nichts.«

»Was soll das heißen? Ich will es wissen.«

»Ich wollte nur sagen, daß jetzt nur wir beide auf diesem Grundstück wohnen und unten früher Lebjadkins wohnten ...«

»Das ist die, die heute nacht ermordet worden ist?« fuhr sie plötzlich auf. »Ich habe es gehört. Kaum war ich angekommen, da hörte ich es. Es ist hier in der Stadt Feuer gewesen?«

»Ja, Marja, ja, und vielleicht begehe ich in diesem Augenblicke eine schreckliche Gemeinheit, wenn ich die Schufte nicht zur Bestrafung bringe ...« erwiderte er, stand plötzlich auf und ging im Zimmer auf und ab, wobei er wie außer sich die Arme in die Höhe hob.

Aber Marja verstand ihn nicht ganz. Sie hörte die Antworten nur zerstreut an; sie fragte, hörte aber nicht, was der andere erwiderte.

»Schöne Dinge passieren hier bei euch! Oh, wie gemein! Was für Schufte sind alle Menschen! So setzen Sie sich doch endlich hin, ich bitte Sie; Sie machen mich ja ganz nervös!«

Kraftlos ließ sie den Kopf auf das Kopfkissen sinken.

»Verzeih mir, Marja ... Wäre es nicht vielleicht gut, wenn du dich hinlegtest, Marja?«

Sie antwortete nicht und schloß ermattet die Augen. Ihr blasses Gesicht bekam die größte Ähnlichkeit mit dem einer Toten. Sie schlief fast augenblicklich ein. Schatow blickte sich rings um, brachte die Kerze in Ordnung, schaute noch einmal unruhig nach dem Gesichte der Schlafenden, preßte die Hände fest vor seiner Brust zusammen und ging auf den Zehen aus dem Zimmer auf den Flur. Oben an der Treppe drückte er sich mit dem Gesichte in eine Ecke und stand so wohl zehn Minuten stumm und regungslos. Er hätte noch länger so dagestanden; aber auf einmal ließen sich unten leise, vorsichtige Schritte hören. Es stieg jemand die Treppe hinauf. Schatow erinnerte sich, daß er vergessen hatte, das Pförtchen zuzuschließen.

»Wer ist da?« fragte er flüsternd.

Der unbekannte Besucher stieg, ohne sich zu beeilen und ohne zu antworten, weiter hinauf. Als er oben angelangt war, blieb er stehen; ihn zu erkennen war in der Dunkelheit unmöglich; auf einmal wurde von ihm die vorsichtige Frage vernehmbar:

»Iwan Schatow?«

Schatow gab sich zu erkennen, streckte aber sofort den Arm aus, um den Ankömmling zurückzuhalten; dieser jedoch griff selbst nach seinen Händen, – und Schatow zuckte zusammen, wie wenn er ein schreckliches Reptil berührt hätte.

»Bleiben Sie hier stehen!« flüsterte er schnell. »Gehen Sie nicht hinein; ich kann Sie jetzt nicht empfangen. Meine Frau ist zu mir zurückgekehrt. Ich werde die Kerze herausholen.«

Als er mit der Kerze zurückkehrte, stand ein junger Offizier da; den Namen desselben kannte er nicht; aber er hatte ihn schon irgendwo gesehen.

»Erkel,« stellte dieser sich vor. »Sie haben mich bei Wirginski gesehen.«

»Ich erinnere mich. Sie saßen da und schrieben. Hören Sie,« brauste Schatow auf einmal auf, indem er wütend auf ihn zutrat, aber wie vorher im Flüsterton sprach; »Sie haben mir soeben ein Zeichen mit der Hand gemacht, als Sie meine Hand ergriffen. Wissen Sie aber, ich schere mich den Teufel um all diese Zeichen! Ich erkenne keine Verpflichtungen an ... ich will nicht ... Ich kann Sie sofort die Treppe hinunterwerfen; wissen Sie das wohl? ...«

»Nein, das weiß ich nicht, und ich weiß überhaupt nicht, warum Sie so aufgebracht sind,« antwortete der Besucher sanft und beinah gutmütig. »Ich habe nur eine Bestellung an Sie auszurichten und bin noch so spät hergekommen, weil ich keine Zeit zu verlieren wünschte. Sie haben eine Druckerpresse in Händen, die Ihnen nicht gehört, und über die Sie Rechenschaft zu geben verpflichtet sind, wie Sie selbst wissen. Es ist mir befohlen, von Ihnen zu verlangen, daß Sie sie gleich morgen, pünktlich um sieben Uhr abends, an Liputin übergeben. Außerdem ist mir befohlen, Ihnen mitzuteilen, daß weitere Anforderungen niemals an Sie werden gestellt werden.«

»Gar keine?«

»Absolut keine. Man wird Ihre Bitte erfüllen und Sie für immer ausscheiden lassen. Es ist mir ausdrücklich befohlen worden, Ihnen dies mitzuteilen.«

»Wer hat das befohlen?«

»Diejenigen, die mir das Zeichen mitgeteilt haben.«

»Sie kommen vom Auslande?«

»Das ... das, glaube ich, ist für Sie unerheblich.«

»Zum Teufel! Aber warum sind Sie nicht früher gekommen, wenn Sie einen solchen Befehl hatten?«

»Ich befolgte gewisse Instruktionen und war nicht allein.«

»Ich verstehe, ich verstehe, daß Sie nicht allein waren. Hol's der Teufel! Aber warum ist Liputin nicht selbst gekommen?«

»Ich werde Sie also morgen pünktlich um sechs Uhr abends abholen, und wir werden dann zusammen zu Fuß dorthin gehen. Außer uns dreien wird niemand zugegen sein.«

»Wird Werchowenski dabei sein?«

»Nein, er wird nicht dabei sein. Werchowenski reist morgen vormittag um elf Uhr von hier weg.«

»Hab ich es mir doch gedacht!« flüsterte Schatow wütend und schlug sich mit der Faust auf den Schenkel. »Er hat sich aus dem Staube gemacht, die Kanaille!«

Er überlegte etwas in starker Aufregung. Erkel sah ihn aufmerksam an, schwieg und wartete.

»Wie werden Sie sie denn fortschaffen? Die kann man ja nicht so ohne weiteres in die Hände nehmen und wegtragen.«

»Das wird auch nicht nötig sein. Sie sollen uns nur den Ort zeigen, und wir wollen uns nur vergewissern, daß sie wirklich da vergraben ist. Wir wissen ja nur, wo die Gegend ist; den Ort selbst kennen wir nicht. Haben Sie sonst schon jemandem die Stelle gezeigt?«

Schatow sah ihn musternd an.

»Auch Sie, auch Sie, ein solches Bürschchen, – ein so törichtes Bürschchen, – auch Sie haben Ihren Kopf wie ein Hammel da hineingesteckt? Ja, ja solche frischen jungen Menschen brauchen sie gerade! Na, dann gehen Sie! Ja, ja, dieser Schuft hat Sie alle hinters Licht geführt und sich nun aus dem Staube gemacht.«

Erkel sah ihn mit hellem, ruhigem Blicke, aber anscheinend verständnislos an.

»Werchowenski hat sich aus dem Staube gemacht, Werchowenski!« knirschte Schatow wütend mit den Zähnen.

»Aber er ist ja noch hier; er ist ja noch gar nicht abgereist. Er wird erst morgen abreisen,« bemerkte Erkel in sanftem, beschwichtigendem Tone. »Ich habe ihn besonders eingeladen, als Zeuge mit zugegen zu sein; an ihn wies mich meine ganze Instruktion« (er wurde als junger, unerfahrener Mensch offenherzig). »Aber er ging zu meinem Bedauern nicht darauf ein und führte seine Abreise als Grund an; und er scheint es auch wirklich eilig zu haben.«

Schatow ließ seine Augen noch einmal bedauernd über den naiven jungen Menschen hingleiten, machte aber plötzlich eine wegwerfende Handbewegung, wie wenn er dächte: »Er verdient kein Mitleid.«

»Gut, ich werde kommen,« brach er plötzlich ab. »Jetzt aber scheren Sie sich weg; marsch!«

»Ich werde mich also pünktlich um sechs Uhr einstellen,« sagte Erkel, empfahl sich mit einer höflichen Verbeugung und stieg ohne Eile die Treppe hinab.

»Dummkopf!« konnte sich Schatow nicht enthalten ihm vom oberen Ende der Treppe nachzurufen.

»Wie beliebt?« fragte der von unten.

»Nichts. Gehen Sie nur!«

»Ich glaubte, Sie sagten etwas.«

Загрузка...