Vor allen Dingen mußte er zu Kirillow. Es war schon gegen ein Uhr nachts. Kirillow stand mitten im Zimmer.
»Kirillow, meine Frau kommt nieder!«
»Was meinen Sie damit?«
»Sie kommt nieder, sie gebiert ein Kind!«
»Hören Sie ... irren Sie sich auch nicht?«
»Nein, nein, sie hat Wehen! ... Ich brauche eine Frau, eine alte Frau, unbedingt sofort ... Läßt sich jetzt eine beschaffen? Sie hatten ja doch viele alte Frauen hier ...«
»Sehr schade, daß ich nicht niederzukommen verstehe,« antwortete Kirillow nachdenklich; »ich meine nicht, ich verstehe nicht niederzukommen, sondern ich verstehe nicht zu machen, daß eine Frau niederkommt ... oder ... Nein, ich verstehe das nicht zu sagen.«
»Sie meinen, Sie können nicht selbst bei einer Entbindung helfen; aber darum bin ich auch nicht gekommen; ich brauche eine alte Frau, eine alte Frau, eine Krankenwärterin, eine Magd!«
»Eine alte Frau wird sich beschaffen lassen, nur vielleicht nicht sogleich. Wenn es Ihnen recht ist, so will ich an deren Statt ...«
»Oh, das ist unmöglich; dann will ich jetzt zu Frau Wirginskaja, der Hebamme.«
»Ein gräßliches Frauenzimmer!«
»Ja gewiß, Kirillow, gewiß; aber sie ist besser als die andern alle! Freilich, es wird sich alles ohne Andacht, ohne Freude, mit Mißmut, unter Schimpfreden und Gotteslästerungen vollziehen, – bei einem so großen Geheimnis, dem Erscheinen eines neuen Wesens! ... Oh, sie verflucht dieses neue Wesen schon jetzt ...«
»Wenn es Ihnen recht ist, so will ich ...«
»Nein, nein, aber während ich hinlaufe (oh, ich will die Wirginskaja schon herschleppen), könnten Sie manchmal zu meiner Treppe gehen und leise horchen; aber gehen Sie nicht hinein; Sie würden sie erschrecken; gehen Sie ja nicht hinein; horchen Sie nur ... für den schlimmsten Fall. Nur wenn das Äußerste eintreten sollte, dann können Sie hineingehen.«
»Ich verstehe. An Geld habe ich noch einen Rubel. Da ist er. Ich wollte mir morgen ein Huhn kaufen; aber jetzt will ich es nicht mehr. Laufen Sie schnell, laufen Sie aus Leibeskräften! Der Samowar ist die ganze Nacht über bereit.«
Kirillow wußte nichts von dem Anschlage auf Schatow und hatte auch früher nie etwas von dem Grade der diesem drohenden Gefahr gewußt. Er wußte nur, daß derselbe noch irgendwelche alten Rechnungen mit »diesen Leuten« zu erledigen habe, und obgleich er selbst durch die ihm vom Auslande her erteilten Instruktionen in diese Sache zum Teil verwickelt war (übrigens hielten sich diese Instruktionen sehr auf der Oberfläche; denn näher beteiligt war er bei nichts gewesen), so hatte er doch in der letzten Zeit alles hingeworfen, alle Aufträge unbeachtet gelassen, sich von all diesen Dingen, insonderheit von der »gemeinsamen Sache«, ganz zurückgezogen und sich einem beschaulichen Leben hingegeben. Peter Werchowenski hatte zwar in der Sitzung Liputin aufgefordert, mit zu Kirillow zu kommen, um sich zu vergewissern, daß dieser im gewiesenen Augenblicke »die Schatowsche Angelegenheit« auf seine Kappe nehmen werde, hatte aber in dem Gespräche mit Kirillow kein Wort von Schatow gesagt und nicht einmal eine Andeutung gemacht, wahrscheinlich weil er dies für politisch unklug und Kirillow sogar für unzuverlässig hielt; er hatte es vielmehr vorgezogen, eine solche Mitteilung auf den folgenden Tag zu verschieben, wo alles bereits erledigt sein und dem Selbstmordkandidaten Kirillow schon »alles egal« sein werde; wenigstens urteilte Peter Stepanowitsch so über Kirillow. Auch Liputin hatte sehr wohl bemerkt, daß Schatows trotz des Versprechens mit keiner Silbe Erwähnung getan war; aber Liputin war zu aufgeregt, als daß er gegen dieses Verfahren hätte Einspruch erheben mögen.
Wie der Wind lief Schatow nach der Murawjinaja-Straße, indem er den weiten Weg verwünschte, der gar kein Ende nehmen wollte.
Bei Wirginski mußte er lange klopfen: alle schliefen schon längst. Aber Schatow schlug ohne alle Umstände aus voller Kraft gegen einen Fensterladen. Der Kettenhund auf dem Hofe riß an seiner Kette und brach in ein wütendes Gebell aus. Die Hunde der ganzen Straße fielen ein; es entstand ein Mordslärm.
»Warum klopfen Sie, und was wünschen Sie?« ließ sich endlich am Fenster Wirginskis eigene sanfte Stimme vernehmen, die zu der herausfordernden Art des Pochens nicht stimmte.
Der Fensterladen wurde ein wenig geöffnet und auch die Luftscheibe aufgemacht.
»Wer ist da? Was für ein Schuft ist da?« kreischte ergrimmt eine Weiberstimme, die der alten Jungfer, der Verwandten Wirginskis; diese Stimme entsprach nun allerdings vollständig dem rücksichtslosen Pochen.
»Ich bin es, Schatow; meine Frau ist zu mir zurückgekehrt und wird jetzt gleich niederkommen ...«
»Na, dann lassen Sie sie niederkommen! Scheren Sie sich weg!«
»Ich will Arina Prochorowna holen; ich gehe ohne Arina Prochorowna nicht weg!«
»Sie kann nicht zu jedem kommen. Nachts hat sie ihre besondere Praxis ... Gehen Sie doch zu Frau Makschejewa, und machen Sie hier nicht solchen Lärm!« schalt die erboste Weiberstimme.
Man konnte hören, wie Wirginski ihr Einhalt zu tun suchte; aber die alte Jungfer stieß ihn beiseite und wich nicht von ihrem Platze.
»Ich gehe nicht weg!« rief wieder Schatow.
»Warten Sie, so warten Sie doch!« rief endlich Wirginski, der nun doch über die alte Jungfer die Oberhand gewonnen hatte. »Ich bitte Sie, fünf Minuten zu warten, Schatow; ich werde Arina Prochorowna wecken; bitte, klopfen Sie nicht, und schreien Sie nicht! ... Ach, wie schrecklich das alles ist!«
Nach fünf endlosen Minuten erschien Arina Prochorowna.
»Ihre Frau ist bei Ihnen angekommen?« erscholl ihre Stimme durch die Luftscheibe, und zu Schatows Verwunderung klang diese Stimme gar nicht böse, sondern nur wie gewöhnlich gebieterisch; anders als gebieterisch konnte Arina Prochorowna überhaupt nicht reden.
»Ja, sie ist angekommen – und sie kommt nieder.«
»Marja Ignatjewna?«
»Ja, Marja Ignatjewna. Natürlich Marja Ignatjewna!«
Es folgte ein Stillschweigen. Schatow wartete. Im Hause wurde geflüstert.
»Ist sie schon lange angekommen?« fragte Madame Wirginskaja wieder.
»Heute abend um acht. Bitte, kommen Sie recht schnell!«
Es wurde von neuem geflüstert; sie schienen sich von neuem zu beraten.
»Hören Sie mal, irren Sie sich auch nicht? Hat sie selbst Sie nach mir geschickt?«
»Nein, sie hat mich nicht nach Ihnen geschickt; sie will eine Frau, eine einfache Frau haben, um nur keine Ausgaben zu verursachen; aber seien Sie unbesorgt, ich werde Sie bezahlen.«
»Gut, ich werde kommen, mögen Sie bezahlen oder nicht. Ich habe Marja Ignatjewnas selbständige Denkart immer zu schätzen gewußt, wiewohl sie sich meiner vielleicht nicht erinnert. Haben Sie die notwendigsten Sachen in Bereitschaft?«
»Nein, es ist nichts da; aber es wird alles beschafft werden, alles, alles ...«
»Man findet doch auch bei diesen Leuten Edelmut!« dachte Schatow, während er sich zu Ljamschin begab. »Die Anschauungen und der Mensch selbst, das sind, wie es scheint, zwei sehr verschiedene Dinge. Ich habe ihnen vielleicht in vielen Stücken unrecht getan! ... Keiner von uns ist schuldlos, keiner, und ... wenn doch alle von dieser Überzeugung durchdrungen wären! ...«
Bei Ljamschin brauchte er nicht lange zu klopfen; zu seiner Verwunderung öffnete dieser sofort die Luftscheibe; er war barfuß und im Nachtanzug aus dem Bett gesprungen, obwohl er damit eine Erkältung riskierte und sonst beständig sehr ängstlich auf seine Gesundheit bedacht war. Aber daß er jetzt wach war und so eilig erschien, hatte seinen besonderen Grund: Ljamschin hatte infolge der Sitzung bei den »Unsrigen« vor Aufregung den ganzen Abend über gezittert und noch nicht einschlafen können; es stand ihm immer der Besuch einer Anzahl von ungeladenen und sogar sehr unerwünschten Gästen vor Augen. Die Mitteilung von Schatows beabsichtigter Denunziation hatte ihn in einen höchst peinlichen Zustand versetzt ... Und da mußte nun gerade jemand so furchtbar laut an das Fenster klopfen! ...
Bei Schatows Anblick bekam er es dermaßen mit der Angst, daß er die Luftscheibe sofort wieder zuschlug, nach seinem Bette lief und sich hineinlegte. Schatow begann wütend zu klopfen und zu schreien.
»Wie können Sie sich erdreisten, mitten in der Nacht so zu klopfen?« rief Ljamschin drohend, aber halbtot vor Furcht, als er nach mindestens zwei Minuten sich entschlossen hatte, die Luftscheibe von neuem zu öffnen, und sich endlich überzeugt hatte, daß Schatow allein gekommen war.
»Da bringe ich Ihnen den Revolver wieder; nehmen Sie ihn zurück, und geben Sie mir fünfzehn Rubel dafür!«
»Was heißt das? Sind Sie betrunken? Das ist ja Raub; ich werde mich noch erkälten. Warten Sie, ich werde mir gleich ein Plaid umlegen.«
»Geben Sie schnell die fünfzehn Rubel her! Wenn Sie sie nicht geben, werde ich bis zum Morgen klopfen und schreien; ich werde Ihnen das ganze Fenster zerschlagen.«
»Und ich werde die Wache rufen; dann werden Sie ins Loch gesteckt werden.«
»Bin ich etwa stumm, was? Werde ich nicht auch die Wache rufen? Wer hat die Wache zu fürchten, Sie oder ich?«
»Wie können Sie nur eine so unwürdige Meinung hegen? ... Ich weiß, worauf Sie anspielen ... Halt, halt; um Gottes willen, klopfen Sie nicht! Ich bitte Sie, wer hat denn in der Nacht Geld? Nun, wozu brauchen Sie denn das Geld, wenn Sie nicht betrunken sind?«
»Meine Frau ist zu mir zurückgekehrt. Ich habe Ihnen zehn Rubel abgelassen, obwohl ich nicht ein einziges Mal daraus geschossen habe; nehmen Sie den Revolver hin, nehmen Sie ihn augenblicklich hin!«
Ljamschin streckte mechanisch die Hand durch die Luftklappe hinaus und nahm den Revolver in Empfang; eine kurze Zeit stand er still da; dann steckte er auf einmal schnell den Kopf durch die Luftklappe und sagte, ohne recht zu wissen, wie er dazu kam, indem ihm ein Schauer den Rücken entlang lief:
»Sie lügen; Ihre Frau ist gar nicht zu Ihnen gekommen ... Sie wollen sich ganz einfach irgendwohin davonmachen.«
»Sie Dummkopf! Wozu soll ich mich davonmachen? Ihr Peter Werchowenski, der mag davonlaufen, aber nicht ich. Ich bin soeben bei der Hebamme Wirginskaja gewesen, und sie hat sich sofort bereit erklärt, zu mir zu kommen. Erkundigen Sie sich danach! Meine Frau wird von Wehen gequält; ich brauche Geld; geben Sie mir Geld!«
Ein ganzes Feuerwerk von Gedanken blitzte in Ljamschins schlauem Kopfe auf. Alles nahm plötzlich eine andere Gestalt an; aber die Furcht ließ ihn immer noch nicht zur ruhigen Überlegung kommen.
»Aber was ist denn das ... Sie leben ja doch gar nicht mit Ihrer Frau zusammen?«
»Ich werde Ihnen für solche Fragen den Schädel einschlagen.«
»Ach, mein Gott, verzeihen Sie; ich verstehe; ich war nur so verblüfft ... Aber ich verstehe, ich verstehe. Aber ... aber ... wird denn Arina Prochorowna wirklich zu Ihnen kommen? Sagten Sie nicht soeben, daß sie zu Ihnen gekommen sei? Wissen Sie, das ist doch nicht wahr. Sehen Sie, sehen Sie, sehen Sie, wie Sie fortwährend die Unwahrheit sagen!«
»Sie sitzt wahrscheinlich jetzt schon bei meiner Frau; halten Sie mich nicht auf; ich kann nichts dafür, daß Sie so dumm sind.«
»Das ist nicht wahr; ich bin nicht dumm. Nehmen Sie es nicht übel; aber ich bin schlechterdings außerstande ...«
Ganz fassungslos machte er die Luftscheibe von neuem zu; aber Schatow erhob ein solches Gebrüll, daß er den Kopf sofort wieder heraussteckte.
»Aber das ist ja ein vollständiger Überfall! Was verlangen Sie denn von mir? Nun? Sagen Sie es in klaren Worten! Und ausgerechnet, ausgerechnet mitten in der Nacht!«
»Fünfzehn Rubel verlange ich, Sie Schafskopf!«
»Aber vielleicht habe ich gar keine Lust, den Revolver zurückzunehmen. Sie haben kein Recht, das zu verlangen. Sie haben einen Gegenstand gekauft, und damit ist das Geschäft erledigt, und Sie haben weiter kein Recht. Ich kann eine solche Summe bei Nacht absolut nicht bezahlen; wo soll ich eine solche Summe herbekommen?«
»Sie haben immer Geld; ich habe Ihnen zehn Rubel abgelassen; aber Sie sind der richtige Geldjude!«
»Kommen Sie übermorgen; hören Sie wohl? Übermorgen mittag Punkt zwölf, und dann will ich Ihnen alles geben, alles; ist's Ihnen so recht?«
Schatow schlug zum drittenmal wütend an das Fenster.
»So geben Sie jetzt zehn Rubel und morgen bei Tagesanbruch die andern fünf!«
»Nein, übermorgen mittag fünfzehn; aber morgen werde ich, bei Gott, noch kein Geld haben. Kommen Sie lieber nicht her; kommen Sie lieber nicht her!«
»Geben Sie zehn! O Sie Schuft!«
»Warum schimpfen Sie denn so? Warten Sie, ich muß erst Licht machen; sehen Sie, Sie haben eine Scheibe zerschlagen ... Wer schimpft denn so bei Nacht? Da!« Er reichte ihm eine Banknote durch das Fenster.
Schatow nahm sie; es war ein Fünfrubelschein.
»Bei Gott, mehr kann ich nicht, und wenn Sie mich totschlagen; ich kann nicht; übermorgen werde ich alles können; aber jetzt kann ich nichts.«
»Ich gehe nicht weg!« brüllte Schatow.
»Nun, da nehmen Sie, da ist noch etwas; sehen Sie, noch etwas; aber mehr gebe ich nicht. Na, wenn Sie auch aus vollem Halse schreien, ich gebe nicht mehr; mag geschehen, was will, ich gebe nicht mehr; ich gebe nicht mehr, und ich gebe nicht mehr!«
Er schien ganz außer sich, ganz verzweifelt zu sein; der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Die beiden Scheine, die er noch herausgereicht hatte, waren Rubelnoten. Im ganzen hatte Schatow sieben Rubel bekommen.
»Na, hol Sie der Teufel; morgen komme ich wieder. Ich schlage Sie zu Schanden, Ljamschin, wenn Sie die acht Rubel nicht in Bereitschaft haben.«
»Aber ich werde nicht zu Hause sein, Dummkopf!« dachte Ljamschin schnell im stillen.
»Halt, halt!« schrie er dem bereits davonlaufenden Schatow aufgeregt nach. »Halt, kehren Sie noch einmal um! Sagen Sie, bitte, haben Sie die Wahrheit gesagt, daß Ihre Frau zu Ihnen zurückgekehrt ist?«
»Dummkopf!« rief Schatow zurück, spuckte aus und lief, so schnell er konnte, nach Hause.