Achtes Kapitel. Iwan, der Zarensohn.

Sie gingen hinaus. Peter Stepanowitsch hatte zunächst vor, in die »Sitzung« zurückzueilen, um das Chaos zu besänftigen; aber da er sich wahrscheinlich sagte, es lohne sich nicht, sich mit diesen Leuten lange abzumühen, so ließ er alles im Stich und lief zwei Minuten darauf schon auf der Straße hinter den Fortgegangenen her. Während des Laufens erinnerte er sich einer Seitengasse, durch die man näher zu dem Filippowschen Hause gelangen konnte; bis an die Knie im Schmutze versinkend durcheilte er sie und kam wirklich gerade in dem Augenblicke an, als Stawrogin und Kirillow sich dem Tore näherten.

»Sie sind schon hier?« bemerkte Kirillow. »Das ist gut. Treten Sie ein!«

»Sie haben mir aber doch gesagt, daß Sie ganz allein wohnen?« fragte Stawrogin, als er im Flur an einem zurechtgemachten und bereits kochenden Samowar vorbeikam.

»Sie werden sogleich sehen, mit wem ich hier zusammen wohne,« murmelte Kirillow. »Treten Sie ein!«

Sie gingen hinein. Werchowenski zog sofort den anonymen Brief aus der Tasche, den er kurz vorher bei Lembke erhalten hatte, und legte ihn vor Stawrogin auf den Tisch. Alle drei setzten sich hin. Stawrogin las den Brief schweigend durch.

»Nun?« fragte er.

»Dieser Taugenichts wird so handeln, wie er da schreibt,« sagte Werchowenski. »Da Sie ihn in Ihrer Gewalt haben, so sollten Sie ihn lehren, wie er sich zu benehmen hat. Ich versichere Ihnen, daß er vielleicht schon morgen zu Lembke hingehen wird.«

»Na, mag er es tun!«

»Wie können Sie so reden! Besonders, wo man es verhindern kann.«

»Sie irren sich: er hängt nicht von mir ab. Und die Sache ist mir auch ganz gleichgültig; mir droht er ja mit nichts, nur Ihnen.«

»Auch Ihnen.«

»Ich meine nicht.«

»Aber es kann leicht so kommen, daß die anderen Sie nicht schonen; verstehen Sie das denn nicht? Hören Sie, Stawrogin, das ist ja nur ein Spiel mit Worten. Tut Ihnen wirklich das Geld leid?«

»Ist denn dazu etwa Geld nötig?«

»Unbedingt, zweitausend Rubel oder wenigstens fünfzehnhundert. Geben Sie mir das Geld morgen oder womöglich heute noch, und ich spediere ihn Ihnen morgen abend nach Petersburg, wo er ja auch hinmöchte. Wenn Sie wollen, mit Marja Timofejewna zusammen, wohl zu bemerken!«

Er befand sich in vollständiger Verwirrung, redete ohne jede Behutsamkeit und stieß unüberlegte Worte hervor. Stawrogin betrachtete ihn erstaunt.

»Ich habe keinen Anlaß, Marja Timofejewna wegzuschicken.«

»Vielleicht wollen Sie es auch gar nicht,« sagte Peter Stepanowitsch ironisch lächelnd.

»Möglich, daß ich es nicht will.«

»Machen wir's kurz: werden Sie das Geld geben oder nicht?« schrie ihn Peter Stepanowitsch in zorniger Ungeduld und in einem gewissermaßen gebieterischen Tone an.

Dieser musterte ihn mit ernster Miene.

»Ich werde das Geld nicht geben.«

»Hören Sie mal, Stawrogin, Sie wissen etwas, oder Sie haben schon etwas getan!«

Sein Gesicht verzerrte sich; die Mundwinkel zuckten, und er brach auf einmal in ein ganz unmotiviertes Lachen aus.

»Sie haben ja doch von Ihrem Vater das Geld für das Gut bekommen,« bemerkte Nikolai Wsewolodowitsch ruhig. »Meine Mutter hat Ihnen an Stepan Trofimowitschs Stelle sechs- oder achttausend Rubel gegeben. Bezahlen Sie doch die fünfzehnhundert Rubel von Ihrem eigenen Gelde. Ich bin es endlich müde, für andere Leute Geld zu bezahlen; ich habe so schon sehr viel ausgegeben und bereue es ...« Er mußte selbst über seine Worte lächeln.

»Ah, Sie fangen an zu scherzen ...«

Stawrogin erhob sich von seinem Stuhle; augenblicklich sprang auch Werchowenski auf und stellte sich mechanisch mit dem Rücken gegen die Tür, als wenn er ihm den Ausgang versperren wollte. Nikolai Wsewolodowitsch machte schon eine Bewegung, um ihn von der Tür wegzustoßen und hinauszugehen; aber plötzlich blieb er wieder stehen.

»Ich werde Ihnen Schatow nicht überlassen,« sagte er.

Peter Stepanowitsch zuckte zusammen; beide blickten einander an.

»Ich habe Ihnen vorhin gesagt, wozu Sie Schatows Blut nötig haben,« fuhr Stawrogin mit funkelnden Augen fort. »Sie wollen durch dieses Bindemittel Ihre Gruppen zusammenleimen. Soeben haben Sie Schatow auf sehr geschickte Art hinausgetrieben: Sie wußten ganz genau, daß er nicht sagen würde: ›Ich werde nicht denunzieren‹, und es für eine Gemeinheit halten würde, Ihnen gegenüber zu lügen. Aber mich, wozu in aller Welt haben Sie mich jetzt nötig? Sie setzen mir fast von dem Augenblicke an zu, wo ich aus dem Auslande gekommen bin. Was Sie mir bisher als Erklärung für dieses Ihr Verhalten gesagt haben, ist nur Schwindel. Dabei wünschen Sie, ich möchte dadurch, daß ich Lebjadkin fünfzehnhundert Rubel gebe, Ihren Fedka veranlassen, ihn zu ermorden. Ich weiß, Sie haben die Vorstellung, es sei mir erwünscht, wenn auch meine Frau gleichzeitig ermordet würde. Dadurch, daß Sie mich durch ein Verbrechen binden, hoffen Sie natürlich Gewalt über mich zu erlangen; so ist es doch? Aber wozu wollen Sie über mich Gewalt haben? Wozu wollen Sie mich gebrauchen? Sehen Sie mich doch ein für allemal näher an, ob ich ein Mensch bin, der für Sie taugt, und lassen Sie mich dann in Ruhe!«

»Ist Fedka selbst zu Ihnen gekommen?« fragte Werchowenski ängstlich.

»Ja, er hat sich an mich gewendet; sein Preis war ebenfalls fünfzehnhundert Rubel ... Da! Er kann es selbst bestätigen; da steht er ja!« fügte Stawrogin hinzu und wies mit der Hand nach der Tür.

Peter Stepanowitsch wandte sich schnell um. Aus dem Dunkeln war eine neue Gestalt auf die Schwelle getreten, – Fedka, im Halbpelz, aber ohne Mütze, wie wenn er da wohnte. Er stand da und lachte, indem er seine gleichmäßigen, weißen Zähne fletschte. Seine schwarzen, gelblich schimmernden Augen huschten vorsichtig im Zimmer umher und beobachteten die Herren. Er verstand irgend etwas nicht; offenbar hatte ihn Kirillow soeben hergeholt, und an diesen wandte sich sein fragender Blick; er stand auf der Schwelle, wollte aber das Zimmer nicht betreten.

»Sie haben ihn wahrscheinlich hier in Bereitschaft gehalten, damit er unseren Handel mit anhören oder wohl gar gleich Geld auf die Hand bekommen könne; nicht wahr?« fragte Stawrogin und verließ, ohne eine Antwort abzuwarten, das Haus.

Der fast wahnsinnige Werchowenski holte ihn am Tore ein.

»Halt! Keinen Schritt weiter!« schrie er und faßte ihn am Ellbogen.

Stawrogin suchte seinen Arm loszureißen; aber es gelang ihm nicht. Da ergriff ihn die Wut: er packte Werchowenski mit der linken Hand bei den Haaren, warf ihn aus aller Kraft auf die Erde und ging aus dem Tore hinaus. Aber er war noch nicht dreißig Schritte gegangen, als jener ihn wieder einholte.

»Schließen wir Frieden, schließen wir Frieden!« flüsterte er ihm krampfhaft zu.

Nikolai Wsewolodowitsch zuckte mit den Achseln, blieb aber nicht stehen und wendete sich auch nicht um.

»Hören Sie, ich werde Ihnen gleich morgen Lisaweta Nikolajewna zuführen; wollen Sie? Nein? Warum antworten Sie denn nicht? Sagen Sie, was Sie verlangen; ich werde es tun. Hören Sie: ich werde Ihnen Schatow freigeben; wollen Sie?«

»Also hatten Sie wirklich vor, ihn zu töten?« rief Nikolai Wsewolodowitsch.

»Nun, was wollen Sie mit Schatow? Was wollen Sie mit ihm?« redete der Unsinnige hastig und atemlos weiter; er lief alle Augenblicke ein Stückchen vorwärts und faßte Stawrogin am Ellbogen, wahrscheinlich, ohne sich dessen bewußt zu sein. »Hören Sie: ich will ihn Ihnen freigeben; lassen Sie uns Frieden schließen! Ihr Schuldkonto ist groß; aber ... lassen Sie uns Frieden schließen!«

Stawrogin sah ihn endlich an und war überrascht. Das war ein ganz anderer Blick und eine ganz andere Stimme wie sonst immer und wie noch soeben dort im Zimmer; er sah fast ein anderes Gesicht. Der Ton der Stimme war verändert: Werchowenski bat und flehte. Das war ein Mensch, dem man seinen kostbarsten Schatz wegnimmt oder bereits weggenommen hat, und der noch nicht hat zur Besinnung kommen können.

»Was ist Ihnen denn?« rief Stawrogin.

Der andere antwortete nicht, sondern lief hinter ihm her und sah ihn mit dem früheren flehenden, zugleich aber hartnäckigen Blicke an.

»Lassen Sie uns Frieden schließen!« flüsterte er noch einmal. »Hören Sie, ich habe ebenso wie Fedka ein Messer im Stiefel bereit; aber mit Ihnen möchte ich Frieden schließen.«

»Aber zum Teufel, wozu haben Sie mich denn nötig?« rief Stawrogin in höchstem Erstaunen und in hellem Zorn. »Da steckt wohl ein Geheimnis dahinter, wie? Was bin ich denn für Sie für ein Talisman geworden?«

»Hören Sie, wir werden einen Aufstand erregen,« murmelte jener schnell und wie im Fieber. »Sie glauben nicht, daß wir einen Aufstand erregen werden? Wir werden einen solchen Aufstand erregen, daß alles aus den Fugen geht. Karmasinow hat ganz recht, daß nichts da ist, woran sich jemand halten könnte. Karmasinow ist sehr klug. Nur zehn ebensolche Gruppen in Rußland, und ich bin nicht zu fassen.«

»Gruppen von ebensolchen Dummköpfen, wie diese hier,« entfuhr es Stawrogin unwillkürlich.

»Oh, seien Sie selbst etwas dümmer, Stawrogin; seien Sie selbst etwas dümmer! Wissen Sie, Sie sind ja auch gar nicht so klug, daß man Ihnen das erst noch zu wünschen brauchte; Sie fürchten sich nur, Sie glauben nicht, Sie lassen sich durch die Dimensionen schrecken. Und warum sollen sie Dummköpfe sein? Sie sind gar keine so besonderen Dummköpfe; heutzutage hat kein Mensch seinen eigenen Verstand. Heutzutage gibt es sehr wenige selbständig denkende Köpfe. Wirginski ist ein sehr reiner Mensch, reiner als solche wie wir, zehnmal so rein; na, mag er es sein! Liputin ist ein Schurke; aber ich kenne seine schwache Seite. Es gibt keinen Schurken, der nicht seine schwache Seite hätte. Nur Ljamschin ist ohne jede schwache Seite; aber dafür ist er in meiner Hand. Noch einige solche Gruppen, und ich habe überall Pässe und Geld zur Verfügung. Und sichere Verstecke; da mögen sie mich suchen! Die eine Gruppe werden sie aufheben und eine andere in nächster Nähe nicht bemerken. Wir werden einen Aufruhr ins Werk setzen ... Glauben Sie wirklich nicht, daß wir beide dazu völlig ausreichend sind?«

»Nehmen Sie Schigalew, und lassen Sie mich in Ruhe! ...«

»Schigalew ist ein genialer Mensch! Wissen Sie, er ist ein Genie in der Art von Fourier, aber kühner als Fourier, stärker als Fourier; ich werde sein System studieren. Er hat die ›Gleichheit‹ erdacht!«

»Er fiebert und redet irre; es muß ihm etwas ganz Besonderes widerfahren sein,« dachte Stawrogin, als er ihn noch einmal musterte. Beide gingen ohne stehen zu bleiben weiter.

»Das ist in seinem Hefte schön,« fuhr Werchowenski fort: »er hat der Spionage ihre Stelle angewiesen. Bei ihm beaufsichtigt jedes Mitglied der Gesellschaft jedes andere und ist zur Anzeige verpflichtet. Jeder gehört allen und alle jedem. Alle sind Sklaven und in diesem Sklavenzustande untereinander gleich. In extremen Fällen kommen Verleumdung und Mord zur Anwendung; aber die Hauptsache ist die Gleichheit. Das erste, was geschehen wird, ist, daß sich das Niveau der Bildung, der Wissenschaften und der Talente senken wird. Ein hohes Niveau der Wissenschaften und der Talente ist nur höher Begabten erreichbar; aber wir brauchen keine höher Begabten! Die höher Begabten haben immer die Macht an sich gerissen und sind Despoten gewesen. Die höher Begabten müssen notwendigerweise Despoten sein und haben immer mehr zur Demoralisation beigetragen als Nutzen gebracht; die werden vertrieben oder hingerichtet. Einem Cicero wird die Zunge ausgeschnitten, einem Kopernikus werden die Augen ausgestochen; ein Shakespeare wird gesteinigt: da haben Sie den Schigalewismus! Sklaven müssen gleich sein: ohne Despotismus hat es noch nie weder Freiheit noch Gleichheit gegeben; aber in einer Herde muß Gleichheit herrschen, und das ist der Schigalewismus! Ha-ha-ha! Kommt Ihnen das sonderbar vor? Ich bin für den Schigalewismus!«

Stawrogin suchte seinen Schritt zu beschleunigen und möglichst bald nach Hause zu gelangen. Es ging ihm der Gedanke durch den Kopf: »Wenn dieser Mensch betrunken ist, wo hat er denn Gelegenheit gehabt, sich zu betrinken? Sollte es wirklich der Kognak getan haben?«

»Hören Sie, Stawrogin: Berge zu planieren, das ist ein schöner, keineswegs lächerlicher Gedanke. Ich bin für Schigalew! Wir brauchen keine Bildung, wir haben genug Wissenschaft! Auch ohne Wissenschaft reicht das Material auf tausend Jahre aus; was eingeführt werden muß, das ist der Gehorsam. In der Welt mangelt es nur an einem: am Gehorsam. Der Durst nach Bildung ist schon ein aristokratischer Durst. Kaum sind Familie oder Liebe da, so regt sich auch das Verlangen nach Eigentum. Wir werden dieses Verlangen ertöten: wir werden die Trunksucht, die Klatscherei, das Denunziantentum befördern; wir werden eine unerhörte Demoralisation hervorrufen; wir werden jedes Genie im Säuglingsalter ersticken. Alles wird unter einen Nenner gebracht, vollständige Gleichheit geschaffen werden. ›Wir haben ein Handwerk gelernt, und wir sind ehrliche Leute; weiter brauchen wir nichts,‹ das war vor kurzem die Antwort englischer Arbeiter. Nur das Notwendige ist notwendig, das wird von nun an der Wahlspruch des Erdballs sein. Aber es ist auch eine Art von Krampf nötig; dafür werden wir, die Leiter, sorgen. Sklaven müssen Leiter haben. Voller Gehorsam, vollständiger Verlust der eigenen Persönlichkeit; aber alle dreißig Jahre einmal gestattet Schigalew auch einen Krampf, und dann fangen auf einmal alle an, einander bis zu einem gewissen Grade aufzufressen, einzig und allein, damit es nicht langweilig wird. Die Langeweile ist eine aristokratische Empfindung; im Schigalewismus wird es kein Verlangen geben. Verlangen und Streben für uns, aber für die Sklaven der Schigalewismus.«

»Sich selbst schließen Sie aus?« sagte Stawrogin wieder unwillkürlich.

»Mich und Sie. Wissen Sie, ich hatte daran gedacht, die Welt dem Papste zu übergeben. Mag er zu Fuß und barfuß herauskommen und sich dem Pöbel zeigen: ›Seht, wohin man mich gebracht hat!‹ und alle werden hinter ihm herfluten, sogar die Heere. Der Papst oben, wir um ihn herum und unter uns die Schigalewsche Masse. Erforderlich ist nur, daß die Internationale sich mit dem Papste verständigt; und das wird auch geschehen. Der alte Herr wird sich augenblicklich einverstanden erklären. Es wird ihm auch gar nichts anderes übrigbleiben; denken Sie an das, was ich Ihnen vorhersage. Ha-ha-ha, ist das dumm? Sagen Sie, ist das dumm oder nicht?«

»Hören Sie auf damit!« murmelte Stawrogin ärgerlich.

»Gut, ich will damit aufhören. Hören Sie, den Gedanken mit dem Papst habe ich aufgegeben! Hol den Schigalewismus der Teufel! Hol der Teufel den Papst! Wir brauchen das, was der heutige Tag verlangt, und nicht den Schigalewismus; denn der ist eine Art Goldschmiedsarbeit, ein Ideal, etwas, was der Zukunft angehört. Schigalew ist ein Goldschmied und dumm wie alle Philanthropen. Wir brauchen grobe Arbeit, und Schigalew verachtet solche. Hören Sie: der Papst wird im Westen regieren, und bei uns, bei uns Sie!«

»Lassen Sie mich in Ruhe; Sie sind ja betrunken!« murmelte Stawrogin und schritt schneller aus.

»Stawrogin, Sie sind ein schöner Mann!« rief Peter Stepanowitsch beinah verzückt. »Wissen Sie wohl, daß Sie ein schöner Mann sind? Und das Beste ist an Ihnen, daß Sie das manchmal selbst nicht wissen. Oh, ich habe Sie studiert! Ich sehe Sie oft von der Seite, aus einem Winkel her an! In Ihnen steckt sogar Treuherzigkeit und Naivität, wissen Sie das? Das steckt noch in Ihnen, jawohl! Sie leiden gewiß, leiden wirklich infolge dieser Treuherzigkeit. Ich liebe die Schönheit. Ich bin ein Nihilist; aber ich liebe die Schönheit. Lieben etwa die Nihilisten die Schönheit nicht? Nur die Idole lieben sie nicht; na, aber ich liebe ein Idol! Sie sind mein Idol! Sie beleidigen niemand, und dennoch hassen alle Sie; Sie sehen aus wie alle, und dennoch fürchten sich alle vor Ihnen; das ist gut. An Sie wird niemand herantreten, um Ihnen auf die Schulter zu klopfen. Sie sind ein echter Aristokrat. Ein Aristokrat, der unter die Demokratie geht, ist bezaubernd! Ihnen kommt es nicht darauf an, ein Leben zu opfern, sei es Ihr eigenes, sei es ein fremdes. Sie sind gerade ein solcher Mensch, wie er nötig ist. Ich, ich habe gerade einen solchen Menschen wie Sie nötig. Ich kenne außer Ihnen niemand, der meinen Wünschen entspräche. Sie sind der Führer, Sie sind die Sonne, und ich bin Ihr Wurm ...«

Er küßte ihm plötzlich die Hand. Ein Gefühl der Kälte lief Stawrogin über den Rücken, und er riß erschrocken seine Hand weg. Sie blieben stehen.

»Ein Verrückter!« flüsterte Stawrogin.

»Vielleicht rede ich irre, vielleicht rede ich irre!« fiel dieser hastig ein; »aber ich habe den ersten Schritt ausgedacht. Niemals könnte Schigalew den ersten Schritt ausdenken. Menschen wie Schigalew gibt es viele! Aber nur einer, nur ein einziger Mensch in Rußland hat den ersten Schritt ersonnen und weiß, wie er gemacht werden muß. Dieser Mensch bin ich. Warum sehen Sie mich so an? Ich bedarf Ihrer gerade, Ihrer bedarf ich; ohne Sie bin ich eine Null. Ohne Sie bin ich eine Fliege, eine in eine Flasche eingesperrte Idee, ein Kolumbus ohne Amerika.«

Stawrogin stand da und blickte ihm unverwandt in die irrsinnigen Augen.

»Hören Sie, wir werden zuerst einen Aufruhr erregen,« sagte Werchowenski mit größter Schnelligkeit und faßte dabei alle Augenblicke Stawrogin an den linken Ärmel. »Ich habe Ihnen schon gesagt: wir werden tief in die Volksmassen eindringen. Wissen Sie wohl, daß wir schon jetzt außerordentlich stark sind? Zu uns gehören nicht nur diejenigen, die da Mord und Brandstiftung begehen, Aufsehen erregende Schüsse abfeuern oder jemand in die Schulter beißen. Solche Leute sind uns nur hinderlich. Ohne Disziplin kann ich mir keinen Erfolg denken. Ich bin ja ein Schurke, aber kein Sozialist, ha-ha! Hören Sie, ich habe sie mir alle zusammengerechnet: der Lehrer, der sich mit den Kindern über ihren Gott und ihre Wiege lustig macht, der ist schon unser. Der Advokat, der einen gebildeten Mörder damit verteidigt, daß dieser geistig höher entwickelt sei als seine Opfer und, um Geld zu erlangen, notwendig habe morden müssen, ist schon unser. Die Schüler, die einen Bauer totschlagen, um das Gefühl, das man dabei empfindet, kennen zu lernen, sind unser. Die Geschworenen, die alle Verbrecher ohne Ausnahme freisprechen, sind unser. Der Staatsanwalt, der sich bei Gericht ängstigt, er erscheine vielleicht nicht liberal genug, ist unser, unser. Von den Verwaltungsbeamten und von den Männern der Feder, oh, da sind viele unser, sehr viele, und sie wissen es selbst nicht einmal. Auf der anderen Seite hat der Gehorsam der Schüler und der Dummköpfe den höchsten Grad erreicht; den Lehrern aber ist die Gallenblase geplatzt, und sie lehren dementsprechend; überall maßlose Hoffart, unerhörte, viehische Begierde ... Wissen Sie, wissen Sie, wie viele wir schon allein durch unsere gebrauchsfertigen Ideen für uns gewinnen? Als ich abreiste, grassierte die Littrésche These, das Verbrechen sei Wahnsinn; jetzt, wo ich wiederkomme, ist das Verbrechen nicht mehr Wahnsinn, sondern geradezu ein gesunder Gedanke, beinah eine Pflicht, wenigstens ein edler Protest. ›Na, warum soll denn ein geistig hochentwickelter Mörder nicht morden, wenn er Geld braucht!‹ Aber das sind nur kleine, unbedeutende Beispiele. Der russische Gott retiriert sich schon vor dem Fusel. Das Volk ist betrunken, die Mütter sind betrunken, die Kinder sind betrunken, die Kirchen sind leer, und in den Gerichten heißt es: ›Zweihundert Rutenhiebe, oder schleppe einen Eimer Schnaps herbei!‹ Oh, lassen Sie nur diese Generation heranwachsen! Nur schade, daß wir keine Zeit haben zu warten; sonst könnten wir die Trunksucht noch mehr um sich greifen lassen! Ach, wie schade, daß es keine Proletarier gibt! Aber es wird welche geben, es wird welche geben; es wird dazu kommen ...«

»Schade auch, daß wir dumm geworden sind,« murmelte Stawrogin und setzte seinen Weg fort.

»Hören Sie, ich habe selbst ein sechsjähriges Kind gesehen, das seiner betrunkenen Mutter als Führer nach Hause diente, und die schimpfte auf das Kind mit unflätigen Ausdrücken. Sie können sich denken, daß ich mich darüber gefreut habe! Wenn das Kind in unsere Hände fällt, werden wir es vielleicht kurieren ... erforderlichenfalls treiben wir es auf vierzig Jahre in die Wüste ... Aber eine oder zwei Generationen der Demoralisation sind jetzt notwendig, einer unerhörten, grundgemeinen Demoralisation, wobei sich der Mensch in ein garstiges, feiges, grausames, selbstisches Scheusal verwandelt – das ist es, was wir nötig haben! Und dann noch etwas ›frisches Blut‹, damit er sich daran gewöhnt. Warum lachen Sie? Ich widerspreche mir nicht. Ich widerspreche nur den Philanthropen und dem Schigalewismus, aber nicht mir selbst! Ich bin ein Schurke und kein Sozialist. Ha-ha-ha! Nur schade, daß wir so wenig Zeit haben. Ich habe zu Karmasinow gesagt, wir würden im Mai anfangen und zu Mariä Fürbitte fertig sein. Ist das schnell? Ha-ha! Wissen Sie, was ich Ihnen sagen will, Stawrogin: im russischen Volke hat es bisher keine Schamlosigkeit gegeben, obwohl es mit schmutzigen Ausdrücken geschimpft hat. Wissen Sie wohl, daß dieser leibeigene Knecht seine Würde besser gewahrt hat als Karmasinow die seinige? Man hat ihn geprügelt; aber er hat seine Götter verteidigt, während Karmasinow das nicht getan hat.«

»Nun, Werchowenski, ich höre Sie zum erstenmal so reden und höre Sie mit Erstaunen,« sagte Nikolai Wsewolodowitsch. »Sie sind also geradezu kein Sozialist, sondern verfolgen ehrgeizige politische Pläne?«

»Ein Schurke bin ich, ein Schurke. Machen Sie sich Gedanken darüber, was ich für ein Mensch bin? Ich werde Ihnen sogleich sagen, was für einer ich bin; darauf steuere ich ja hin. Nicht ohne besonderen Grund habe ich Ihnen die Hand geküßt. Aber notwendigerweise muß auch das Volk die Überzeugung haben, daß wir wissen, was wir wollen, und daß die Gegner nur ›die Knittel schwingen und die Ihren treffen‹. Ach, hätten wir nur mehr Zeit! Das einzige Unglück ist, daß wir keine Zeit haben. Wir werden die Zerstörung proklamieren ... denn das ist wieder so eine bezaubernde Idee! Aber wir müssen die Gelenke geschmeidig machen. Wir werden Brandstiftungen veranlassen ... Wir werden Legenden in Umlauf setzen ... Dabei wird eine jede dieser räudigen ›Gruppen‹ von Nutzen sein können. Ich werde Ihnen in diesen selben Gruppen Jäger ausfindig machen, die jeden verlangten Schuß abzugeben bereit und obendrein noch für die Ehre dankbar sind. Na, und dann wird der Aufruhr beginnen! Ein Wackeln und Schwanken wird sich begeben, wie es die Welt noch nie gesehen hat ... Ein dunkler Nebel wird sich über Rußland breiten; das Land wird sich mit Tränen nach seinen alten Göttern zurücksehnen ... Na, und dann lassen wir ihn auftreten ... wen?«

»Nun wen denn?«

»Iwan, den Zarensohn.«

»We-en?«

»Iwan, den Zarensohn; Sie, Sie!«

Stawrogin dachte ein Weilchen nach.

»Einen Usurpator?« fragte er plötzlich, indem er den fanatischen Menschen in tiefem Staunen anblickte. »Ah, sieh da, endlich bekomme ich Ihren Plan zu hören!«

»Wir werden sagen, daß er ›sich verbirgt‹,« sagte Werchowenski leise, wie wenn ein Verliebter flüsterte; er machte tatsächlich den Eindruck eines Betrunkenen. »Wissen Sie wohl, was der Ausdruck: ›er verbirgt sich‹ besagt? Aber er wird erscheinen, er wird erscheinen. Wir werden eine Legende in Umlauf setzen, eine bessere als die der Skopzen.1 Er ist da; aber niemand hat ihn gesehen. Oh, was für eine prächtige Legende kann man da fabrizieren! Und die Hauptsache ist: eine neue Kraft kommt. Und eben die ist nötig; nach der sehnt man sich. Das ist ja für den Sozialismus charakteristisch: er hat immer nur die alten Kräfte zerstört, aber keine neuen hervorgebracht. Aber hier ist eine Kraft, und dazu was für eine Kraft, eine noch nie dagewesene Kraft! Wir brauchen nur ein einziges Mal den Hebel anzusetzen, um die Erde aus ihrem Lager zu heben. Alles wird in Bewegung kommen!«

»Also haben Sie im Ernst auf mich gerechnet?« fragte Stawrogin boshaft lächelnd.

»Warum lachen Sie, und noch dazu so boshaft? Jagen Sie mir keinen Schreck ein! Ich bin jetzt wie ein kleines Kind; durch ein bloßes derartiges Lächeln kann man mich in den Tod erschrecken. Hören Sie, ich werde Sie niemandem zeigen, niemandem: es muß so sein. Er ist da; aber niemand hat ihn gesehen; er verbirgt sich. Aber wissen Sie, man kann Sie auch zeigen, zum Beispiel einem unter hunderttausend. Dann wird sich die Kunde im ganzen Lande verbreiten: ›er ist gesehen worden, er ist gesehen worden!‹ Auch Iwan Filippowitsch, der Gott Zebaoth, ist gesehen worden; ›mit eigenen Augen‹ haben ihn die Menschen gesehen, wie er in einem Wagen gen Himmel fuhr. Und Sie sind nicht ein Iwan Filippowitsch; Sie sind ein schöner Mann, stolz wie ein Gott; Sie suchen keinen eigenen Gewinn; Sie haben den Glorienschein der Selbstaufopferung; Sie sind der, der ›sich verbirgt‹. Die Hauptsache ist die Legende! Sie werden die Menschen gewinnen; Sie werden sie ansehen und gewinnen. Er bringt eine neue Wahrheit und ›verbirgt sich‹. Und dann werden wir zwei oder drei salomonische Aussprüche in Umlauf setzen. Die Gruppen, die Fünferkomitees werden das Ihre tun; Zeitungen brauchen wir nicht. Wenn von zehntausend Bitten nur eine erfüllt wird, so werden alle mit Bitten kommen. In jeder Gemeinde wird jeder Bauer wissen, daß da irgendwo ein Baumloch ist, in das Bittschriften hineingelegt werden sollen. Und die Erde wird freudig aufstöhnen: ›Ein neues, gerechtes Gesetz kommt!‹ und das Meer wird wogen, und die Komödiantenbude wird zusammenstürzen, und dann werden wir überlegen, wie wir dafür einen steinernen Bau errichten können. Zum ersten Male! Wir werden ihn errichten, wir, nur wir.«

»Wahnwitz!« rief Stawrogin.

»Warum wollen Sie nicht? Warum nicht? Fürchten Sie sich? Eben deswegen bin ich doch gerade auf Sie verfallen, weil Sie sich vor nichts fürchten. Ist der Plan unvernünftig, wie? Ich bin ja vorläufig noch ein Kolumbus ohne Amerika; ist etwa ein Kolumbus ohne Amerika vernünftig?«

Stawrogin schwieg. Unterdessen waren sie zum Hause gelangt und blieben an der Haustür stehen.

»Hören Sie,« sagte Werchowenski, indem er sich zu seinem Ohre hinbog; »ich will Ihnen einen Dienst leisten, ohne daß es Sie Geld kostet; ich werde morgen mit Marja Timofejewna ein Ende machen, ohne daß es Sie etwas kostet; und gleich morgen werde ich Ihnen Lisa zuführen. Wollen Sie Lisa haben, gleich morgen?«

»Was ist mit ihm? Ist er wirklich verrückt geworden?« dachte Stawrogin und lächelte dabei. Die Haustür wurde geöffnet.

»Stawrogin, wollen Sie unser Amerika sein?« fragte Werchowenski, indem er ihn zum letzten Male an den Arm faßte.

»Wozu?« erwiderte Nikolai Wsewolodowitsch in strengem, ernstem Tone.

»Er hat keine Lust! Hab ich's doch vorher gewußt!« rief jener in einem Anfall rasenden Zornes. »Sie lügen, Sie erbärmlicher, alberner, schlaffer Junker; ich glaube es Ihnen nicht; Appetit haben Sie schon, sogar einen Wolfshunger! ... Begreifen Sie doch, daß Ihre Rechnung jetzt schon allzu groß ist und ich auf Sie schlechterdings nicht verzichten kann! Es gibt auf der Erde keinen andern, den ich brauchen könnte, als Sie! Ich habe mir Ihre Rolle im Auslande ausgedacht; ich habe die Rolle erdacht im Hinblick auf Sie. Wenn ich Sie nicht aus dem Winkel her betrachtet hätte, wäre mir der ganze Gedanke gar nicht in den Sinn gekommen! ...«

Stawrogin antwortete ihm nicht, sondern ging die Treppe hinauf.

»Stawrogin!« rief ihm Werchowenski nach, »ich gebe Ihnen einen Tag Bedenkzeit ... na, zwei Tage ... na, drei Tage; mehr als drei kann ich Ihnen nicht gewähren; aber dann, dann bitte ich um Ihre Antwort!«


Fußnoten


1 Siehe die Anmerkung zu S. 36.

Bei Tichon1.

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