An dem Eindrucke, den die schnell bekannt gewordene Geschichte des Duells bei unserer ganzen vornehmen Gesellschaft machte, war das Merkwürdigste die Einmütigkeit, mit der alle sich beeilten, sich rückhaltlos auf Nikolai Wsewolodowitschs Seite zu stellen. Viele seiner früheren Feinde erklärten sich jetzt mit aller Entschiedenheit für seine Freunde. Den Hauptgrund dieses überraschenden Umschwungs der öffentlichen Meinung bildeten einige sehr treffende Worte, die von einer bis dahin sehr zurückhaltenden Persönlichkeit laut ausgesprochen waren und mit einemmal dem Ereignis eine Deutung verliehen, welche dem größten Teile unserer Gesellschaft höchst interessant war. Das trug sich folgendermaßen zu. Gerade am Tage nach jenem Ereignisse kam bei der Gemahlin des Adelsmarschalls unseres Gouvernements, die ihren Namenstag feierte, die ganze Stadt zusammen. Unter den Anwesenden befand sich auch Julija Michailowna, oder, richtiger gesagt, sie hatte unter ihnen den Vorsitz; sie war mit Lisaweta Nikolajewna gekommen, die von Schönheit und besonderer Heiterkeit strahlte, was vielen unserer Damen diesmal sogleich sehr verdächtig vorkam. Beiläufig gesagt: an ihrer Verlobung mit Mawriki Nikolajewitsch konnte kein Zweifel mehr bestehen. Auf die scherzhafte Frage eines verabschiedeten, aber sehr angesehenen Generals, von dem weiter unten die Rede sein wird, antwortete Lisaweta Nikolajewna selbst an diesem Abend geradezu, daß sie Braut sei. Und was geschah? Keine unserer Damen mochte an diese Verlobung so recht glauben. Alle blieben hartnäckig bei der Vermutung, daß da irgendein Roman vorliege, eine bedeutsame, geheimnisvolle Familiengeschichte, die sich in der Schweiz und, wie man aus irgendwelchem Grunde mit Bestimmtheit annahm, unter Julija Michailownas Mitwirkung abgespielt habe. Es ist schwer zu sagen, warum sich diese Gerüchte oder, richtiger gesagt, diese Phantasien mit solcher Hartnäckigkeit hielten, und warum man mit solcher Sicherheit Julija Michailowna mit hineinflocht. Sowie sie eintrat, wandten sich alle mit seltsamen, erwartungsvollen Blicken zu ihr hin. Es muß bemerkt werden, daß man von dem Duell, sowohl weil es erst kurz vorher stattgefunden hatte, als auch wegen gewisser Begleitumstände desselben an diesem Abend noch mit einiger Vorsicht und nicht laut sprach. Außerdem wußte man noch nichts von den Maßnahmen der Behörde. Die beiden Duellanten waren, soweit es bekannt geworden war, unbehelligt geblieben. Alle wußten zum Beispiel, daß Artemi Petrowitsch früh morgens ohne jede Behinderung nach seinem Gute Duchowo gefahren war. Indessen lauerte man natürlich darauf, daß jemand als der erste anfinge, davon zu reden, und dadurch für die Ungeduld der ganzen Gesellschaft die Schleusen öffnete. Namentlich hoffte man auf den obenerwähnten General, und man hatte sich nicht getäuscht.
Dieser General, eines der vornehmsten Mitglieder unseres Klubs, ein nicht sehr reicher Gutsbesitzer, aber ein Mann von tadelloser Denkart, ein altmodischer Courmacher der jungen Damen, liebte es unter anderm sehr, in großen Gesellschaften mit generalsmäßigem Aplomb gerade von solchen Dingen laut zu reden, über die alle bis dahin nur in vorsichtigem Flüstertone gesprochen hatten. Das war sozusagen seine Spezialität in unserer Gesellschaft. Dabei zog er die Worte besonders in die Länge und bediente sich einer süßlichen Aussprache; entlehnt hatte er diese Angewohnheit entweder solchen Russen, die im Auslande gereist waren, oder jenen vormals reichen russischen Gutsbesitzern, die infolge der bäuerlichen Reform ganz heruntergekommen waren. Stepan Trofimowitsch machte sogar einmal die Bemerkung, je mehr ein Gutsbesitzer heruntergekommen sei, um so süßlicher lispele er und um so mehr ziehe er die Worte in die Länge. Auch er selbst reckte übrigens die Worte in süßlicher Manier und lispelte; aber an sich bemerkte er das nicht.
Der General begann auf Grund seiner besonderen Kompetenz davon zu reden. Denn er war nicht nur mit Artemi Petrowitsch weitläufig verwandt (obwohl er mit ihm in Streit lebte und sogar mit ihm prozessierte), sondern hatte überdies früher einmal selbst zwei Duelle gehabt und war sogar wegen des einen zum Gemeinen degradiert und nach dem Kaukasus geschickt worden. Jemand erwähnte Warwara Petrowna, die bereits zum zweitenmal »nach der Krankheit« wieder ausgefahren sei; eigentlich aber erwähnte der Betreffende nicht sie selbst, sondern das vorzügliche Zusammenpassen ihrer vier grauen Kutschpferde von eigener Stawroginscher Zucht. Der General bemerkte auf einmal, er sei heute »dem jungen Stawrogin« begegnet, der zu Pferde gewesen sei ... Alle verstummten sofort. Der General schmatzte mit den Lippen und ließ sich folgendermaßen vernehmen, wobei er seine goldene Tabaksdose, ein Geschenk von hoher Stelle, zwischen den Fingern herumdrehte:
»Ich bedaure, daß ich nicht vor einigen Jahren hier gewesen bin ... ich war nämlich in Karlsbad. Hm ... Mich interessiert dieser junge Mann sehr, über den ich nachher so viele Gerüchte von allerlei Art vorfand. Hm ... Wie ist das? Ist es wahr, daß er geistesgestört ist? Damals behauptete es jemand. Auf einmal hörte ich neulich, daß ihn hier ein Student in Gegenwart seiner Kusinen beleidigt habe und er vor ihm unter den Tisch gekrochen sei; und gestern höre ich von Stepan Wysozki, daß Stawrogin sich mit diesem ... Gaganow duelliert habe. Und einzig und allein in der kavaliermäßigen Absicht, dem wütenden Menschen seine Stirn darzubieten, um nur von ihm loszukommen. Hm ... Das war in den zwanziger Jahren bei der Garde so Sitte. Verkehrt er hier bei jemandem?«
Der General schwieg, wie wenn er eine Antwort erwartete. Für die Ungeduld der Gesellschaft waren nun die Schleusen geöffnet.
»Was kann einfacher sein?« sagte auf einmal Julija Michailowna mit erhobener Stimme; sie war gereizt darüber, daß alle plötzlich wie auf Kommando die Blicke zu ihr hingewandt hatten. »Es ist doch nicht weiter zu verwundern, daß Stawrogin sich mit Gaganow geschlagen, dem Studenten aber sich nicht gestellt hat. Er konnte doch seinen früheren Leibeigenen nicht zum Duell fordern!«
Das waren bedeutsame Worte! Ein einfacher, klarer Gedanke, der aber niemandem bis dahin in den Sinn gekommen war. Diese Worte taten außerordentliche Wirkung. Aller skandalöse Klatsch, alles Kleinliche und Anekdotenhafte trat mit einem Schlage in den Hintergrund. Die Sache gewann auf einmal ein ganz anderes Gesicht. Es erschien auf dem Plan eine neue Persönlichkeit, in der sich alle bisher geirrt hatten, ein Mann von fast idealer Strenge der Denkweise. Tödlich beleidigt von einem Studenten, also von einem gebildeten, nicht mehr leibeigenen Menschen, verachtet er die Beleidigung, weil der Beleidiger sein früherer Leibeigener ist. In der Gesellschaft ruft dieses Verhalten Aufsehen und häßliches Gerede hervor; die unbesonnen urteilende Gesellschaft blickt geringschätzig auf einen Menschen, der sich hat ins Gesicht schlagen lassen; er verachtet die Meinung der Gesellschaft, die sich nicht zu einer richtigen Anschauungsweise erheben kann und doch über solche Dinge urteilt.
»Und da sitzen nun wir beide da, Iwan Alexandrowitsch, und reden über die richtige Anschauungsweise,« bemerkte ein altes Klubmitglied mit edler Erregung über die eigenen Mängel zu einem andern.
»Jawohl, Peter Michailowitsch, jawohl!« stimmte ihm der andere mit einer Art von Genuß bei. »Und da redet man noch von der Jugend!«
»Hier ist nicht von der Jugend im allgemeinen die Rede, Iwan Alexandrowitsch,« mischte sich ein dritter ein. »Hier handelt es sich nicht um die Jugend im allgemeinen, sondern um ein Meteor, nicht um einen beliebigen jungen Menschen; so muß man die Sache auffassen.«
»Das ist es gerade, was wir brauchen; wir haben Mangel an wirklichen Männern.«
Die Hauptsache war dabei, daß der »neue Mann« nicht nur ein »unzweifelhafter Edelmann«, sondern überdies auch einer der reichsten Grundbesitzer des Gouvernements war und folglich als eine kräftige Stütze der Gesellschaft angesehen werden mußte. Übrigens habe ich auch schon früher die Stimmung unserer Gutsbesitzer beiläufig erwähnt.
Man ereiferte sich sogar:
»Nicht genug daran, daß er den Studenten nicht gefordert hat, er hat sogar die Hände auf den Rücken gelegt; beachten Sie das noch ganz besonders, Exzellenz!« betonte ein anderer.
»Auch hat er ihn nicht vor ein neumodisches Gericht gezogen,« fügte wieder ein anderer hinzu.
»Obgleich der Student von einem neumodischen Gerichte wegen tätlicher Beleidigung eines Edelmannes zu fünfzehn Rubeln verurteilt worden wäre, he-he-he!«
»Nein, ich will Ihnen ein geheimes Mittel angeben, das bei den neumodischen Gerichten von Nutzen ist,« sagte einer ganz wütend. »Wenn jemand gestohlen oder betrogen hat und abgefaßt und klar überführt ist, dann muß er so schnell wie möglich, solange es noch Zeit ist, nach Hause laufen und seine Mutter totschlagen. Sofort wird er von allem freigesprochen, und die Damen auf den Tribünen winken mit ihren batistenen Taschentüchern. Das ist die volle Wahrheit!«
»Ja, das ist die Wahrheit! Das ist die Wahrheit!«
Interessante Geschichtchen durften natürlich nicht fehlen. Man erinnerte sich an Nikolai Wsewolodowitschs Beziehungen zum Grafen K***. Die scharfen, isoliert dastehenden Ansichten des Grafen K*** über die letzten Reformen waren bekannt. Bekannt war auch seine merkwürdige Tätigkeit, die in der letzten Zeit allerdings etwas nachgelassen hatte. Und nun wurde es allen auf einmal unzweifelhaft, daß Nikolai Wsewolodowitsch mit einer der Töchter des Grafen K*** verlobt sei, obgleich nichts einen bestimmten Anlaß zu einem solchen Gerüchte gab. Was aber die wunderbaren Abenteuer mit Lisaweta Nikolajewna in der Schweiz anlangte, so redeten die Damen davon überhaupt nicht mehr. Wir erwähnen bei dieser Gelegenheit, daß Drosdows gerade in dieser Zeit alle bisher von ihnen unterlassenen Besuche nachgeholt hatten. Über Lisaweta Nikolajewna hatten sich alle bereits die feststehende Meinung gebildet, sie sei ein ganz gewöhnliches Mädchen und kokettiere mit ihren kranken Nerven. Ihre Ohnmacht am Tage von Nikolai Wsewolodowitschs Ankunft erklärte man jetzt ganz einfach als eine Folge des Schrecks über das ungeheuerliche Benehmen des Studenten. Man betonte sogar übermäßig den prosaischen Charakter eben des Begebnisses, dem man vorher eine Art von phantastischem Kolorit zu geben gesucht hatte; und an eine gewisse lahme Frauensperson dachte man überhaupt nicht mehr; man genierte sich, sie auch nur zu erwähnen. »Und wenn auch hundert lahme Frauenspersonen da wären, – wer ist nicht einmal jung gewesen?« hieß es. Man hob Nikolai Wsewolodowitschs respektvolles Benehmen gegen seine Mutter hervor, fand an ihm diese und jene Tugenden und sprach wohlwollend von dem Wissen, das er sich in den vier Jahren auf deutschen Universitäten erworben habe. Artemi Petrowitschs Verhalten wurde entschieden als taktlos bezeichnet, als eine Verkennung der Pflichten gegen einen Standesgenossen; Julija Michailowna erklärte man für eine überaus scharfsinnige Dame.
So kam es, daß, als endlich Nikolai Wsewolodowitsch selbst erschien, alle ihm mit dem naivsten Ernste begegneten und in allen Augen, die auf ihn gerichtet waren, die ungeduldigste Erwartung zu lesen war. Nikolai Wsewolodowitsch hüllte sich sogleich in das strengste Schweigen, was alle selbstverständlich weit mehr billigten, als wenn er eine Unmenge zusammengeredet hätte. Kurz, alles glückte ihm; er war in die Mode gekommen. Wer sich einmal in der Gesellschaft der Gouvernementsstadt gezeigt hatte, konnte sich nachher auf keine Weise wieder verbergen. Nikolai Wsewolodowitsch begann wieder wie früher alle gesellschaftlichen Gebräuche der Gouvernementsstadt auf das peinlichste zu erfüllen. Man fand ihn nicht heiter: »Der junge Mann hat viel gelitten,« hieß es; »er ist ein anderer Mensch wie andere Leute; er hat allen Anlaß, nachdenklich zu sein.« Selbst sein Stolz und seine launenhafte Unzugänglichkeit, um derentwillen er bei uns vier Jahre vorher so gehaßt worden war, wurden jetzt geachtet und gefielen wohl.
Am meisten triumphierte Warwara Petrowna. Ich kann nicht sagen, ob sie sich über die Zerstörung ihrer Zukunftsträumereien in betreff Lisaweta Nikolajewnas sehr grämte. Auch der Familienstolz half dabei natürlich sehr mit. Eins war merkwürdig: Warwara Petrowna war auf einmal ganz fest davon überzeugt, daß Nikolai tatsächlich bei dem Grafen K*** »seine Wahl getroffen« habe; aber (und das war das Allermerkwürdigste) sie war davon nur auf Grund von Gerüchten überzeugt, die ihr wie allen anderen der Wind zugetragen hatte; Nikolai Wsewolodowitsch selbst zu fragen fürchtete sie sich. Ein paarmal allerdings konnte sie sich doch nicht beherrschen und machte ihm in heiterem Tone unter vier Augen Vorwürfe, daß er ihr gegenüber nicht recht offen sei; Nikolai Wsewolodowitsch lächelte und fuhr fort zu schweigen. Das Schweigen faßte sie als Zeichen der Zustimmung auf. Aber bei alledem wurde sie den Gedanken an die Lahme nicht los. Dieser Gedanke lag ihr wie ein Stein, wie ein Alp auf dem Herzen und ängstigte sie durch sonderbare Träume und Ahnungen, und das alles zusammen und gleichzeitig mit den hoffnungsvollen Vermutungen in betreff der Töchter des Grafen K***. Aber davon wird noch später die Rede sein. Selbstverständlich begann man in der Gesellschaft sich gegen Warwara Petrowna wieder mit außerordentlicher Zuvorkommenheit und Hochachtung zu benehmen; aber sie nutzte das nur wenig aus und machte nur sehr selten Besuche.
Indessen stattete sie der Frau Gouverneur eine feierliche Visite ab. Natürlich konnte niemand von den oben angeführten bedeutsamen Worten, welche Julija Michailowna auf der Abendgesellschaft bei der Frau Adelsmarschall gesprochen hatte, in höherem Grade entzückt und bezaubert sein als sie: diese Worte hatten ihr viel Kummer aus der Seele genommen und mit einem Male vieles beseitigt, was sie seit jenem unglücklichen Sonntage so gequält hatte. »Ich habe diese Frau nicht verstanden!« äußerte sie und sagte mit dem ihr eigenen Ungestüm zu Julija Michailowna geradezu, sie sei gekommen, um ihr zu danken. Julija Michailowna fühlte sich geschmeichelt, vermied es aber, familiär zu werden. Sie fing in jener Zeit bereits sehr an, sich ihres eigenen Wertes bewußt zu sein, vielleicht sogar etwas zu sehr. Sie äußerte zum Beispiel im Laufe des Gespräches, sie habe noch nie etwas von Stepan Trofimowitschs Tätigkeit und Gelehrsamkeit gehört.
»Ich empfange natürlich den jungen Werchowenski und bin freundlich gegen ihn. Er ist unbesonnen; aber er ist ja auch noch jung; übrigens besitzt er solide Kenntnisse. Aber jedenfalls ist er nicht so ein verabschiedeter ehemaliger Kritiker.«
Warwara Petrowna beeilte sich sogleich zu bemerken, daß Stepan Trofimowitsch überhaupt niemals Kritiker gewesen sei, sondern vielmehr sein ganzes Leben in ihrem Hause zugebracht habe. Berühmt sei er durch die »in der ganzen Welt bekannten« Umstände zu Beginn seiner Laufbahn und in der letzten Zeit durch seine Arbeiten auf dem Gebiete der spanischen Geschichte; auch wolle er über den jetzigen Zustand der deutschen Universitäten schreiben und, wie es scheine, auch etwas über die Dresdner Madonna. Kurz, Warwara Petrowna wollte im Gespräch mit Julija Michailowna auf Stepan Trofimowitsch nichts kommen lassen.
»Über die Dresdner Madonna? Sie meinen die Sixtinische? Chère Warwara Petrowna, ich habe zwei Stunden lang vor diesem Gemälde gesessen und bin enttäuscht weggegangen. Ich verstand seine Berühmtheit nicht und war höchst verwundert. Karmasinow sagt auch, es sei schwer zu begreifen. Jetzt finden alle nichts daran, sowohl die Russen als auch die Engländer. Diesen ganzen Ruhm haben dem Bilde nur die alten Leute durch ihr Geschrei verschafft.«
»Da ist also jetzt eine neue Mode aufgekommen?«
»Ich bin der Ansicht, daß man die jungen Leute der Jetztzeit nicht verachten darf. Da schreit man nun, sie seien Kommunisten; aber meiner Meinung nach muß man sie rücksichtsvoll behandeln und ihren Wert anerkennen. Ich lese jetzt alles: alle möglichen Zeitungen, Sozialistisches, Naturwissenschaftliches; ich verschaffe mir das alles; denn man muß doch schließlich wissen, wo man lebt, und mit wem man zu tun hat. Man kann doch nicht sein ganzes Leben auf den Berghöhen der Phantasie wohnen. Ich habe mir die Sache reiflich überlegt und es mir zum Grundsatz gemacht, gegen die jungen Leute freundlich zu sein und sie gerade dadurch am Rande des Abgrundes festzuhalten. Glauben Sie, Warwara Petrowna, daß nur wir, die Gesellschaft, durch unsern wohltätigen Einfluß und namentlich durch Freundlichkeit sie an dem Abgrunde festhalten können, in den sie die Unduldsamkeit all dieser alten Leute hineinstößt. Übrigens freue ich mich, von Ihnen etwas über Stepan Trofimowitsch gelernt zu haben. Da geben Sie mir einen Gedanken ein: er kann bei unserer literarischen Vorlesung nützlich sein. Wissen Sie, ich arrangiere ein Vergnügen, das einen ganzen Tag dauern soll, auf Subskription, zum Besten armer Gouvernanten aus unserem Gouvernement. Sie sind über ganz Rußland zerstreut; man zählt ihrer allein schon sechs aus unserem Kreise; dazu kommen noch zwei Telegraphistinnen; ferner studieren zwei junge Mädchen auf der Universität, und andere würden wünschen, es ebenfalls zu tun, haben aber nicht die Mittel dazu. Das Los der Frau in Rußland ist schrecklich, Warwara Petrowna! Diese Frage wird jetzt auf den Universitäten viel behandelt, und es hat sogar schon eine Sitzung des Reichsrates darüber stattgefunden. In unserem sonderbaren Rußland kann man alles tun, was einem beliebt. Und daher könnten wir, wieder nur durch Freundlichkeit und unmittelbare warme Teilnahme der ganzen Gesellschaft, diese große, gemeinsame Angelegenheit auf den richtigen Weg bringen. O Gott, haben wir denn etwa viele illustre Persönlichkeiten? Allerdings gibt es solche; aber sie sind zerstreut. Schließen wir uns zusammen, und wir werden stärker sein. Kurz, es wird bei mir zunächst eine literarische Matinee stattfinden, dann ein leichtes Frühstück, dann eine Pause, und an demselben Tage abends ein Ball. Wir wollten den Abend eigentlich mit lebenden Bildern beginnen; aber es scheint, daß das zuviel Ausgaben verursachen würde, und daher sollen für das Publikum nur eine oder zwei Quadrillen in Masken und Charakterkostümen getanzt werden; die Kostüme sollen bestimmte literarische Richtungen darstellen. Diese scherzhafte Idee hat Karmasinow in Vorschlag gebracht; er ist mir sehr behilflich. Wissen Sie, er wird bei uns sein letztes Werk vorlesen, das noch niemand kennt. Er legt die Feder nieder und wird nicht mehr schreiben; dieser letzte Artikel ist sein Abschied vom Publikum. Es ist ein reizendes Sächelchen mit dem Titel: ›Merci‹. Ein französischer Titel; aber er findet das scherzhafter und sogar feiner. Ich habe ihm ebenfalls dazu geraten. Ich denke, Stepan Trofimowitsch könnte auch etwas vorlesen, wenn es nur kurz ist und ... nicht allzu gelehrt. Peter Stepanowitsch und sonst noch jemand werden ebenfalls etwas vorlesen, wie es scheint. Peter Stepanowitsch wird zu Ihnen herankommen und Ihnen das Programm mitteilen; oder gestatten Sie mir lieber, daß ich es Ihnen selbst bringe!«
»Und Sie bitte ich um die Erlaubnis, mich auch in Ihre Liste eintragen zu dürfen. Ich werde es Stepan Trofimowitsch mitteilen und ihn selbst darum bitten.«
Warwara Petrowna kehrte ganz entzückt nach Hause zurück; sie war zu einer glühenden Verteidigerin Julija Michailownas geworden und war aus nicht recht klarem Grunde jetzt auf Stepan Trofimowitsch sehr aufgebracht; aber der arme Mensch saß ahnungslos zu Hause.
»Ich bin in sie verliebt; ich begreife nicht, wie ich mich in dieser Frau so habe irren können,« sagte sie zu Nikolai Wsewolodowitsch und zu Peter Stepanowitsch, der am Abend bei ihr vorsprach.
»Sie müssen sich doch mit meinem alten Herrn versöhnen,« meinte Peter Stepanowitsch; »er ist ganz verzweifelt. Sie haben ihn sozusagen wie ein Kind in die Küche verwiesen. Gestern begegnete er Ihrem Wagen und verbeugte sich; aber Sie wandten sich weg. Wissen Sie, wir wollen ihn herausholen und in Bewegung bringen; ich habe so meine Absichten mit ihm, und er kann noch nützlich sein.«
»Oh, er wird schon etwas vorlesen.«
»Ich meine nicht das allein. Ich wollte sowieso heute zu ihm herangehen. Soll ich ihm also davon Mitteilung machen?«
»Wenn Sie wollen. Übrigens weiß ich nicht, wie Sie das arrangieren können,« sagte sie unentschlossen. »Ich beabsichtigte, mich selbst mit ihm auszusprechen, und wollte ihm dazu einen Tag und einen Ort bestimmen.«
Sie machte ein sehr finsteres Gesicht.
»Nun, erst noch einen Tag zu bestimmen, das ist nicht nötig. Ich werde es ihm einfach bestellen.«
»Meinetwegen, bestellen Sie es ihm! Aber fügen Sie hinzu, daß ich ihm jedenfalls einen Tag zu einer Aussprache bestimmen werde! Fügen Sie das unter allen Umständen hinzu!«
Peter Stepanowitsch lief lächelnd davon. Überhaupt war er, soviel ich mich erinnere, in dieser Zeit ganz besonders boshaft und erlaubte sich sogar fast allen gegenüber unerträgliche Unarten. Merkwürdig, daß ihm das niemand übelnahm. Aber es hatte sich überhaupt über ihn die Meinung gebildet, daß man an ihn einen besonderen Maßstab anlegen müsse. Ich bemerke, daß er über Nikolai Wsewolodowitschs Duell sehr aufgebracht war. Die Nachricht davon war ihm ganz überraschend gekommen; er wurde ordentlich grün im Gesicht, als es ihm erzählt wurde. Möglicherweise fühlte er sich dabei in seiner Eitelkeit verletzt: er erfuhr es erst am andern Tage, als es bereits allen Leuten bekannt war.
»Aber Sie hatten doch kein Recht sich zu duellieren,« flüsterte er Stawrogin zu, als er mit diesem erst am fünften Tage zufällig im Klub zusammentraf.
Sonderbarerweise waren sie in diesen fünf Tagen einander nirgends begegnet, obwohl Peter Stepanowitsch bei Warwara Petrowna fast täglich vorsprach.
Nikolai Wsewolodowitsch sah ihn schweigend mit zerstreuter Miene an, wie wenn er gar nicht verstände, um was es sich handelte, und ging ohne stehen zu bleiben an ihm vorbei. Er durchschritt den großen Klubsaal und begab sich nach dem Büfett.
»Sie sind auch bei Schatow gewesen ... Sie wollen Ihre Ehe mit Marja Timofejewna bekanntgeben,« fuhr Peter Stepanowitsch fort, indem er hinter ihm herlief und ihn wie in der Zerstreuung an der Schulter faßte.
Nikolai Wsewolodowitsch schüttelte seine Hand von sich ab und drehte sich mit drohend gerunzelter Stirn zu ihm um. Dieser blickte ihn an und lächelte in einer sonderbaren, starren Weise. Das Ganze dauerte nur einen Augenblick. Nikolai Wsewolodowitsch ging weiter.