II.


Es hatte ein eigentümliches Zusammentreffen von Ereignissen stattgefunden, aus welchem v. Lembke absolut nicht klug werden konnte. In einer Kreisstadt (in ebenderjenigen, wo Peter Stepanowitsch unlängst an einem Trinkgelage teilgenommen hatte) hatte ein Unterleutnant von seinem Hauptmann einen mündlichen Verweis erhalten. Dies war in Gegenwart der ganzen Kompagnie geschehen. Der Unterleutnant, der erst vor kurzem aus Petersburg gekommen war, war ein noch junger Mensch, immer schweigsam und finster, mit selbstbewußter Miene, obwohl er klein, dick und rotbäckig war. Er ließ sich den Verweis nicht gefallen; mit einem unerwarteten Aufkreischen, über das die ganze Kompagnie erstaunt war, stürzte er sich plötzlich auf den Hauptmann, versetzte ihm mit dem grimmig gesenkten Kopfe einen heftigen Stoß und biß ihn aus aller Kraft in die Schulter; nur mit Mühe konnte man ihn losreißen. Es war kein Zweifel, daß er den Verstand verloren hatte; wenigstens stellte es sich heraus, daß in der letzten Zeit an ihm die unglaublichsten Sonderbarkeiten wahrgenommen worden waren. So hatte er zum Beispiel aus seinem Quartier zwei dem Wirte gehörige Heiligenbilder herausgeworfen und eines derselben mit dem Beil zerhackt; in seinem Zimmer hatte er auf drei Untergestellen, die mit kirchlichen Lesepulten Ähnlichkeit hatten, die Werke von Vogt, Moleschott und Büchner ausgelegt und bei jedem Lesepulte ein Paar wächserne Kirchenlichte angezündet. Aus der Menge der bei ihm gefundenen Bücher konnte man schließen, daß er ein sehr belesener Mann sei. Hätte er fünfzigtausend Franks gehabt, so wäre er vielleicht nach den Markesas-Inseln gefahren, wie jener »Kadett«, von welchem Herzen1 in einer seiner Schriften mit so heiterem Humor spricht. Als er festgenommen wurde, fand man in seinen Taschen und in seiner Wohnung eine ganze Menge der wildesten Proklamationen.

Diese Proklamationen waren an und für sich eine Lappalie und meines Erachtens in keiner Weise besorgniserregend. Dergleichen hatten wir schon wer weiß wie viele zu sehen bekommen. Zudem waren sie gar nicht einmal neu: ganz ebensolche waren, wie man bald darauf erfuhr, unlängst im Gouvernement Ch*** verbreitet worden, und Liputin, der vor anderthalb Monaten in den Kreis und in das benachbarte Gouvernement gereist war, versicherte, schon damals genau die gleichen Blätter gesehen zu haben. Aber was unsern Andrei Antonowitsch befremdete, war besonders der Umstand, daß der Direktor der Schpigulinschen Fabrik gerade zu derselben Zeit an die Polizei zwei oder drei Pakete genau solcher Blätter, wie sie der Unterleutnant besessen hatte, ablieferte, die zur Nachtzeit auf den Fabrikhof geworfen waren. Die Pakete waren noch nicht aufgemacht gewesen, und es hatte noch keiner der Arbeiter etwas von dem Inhalte lesen können. Die Tat war ziemlich einfältig; aber Andrei Antonowitsch dachte angestrengt darüber nach. Er war der Ansicht, daß hier eine sehr unangenehme Komplikation vorliege.

In dieser Schpigulinschen Fabrik hatte damals soeben jene »Schpigulinsche Affäre« begonnen, die bei uns soviel Lärm hervorrief und mit mancherlei Varianten auch in die hauptstädtischen Zeitungen überging. Vor drei Wochen war dort ein Arbeiter an der asiatischen Cholera erkrankt und gestorben; darauf waren noch mehrere andere ebenfalls erkrankt. In der Stadt bekamen es alle mit der Angst, weil die Cholera aus dem Nachbargouvernement im Anrücken war. Ich bemerke, daß bei uns nach Möglichkeit geeignete sanitäre Maßregeln ergriffen waren, um dem ungebetenen Gaste entgegenzutreten. Aber die Schpigulinsche Fabrik, deren Besitzer Millionäre waren und vorzügliche Konnexionen besaßen, hatte man eigentümlicherweise übergangen. Nun erhob sich auf einmal ein allgemeines Geschrei, gerade dort sei ein geheimer Herd, eine Brutstätte der Krankheit; in der Fabrik selbst und ganz besonders in den Arbeiterwohnungen herrsche von jeher eine solche Unreinlichkeit, daß, wenn die Cholera nicht schon verbreitet wäre, sie dort von selbst entstehen müßte. Natürlich ergingen nun sofort die erforderlichen Anordnungen, und Andrei Antonowitsch bestand energisch auf ihrer unverzüglichen Ausführung. Die Fabrik wurde drei Wochen lang gereinigt; aber die Gebrüder Schpigulin schlossen dieselbe nun aus unbekanntem Grunde. Der eine von ihnen lebte beständig in Petersburg, und der andere reiste nach der behördlichen Verfügung über die Reinigung nach Moskau. Der Direktor schritt dazu, die Arbeiter abzulohnen, und betrog sie dabei, wie sich jetzt herausstellt, auf eine schamlose Weise. Die Arbeiter fingen an zu murren; sie verlangten eine gerechte Entlohnung und gingen in ihrer Dummheit zur Polizei, übrigens ohne viel Geschrei und noch ohne besondere Aufregung. Und gerade in dieser Zeit waren von dem Direktor die Proklamationen an Andrei Antonowitsch abgeliefert worden.

Peter Stepanowitsch kam in seiner Eigenschaft als guter Freund und als Angehöriger des Hauses und überdies als Julija Michailownas Beauftragter unangemeldet in das Arbeitszimmer hereingelaufen. Als v. Lembke ihn erblickte, runzelte er finster die Stirn und blieb unhöflich am Tische stehen. Bis dahin war er im Zimmer auf und ab gegangen und hatte über irgendwelchen Gegenstand eine intime Unterredung mit einem Beamten seiner Kanzlei, namens Blümer, gehabt, einem sehr unbeholfenen, mürrischen Deutschen, den er trotz heftigster Opposition von seiten Julija Michailownas aus Petersburg mitgebracht hatte. Der Beamte machte bei Peter Stepanowitschs Eintritt einige Schritte nach der Tür zu, ging aber nicht hinaus. Dem Eintretenden schien es sogar, als ob Blümer mit seinem Vorgesetzten einen bedeutsamen Blick wechselte.

»Oho! Da habe ich Sie einmal abgefaßt, Sie geheimnisvoller hoher Chef!« rief Peter Stepanowitsch lachend und legte die flache Hand auf eine Proklamation, die auf dem Tische lag. »Damit vergrößern Sie wohl Ihre Sammlung, wie?«

Andrei Antonowitsch wurde dunkelrot, und sein Gesicht verzerrte sich.

»Lassen Sie das liegen! Nehmen Sie sofort die Hand weg!« schrie er, vor Zorn zitternd. »Und unterstehen Sie sich nicht, mein Herr ...«

»Was haben Sie denn? Sie scheinen böse zu sein?«

»Ich muß Ihnen bemerken, mein Herr, daß ich durchaus nicht willens bin, Ihre Ungeniertheit künftighin zu dulden; ich bitte Sie, sich das zu merken ...«

»Pfui Teufel! Er ist ja wirklich ganz grimmig!«

»Schweigen Sie, schweigen Sie!« rief v. Lembke und stampfte mit den Füßen auf den Teppich. »Und erdreisten Sie sich nicht ...«

Gott weiß, wie weit die Sache noch gegangen wäre. Leider war da außer allem andern noch ein Umstand, von dem weder Peter Stepanowitsch noch auch Julija Michailowna Kenntnis hatten. Der unglückliche Andrei Antonowitsch war in seiner geistigen Zerrüttung in den letzten Tagen schon dahin gelangt, im stillen wegen seiner Frau auf Peter Stepanowitsch eifersüchtig zu sein. Wenn er allein war, namentlich nachts, hatte er Augenblicke, wo ihn eine sehr unangenehme Empfindung peinigte.

»Und ich hatte gedacht, wenn einer einem andern zwei Tage hintereinander bis nach Mitternacht im Tete-a-Tete seinen Roman vorliest und dessen Urteil zu hören verlangt, dann hat er doch wenigstens für seine Person sich von diesen äußeren Förmlichkeiten freigemacht. Julija Michailowna empfängt mich ohne alle Umstände; wie soll man sich da Ihr eigenes Verhalten erklären?« sagte Peter Stepanowitsch mit einer Art von würdigem Ernst. »Apropos, hier ist auch Ihr Roman,« fuhr er fort und legte ein großes, schweres, zusammengerolltes, fest in blaues Papier gewickeltes Heft auf den Tisch.

Lembke wurde rot und fing an zu stottern.

»Wo haben Sie ihn denn gefunden?« fragte er vorsichtig, wobei aber doch seine Freude zum Durchbruch kam. Er suchte dieses Gefühl mit aller Macht zu verbergen; aber es gelang ihm nicht.

»Denken Sie sich nur: so zusammengerollt, wie das Heft war, ist es hinter die Kommode gefallen. Ich muß es damals, als ich hereinkam, ungeschickt auf die Kommode geworfen haben. Erst vorgestern wurde es beim Scheuern des Zimmers gefunden. Aber Sie haben mir eine gehörige Arbeit gemacht!«

Lembke schlug ernst die Augen nieder.

»Um Ihretwillen habe ich zwei Nächte hintereinander nicht geschlafen. Vorgestern wurde es gefunden; da habe ich es nun noch behalten und ganz durchgelesen; bei Tage hatte ich keine Zeit, so habe ich die Nächte darauf verwandt. Na, aber ... ich bin nicht damit zufrieden: es ist nicht meine Anschauungsweise. Aber Sie brauchen sich um mein Urteil nicht zu scheren; ich bin nie ein Kritiker gewesen; indessen, mein Bester, losreißen konnte ich mich doch nicht davon, obwohl ich unzufrieden war! Das vierte und fünfte Kapitel, die ... die ... die sind ja ganz eigenartig, hol's der Teufel! Und wieviel Humor Sie hineingestopft haben; ich habe so gelacht! Wie vorzüglich Sie es verstehen, jemand lächerlich zu machen sans que cela paraisse! Na, da im neunten Kapitel, da ist nur von Liebe die Rede; das ist nichts für mich; aber es ist sehr wirkungsvoll; nach Igrenjews Briefe habe ich beinah losgeheult, obgleich Sie den jungen Mann so fein dargestellt haben ... Wissen Sie, das ist ja sehr gefühlvoll; aber gleichzeitig wollen Sie doch durchblicken lassen, daß sein Wesen nicht das richtige ist, nicht wahr? Habe ich das erraten? Na, aber für den Schluß möchte ich Sie einfach prügeln! Was empfehlen Sie denn da? Das ist ja die frühere Vergötterung des Familienglücks, der Kindererzeugung, der Erwerbung von Kapitalien; das Ideal Ihrer Personen ist, ein behäbiges Leben zu führen, ich bitte Sie! Sie bezaubern den Leser, wie denn selbst ich mich gar nicht davon losreißen konnte; aber um so tadelnswerter ist dann doch diese Tendenz. Der Leser bleibt so dumm, wie er vorher war; Sie hätten ihn doch durch den Mund verständiger Menschen aufklären lassen sollen; aber statt dessen ... Na, aber genug; leben Sie wohl! Seien Sie ein andermal nicht so grimmig; ich war nur hergekommen, um Ihnen ein paar Worte zu sagen, die allerdings notwendig sind; aber wenn Sie in einer solchen Laune sind ...«

Andrei Antonowitsch hatte unterdessen seinen Roman genommen und ihn in seinen eichenen Bücherschrank eingeschlossen; zugleich hatte er auch Blümer mit den Augen einen Wink gegeben, daß er verschwinden möchte. Dieser entfernte sich mit einem langen, betrübten Gesichte.

»Ich bin nicht in einer solchen Laune; ich bin nur ... immerzu Unannehmlichkeiten,« murmelte er mit finsterem Gesichte, aber nicht mehr zornig, und setzte sich an den Tisch. »Setzen Sie sich, und sagen Sie Ihre paar Worte. Ich habe Sie lange nicht gesehen, Peter Stepanowitsch; kommen Sie nur künftig nicht wieder in dieser Manier hereingestürmt ... manchmal, wenn man bei der Arbeit ist, dann ist das ...«

»Meine Manieren sind nur ...«

»Ich weiß; ich glaube, daß Sie es ohne Absicht tun; aber man hat manchmal den Kopf voll Sorgen ... Setzen Sie sich!«

Peter Stepanowitsch rekelte sich auf das Sofa hin und schlug sofort die Beine unter.


Fußnoten


1 Politischer Schriftsteller, 1812-1870.

Anmerkung des Übersetzers.

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