II.


Daran, daß Schatow denunzieren wolle, glaubten die »Unsrigen« sämtlich; aber daran, daß Peter Stepanowitsch mit ihnen wie mit Brettsteinen spiele, glaubten sie ebenfalls. Aber sie wußten alle, daß sie trotzdem am folgenden Tage vollzählig am bezeichneten Platze erscheinen würden, und daß Schatows Schicksal besiegelt sei. Sie fühlten, daß sie wie Fliegen in das Netz einer riesigen Spinne hineingeraten seien; sie waren ergrimmt, aber sie zitterten vor Furcht.

Peter Stepanowitsch hatte sie ihrer Ansicht nach entschieden ungehörig behandelt; die ganze Sache hätte einen viel glatteren, leichteren Verlauf genommen, wenn er sich auch nur ein bißchen Mühe gegeben hätte, die Wirklichkeit auszuschmücken. Statt die beabsichtigte Tat in einem anständigen Lichte darzustellen, etwa als den Ausfluß römischen Bürgersinnes oder etwas Ähnliches, hatte er nur die grobe Furcht und die Bedrohung ihrer eigenen Haut als Moment verwertet, was einfach eine Unhöflichkeit war. Gewiß, überall in der Welt herrschte der Kampf ums Dasein, und ein anderes Prinzip des Handelns gab es nicht; das war ihnen allen bekannt; aber dennoch ...

Aber Peter Stepanowitsch hatte keine Zeit, die Römer in Bewegung zu bringen; er war selbst aus dem Geleise geworfen. Stawrogins Flucht hatte ihn niedergeschmettert und betäubt. Seine Mitteilung, daß Stawrogin eine Unterredung mit dem Vizegouverneur gehabt habe, war eine Lüge gewesen; das war es ja eben, daß dieser weggefahren war, ohne mit irgend jemand, nicht einmal mit seiner Mutter, geredet zu haben; und es war in der Tat seltsam, daß man ihn so ganz unbehelligt gelassen hatte. (In dieser Hinsicht mußte sich unsere Behörde in der Folgezeit besonders verantworten.) Peter Stepanowitsch hatte sich den ganzen Tag über erkundigt, aber bisher nichts Näheres erfahren und hatte sich noch nie in solcher Unruhe befunden. Und wie konnte er denn auch so plötzlich auf Stawrogin verzichten? Dies war denn auch der Grund, weshalb er nicht imstande war, mit den »Unsrigen« allzu zart zu verfahren. Zudem fühlte er sich durch sie in ärgerlicher Weise gebunden: er hatte sich schon vorgenommen gehabt, unverzüglich Stawrogin nachzueilen, und nun hielt ihn die Sache mit Schatow zurück, auch mußte er das Fünferkomitee für alle Fälle fest zusammenschweißen. »Ich darf das Komitee nicht so ohne weiteres hinwerfen; am Ende ist es doch noch zu etwas zu gebrauchen;« so dachte er, wie ich annehme.

Was Schatow anlangte, so war er völlig davon überzeugt, daß dieser eine Denunziation einreichen werde. Er hatte zwar alles erlogen, was er den »Unsrigen« über die Denunziation gesagt hatte; nie hatte er etwas Derartiges zu sehen oder zu hören bekommen; aber daß eine solche stattfinden werde, war ihm so sicher wie zweimal zwei vier. Er war speziell der Ansicht, Schatow werde sich die letzten Ereignisse, den Tod Lisas und den Tod Marja Timofejewnas, furchtbar zu Herzen nehmen und gerade jetzt sich zu einer Denunziation entschließen. Wer weiß, vielleicht hatte er auch einigen Anlaß, dies zu vermuten. Bekannt ist auch, daß er Schatow persönlich haßte; es hatte zwischen ihnen früher einmal ein Streit stattgefunden, und Peter Stepanowitsch verzieh eine Beleidigung niemals. Ich bin sogar überzeugt, daß dies für ihn die Hauptursache war.

Die Ziegeltrottoirs in unserer Stadt sind schmal, und ebenso die hölzernen Brückchen. Peter Stepanowitsch ging in der Mitte des Trottoirs, so daß er es ganz einnahm, ohne die geringste Rücksicht auf Liputin zu nehmen, der neben ihm keinen Raum fand und genötigt war, entweder einen Schritt hinter ihm herzulaufen oder, wenn er des Gesprächs wegen neben ihm gehen wollte, auf die Straße in den Schmutz hinauszutreten. Peter Stepanowitsch erinnerte sich plötzlich, daß er vor ganz kurzer Zeit genau ebenso durch den Schmutz gelaufen war, um mit Stawrogin Schritt zu halten, der, gerade wie er jetzt, in der Mitte gegangen war und das ganze Trottoir eingenommen hatte. Er dachte an diese ganze Szene, und eine rasende Wut benahm ihm den Atem.

Aber auch Liputin war wütend über die Beleidigung. Mochte Peter Stepanowitsch die andern »Unsrigen« behandeln, wie es ihm gut dünkte; aber ihn? Er »wußte« ja doch mehr als alle jene, stand der gemeinsamen Sache näher, war tiefer in sie eingeweiht und hatte bisher zwar nur indirekt, aber doch ununterbrochen sich an ihr beteiligt. Oh, er wußte, daß Peter Stepanowitsch auch ihn jetzt »schlimmstenfalls« vernichten konnte. Aber er haßte diesen Peter Stepanowitsch schon lange, und zwar nicht wegen dieser Gefahr, sondern wegen seines hochmütigen Benehmens. Jetzt, wo man sich zu einer solchen Tat hatte entschließen müssen, war er mehr ergrimmt als all die »Unsrigen« zusammengenommen. Er wußte leider, daß er »wie ein Sklave« morgen jedenfalls als der erste auf dem Platze sein und auch noch alle übrigen hinbringen werde, und hätte er jetzt, vor dem morgigen Tage, Peter Stepanowitsch auf irgendeine Weise, ohne sich selbst ins Verderben zu stürzen, töten können, so würde er ihn selbstverständlich unbedingt getötet haben.

In seine Gedanken versunken, schwieg er und ging furchtsam hinter seinem Peiniger her. Dieser schien ihn ganz vergessen zu haben; er stieß ihn nur mitunter unachtsamer und unhöflicher Weise mit dem Ellbogen an. Auf einmal blieb Peter Stepanowitsch in einer unserer ansehnlichsten Straßen stehen und ging in ein Restaurant hinein.

»Wo wollen Sie denn hin?« fragte Liputin, vor Wut kochend. »Das ist ja ein Restaurant.«

»Ich will ein Beefsteak essen.«

»Aber ich bitte Sie, da sind ja immer eine Menge Menschen!«

»Na, das schadet ja nichts!«

»Aber ... wir werden zu spät kommen. Es ist schon zehn Uhr.«

»Da kommt man nie zu spät.«

»Aber ich werde mich verspäten! Die da warten auf meine Rückkehr.«

»Na, mögen sie; es wäre nur dumm von Ihnen, wenn Sie noch einmal zu denen hingingen. Ich habe infolge der Plackerei, die ich um Ihretwillen gehabt habe, heute noch nicht zu Mittag gespeist. Und je später wir zu Kirillow kommen, um so besser ist es.«

Peter Stepanowitsch nahm ein besonderes Zimmer. Liputin setzte sich ärgerlich und beleidigt in einiger Entfernung von ihm auf einen Lehnstuhl und sah zu, wie jener aß. So verging eine halbe Stunde und mehr. Peter Stepanowitsch beeilte sich nicht; er aß mit Behagen, klingelte, verlangte anderen Senf, dann Bier und redete die ganze Zeit über kein Wort. Er war in tiefes Nachdenken versunken. Er konnte zwei Dinge zugleich tun: mit Appetit essen und angestrengt nachdenken. Liputin wurde schließlich so wütend auf ihn, daß er nicht imstande war, seine Blicke von ihm loszureißen. Sein Zustand hatte Ähnlichkeit mit einem nervösen Anfall. Er zählte jeden Bissen des Beefsteaks, den dieser zum Munde führte, haßte ihn für die Art, wie er den Mund öffnete, wie er kaute, wie er wohlgefällig einen besonders saftigen Bissen aussog, haßte sogar das Beefsteak. Zuletzt verwirrten sich die Gegenstände vor seinen Augen; der Kopf wurde ihm etwas schwindlig; es lief ihm abwechselnd heiß und kalt über den Rücken.

»Sie haben nichts zu tun; lesen Sie einmal dies hier!« sagte auf einmal Peter Stepanowitsch und warf ihm ein Blatt Papier hin.

Liputin setzte sich näher an die Kerze heran. Das Blatt war mit kleiner, schlechter Schrift bedeckt; in jeder Zeile fanden sich Ausstreichungen. Als Liputin sich hindurchgearbeitet hatte, hatte Peter Stepanowitsch schon bezahlt und ging weg. Auf dem Trottoir reichte Liputin ihm das Blatt wieder hin.

»Behalten Sie es an sich; ich werde gleich darüber reden. Übrigens, was sagen Sie dazu?«

Liputin bebte am ganzen Leibe.

»Meiner Ansicht nach ... ist eine solche Proklamation ... nur eine lächerliche Abgeschmacktheit.«

Sein Ingrimm kam zum Durchbruch; er hatte ein Gefühl, als ob er von einem Sturmwinde gepackt und vorwärts getrieben werde.

»Wenn wir uns entschließen,« fuhr er, über und über leise zitternd, fort, »solche Proklamationen zu verbreiten, so bewirken wir, daß man uns wegen unserer Dummheit und Unkenntnis der Verhältnisse verachtet.«

»Hm! Ich denke darüber anders,« versetzte Peter Stepanowitsch und ging festen Schrittes weiter.

»Ich denke so, wie ich sagte; haben Sie das denn wirklich selbst verfaßt?«

»Das geht Sie nichts an.«

»Ich glaube auch, daß das Gedicht ›Eine glänzende Persönlichkeit‹ das kläglichste Machwerk ist, das es überhaupt nur geben kann, und unmöglich von Herzen herrührt.«

»Sie reden Unsinn; das Gedicht ist gut.«

»Ich wundere mich zum Beispiel auch darüber,« fuhr Liputin fort, während er immer, mühsam atmend, nebenher galoppierte, »daß man uns zu einer Handlungsweise auffordert, bei der alles zusammenstürzt. In Westeuropa ist der Wunsch, daß alles zusammenstürzen möge, ein natürlicher, weil es da ein Proletariat gibt; aber wir hier sind nur Liebhaber und tun meiner Ansicht nach nur groß.«

»Ich meinte, Sie seien ein Anhänger Fouriers.«

»Bei Fourier steht etwas anderes, etwas ganz anderes.«


»Ich weiß, daß da Unsinn steht.«

»Nein, bei Fourier steht kein Unsinn ... Nehmen Sie es mir nicht übel, ich kann aber schlechterdings nicht glauben, daß im Mai ein Aufstand stattfinden wird.«

Liputin knöpfte sich sogar den Rock auf; so heiß war ihm geworden.

»Nun genug davon!« sagte Peter Stepanowitsch, indem er mit der größten Kaltblütigkeit zu einem andern Gegenstande übersprang; »ehe ich es vergesse: dieses Blatt haben Sie eigenhändig zu setzen und zu drucken. Wir werden Schatows Druckerei ausgraben, und Sie werden sie gleich morgen übernehmen. Sie werden die Proklamationen mit möglichster Beschleunigung setzen, möglichst viele Exemplare abziehen und sie dann den ganzen Winter über verbreiten. Über die Mittel und Wege werden Sie belehrt werden. Es sind recht viele Exemplare erforderlich, weil man Ihnen von anderen Orten aus welche abverlangen wird.«

»Nein, entschuldigen Sie; ich kann eine solche... einen solchen Auftrag nicht übernehmen ... Ich weigere mich.«

»Und doch werden Sie ihn übernehmen. Ich handle nach der mir vom Zentralkomitee erteilten Instruktion, und Sie müssen gehorchen.«

»Ich glaube aber, daß unsere ausländischen Zentralen ganz vergessen haben, wie es in Rußland wirklich steht, und jede Fühlung verloren haben und darum nur dummes Zeug reden ... Ich glaube sogar, daß statt vieler Hunderte von Fünferkomitees in Rußland wir das einzige sind, und daß ein Netz überhaupt nicht existiert,« sagte Liputin endlich keuchend und atemlos.

»Um so verächtlicher ist Ihre Handlungsweise, wenn Sie, ohne an die Sache zu glauben, ihr doch nachgelaufen sind ... und jetzt mir nachlaufen wie ein gemeiner Köter.«

»Nein, ich laufe Ihnen nicht nach. Wir haben das volle Recht, uns von Ihnen loszusagen und eine neue Gesellschaft zu bilden.«

»Dumm-kopf!« rief Peter Stepanowitsch laut und drohend mit funkelnden Augen.

Beide blieben eine Zeitlang stehen und sahen einander an; dann drehte sich Peter Stepanowitsch um und setzte voll Selbstgefühl seinen früheren Weg fort.

Seinem Begleiter Liputin schoß wie ein Blitz ein Gedanke durch den Kopf:

»Ich werde mich umdrehen und zurückgehen; wenn ich mich jetzt nicht umdrehe, werde ich niemals zurückgehen.«

So dachte er genau zehn Schritte lang; aber beim elften Schritte flammte eine neue, tolle Idee in seinem Kopfe auf, und er drehte sich nicht um und ging nicht zurück.

Sie näherten sich dem Filippowschen Hause; aber noch ehe sie ganz hingelangt waren, schlugen sie ein Seitengäßchen oder, richtiger gesagt, einen kaum bemerkbaren Fußsteig an einem Zaune entlang ein, so daß sie sich eine Zeitlang auf der steilen Böschung eines Grabens fortarbeiten mußten, wo die Füße keinen Halt fanden und sie genötigt waren, sich mit den Händen am Zaune festzuhalten. Im dunkelsten Winkel des schief gewordenen Zaunes nahm Peter Stepanowitsch ein Brett heraus; es entstand eine Öffnung, durch die er sofort hindurchkroch. Liputin war verwundert, kroch aber ebenfalls hindurch; darauf wurde das Brett wieder eingefügt, wie es vorher gewesen war. Dies war jener geheime Zugang, durch welchen Fedka zu Kirillow zu schleichen pflegte.

»Schatow darf nicht wissen, daß wir hier sind,« flüsterte Peter Stepanowitsch dem andern in strengem Tone zu.

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