Eine Zeitlang hieß es von uns in der Stadt, unser Verein sei eine Pflanzstätte der Freigeisterei, der Liederlichkeit und der Gottlosigkeit, und dieses Gerücht verstärkte sich immer mehr. Und doch fand bei uns nur das harmloseste, netteste, echt russische, lustige liberale Geschwätz statt. »Der höchste Liberalismus« und »der höchste Liberale«, das heißt der Liberale ohne jedes Ziel, sind nur in Rußland möglich. Stepan Trofimowitsch brauchte, wie jeder geistreiche Mensch, notwendig einen Zuhörer, und außerdem mußte er notwendigerweise das Bewußtsein haben, daß er die höchste Pflicht, für die Idee Propaganda zu machen, erfülle. Und schließlich mußte er auch jemand haben, um mit ihm Champagner zu trinken und gewisse vergnügliche Gedanken über Rußland und den »russischen Geist«, über Gott im allgemeinen und den »russischen Geist« im besonderen auszutauschen und russische Skandalgeschichten, die ein jeder kannte und auswendig wußte, zum hundertsten Male zu wiederholen. Auch dem Stadtklatsch waren wir nicht abgeneigt und gelangten dabei manchmal zu strengen, hochmoralischen Urteilssprüchen. Auch allgemein menschliche Dinge zogen wir in den Kreis unserer Erörterungen; wir sprachen ernst über das zukünftige Schicksal Europas und der Menschheit, sagten im Professorentone voraus, daß Frankreich nach dem Cäsarismus mit einem Male auf die Stufe eines Staates zweiten Ranges herabsinken werde, und waren völlig davon überzeugt, daß dies sehr bald und sehr leicht geschehen könne. Dem Papste hatten wir schon längst vorausgesagt, daß er in dem geeinigten Italien die Rolle eines einfachen Metropoliten spielen werde, und zweifelten nicht im geringsten daran, daß die Lösung dieser ganzen ein Jahrtausend alten Frage in unserm Zeitalter der Humanität, der Industrie und der Eisenbahnen eine Bagatelle sei. Aber anders stellt sich ja »der höchste russische Liberalismus« zu den Dingen überhaupt nicht. Stepan Trofimowitsch sprach auch manchmal über die Kunst und immer gut, nur etwas zu abstrakt. Auch gedachte er mitunter seiner Jugendfreunde, lauter in der Geschichte unserer Gesamtentwickelung hervorragender Persönlichkeiten; er gedachte ihrer mit Rührung und Verehrung, aber, wie es schien, zugleich mit etwas Neid. Wenn es einmal gar zu langweilig wurde, so setzte der Jude Ljamschin, ein niederer Postbeamter und vorzüglicher Klavierspieler, sich an das Instrument, und zwischen den einzelnen Stücken, die er spielte, imitierte er allerlei Töne: ein Schwein, ein Gewitter, eine Entbindung mit dem ersten Schrei des Kindes usw. usw.; nur deswegen wurde er auch eingeladen. Hatten wir sehr stark getrunken (und das kam vor, wiewohl nicht oft), so gerieten wir in Begeisterung und sangen sogar einmal im Chor mit Ljamschins Klavierbegleitung die Marseillaise; aber ob es gerade sehr gut klang, weiß ich nicht. Den großen Tag des 19. Februar1 begrüßten wir enthusiastisch und leerten in den folgenden Jahren noch lange ihm zu Ehren unter Trinksprüchen unsere Gläser. Das liegt schon weit, weit zurück, damals gehörten Schatow und Wirginski unserem Vereine noch nicht an, und Stepan Trofimowitsch wohnte noch mit Warwara Petrowna in demselben Hause. Einige Zeit vor dem großen Tage hatte Stepan Trofimowitsch es sich angewöhnt, ein paar Verse vor sich hinzumurmeln, die allerdings ziemlich sinnlos waren und wohl von einem früheren liberalen Gutsbesitzer herrührten:
»Mit Beilen sieht man Bauern gehn;
Gewiß wird Schreckliches geschehn.«
So ungefähr war es; auf den Wortlaut kann ich mich nicht besinnen. Warwara Petrowna hörte das einmal zufällig mit an, rief ihm zu: »Unsinn, Unsinn!« und wurde sehr zornig. Liputin aber, der gerade zugegen war, bemerkte, zu Stepan Trofimowitsch gewendet, boshaft:
»Es würde doch zu bedauern sein, wenn den Herren Gutsbesitzern ihre früheren Leibeigenen wirklich in der Freude ihres Herzens eine Unannehmlichkeit bereiten sollten!«
Dabei fuhr er sich mit dem Zeigefinger um den Hals.
»Cher ami,« erwiderte ihm Stepan Trofimowitsch gutmütig, »Sie können glauben, daß dies« (er wiederholte die Fingerbewegung um den Hals) »weder den Gutsbesitzern noch uns allen insgemein irgendwelchen Nutzen bringen würde. Auch ohne Köpfe würden wir nicht verstehen, eine brauchbare Einrichtung zu treffen, obwohl gerade unsere Köpfe es sind, die uns am meisten daran hindern, etwas zu verstehen.«
Ich bemerke, daß viele bei uns glaubten, am Tage des Manifestes werde etwas Ungewöhnliches geschehen, etwas von der Art, wie es Liputin und alle sogenannten Kenner des Volkes und des Staates vorhersagten. Es scheint, daß auch Stepan Trofimowitsch dieser Ansicht war und sogar in solchem Grade, daß er kurz vor dem großen Tage auf einmal Warwara Petrowna um die Erlaubnis bat, ins Ausland reisen zu dürfen; kurz, er befand sich in großer Unruhe. Aber als der große Tag und dann noch eine gewisse Zeit vergangen war, da zeigte sich wieder auf Stepan Trofimowitschs Lippen das frühere hochmütige Lächeln. Er sprach vor uns als Zuhörern einige bemerkenswerte Gedanken über den Charakter des Russen im allgemeinen und des russischen Bauern im besonderen aus.
»Hastig, wie wir nun einmal sind,« schloß er die Reihe seiner interessanten Gedanken, »haben wir uns mit unsern Bauern übereilt. Wir haben sie in Mode gebracht, und ein ganzer Zweig unserer Literatur hat sich mehrere Jahre hintereinander mit ihnen wie mit einem neuentdeckten Kleinode beschäftigt. Wir haben Lorbeerkränze auf verlauste Köpfe gesetzt. Das russische Dorf hat im Laufe eines ganzen Jahrtausends uns weiter nichts gegeben als den Kamarinski.2 Ein bedeutender russischer Dichter, dem es nicht an klugem Verstande mangelt, rief, als er zum erstenmal die große Rachel auf der Bühne sah, entzückt aus: ›Ich gebe die Rachel nicht für einen Bauer hin!‹ Ich möchte noch weiter gehen und sagen: ich gebe alle russischen Bauern für die eine Rachel hin. Es ist Zeit, daß wir die Sache etwas nüchterner betrachten und nicht unsern heimischen derben Teer mit bouquet de l'impératrice vermischen.«
Liputin stimmte ihm sogleich bei, bemerkte aber, daß es damals doch für die liberale Richtung unumgänglich notwendig gewesen sei, auch gegen die eigene Überzeugung die Bauern zu loben; hätten doch selbst Damen der höchsten Gesellschaftskreise bei der Lektüre von ›Anton, der Unglücksmensch‹3 Tränen vergossen, und manche von ihnen hätten sogar aus Paris an ihre Verwalter geschrieben, sie sollten von nun an die Bauern möglichst human behandeln.
Es begab sich, und zufällig gerade nach jenen Gerüchten, daß auch in unserm Gouvernement, nur fünfzehn Werst von Skworeschniki entfernt, Mißhelligkeiten vorkamen, so daß man in der ersten Hitze ein Militärkommando hinschickte. Bei diesem Anlaß regte sich Stepan Trofimowitsch dermaßen auf, daß auch wir darüber einen Schreck bekamen. Er rief im Klub, es sei mehr Militär nötig; man solle aus einem andern Kreise telegraphisch welches herbeirufen. Er lief zum Gouverneur und versicherte ihm, daß er bei der Sache ganz unbeteiligt sei; er bat, man möchte ihn nicht etwa auf Grund alter Erinnerungen in diese Affäre hineinmengen, und ersuchte den Gouverneur, über diese seine Erklärung unverzüglich nach Petersburg an die zuständige Stelle zu berichten. Ein Glück, daß dies alles schnell vorüberging und sich in nichts auflöste; aber ich habe mich damals über Stepan Trofimowitsch höchlichst gewundert.
Drei Jahre darauf fing man bekanntlich an von Nationalität zu sprechen, und es entstand die »öffentliche Meinung«. Stepan Trofimowitsch lachte darüber herzlich.
»Meine Freunde,« sagte er in lehrhaftem Tone, »unsere Nationalität, wenn sie wirklich ›geboren ist‹, wie die Leute jetzt in den Zeitungen behaupten, sitzt noch in der Schule, in einer deutschen Kinderschule, bei einem deutschen Buche, und lernt ihre ewige deutsche Aufgabe, und der deutsche Lehrer läßt sie nötigenfalls zur Strafe niederknien. Wegen des deutschen Lehrers lobe ich sie; aber das wahrscheinlichste ist, daß überhaupt nichts geschehen und nichts Derartiges geboren ist, sondern alles so weitergeht, wie es bisher gegangen ist, das heißt unter Gottes Schutze! Meiner Ansicht nach genügt das auch für Rußland, pour notre sainte Russie. Zudem sind dieses ganze Allslawentum und diese ganze Nationalität viel zu alt, um neu zu sein. Die Nationalität, kann man wohl sagen, ist bei uns noch nie etwas anderes gewesen als ein phantastischer, aus vornehmen, noch dazu Moskauer, Klubs herstammender Einfall. Ich rede natürlich nicht von der Zeit Igors.4 Und schließlich rührt das alles vom Müßiggange her. Daher rührt bei uns alles, auch das Gute und Schöne. Alles rührt von unserm herrschaftlichen, lieben, gebildeten, launischen Müßiggange her! Das werde ich nie müde werden zu wiederholen. Wir verstehen es nicht, von unserer Arbeit zu leben. Und was machen sie jetzt für ein Gerede von einer angeblich bei uns entstandenen öffentlichen Meinung? Ist die so plötzlich ohne weiteres vom Himmel gefallen? Verstehen diese Menschen denn nicht, daß, um in den Besitz einer eigenen Meinung zu gelangen, vor allen Dingen Arbeit nötig ist, eigene Arbeit, eigene Initiative, eigene Praxis? Ohne Müh und Arbeit wird nie etwas erreicht. Wenn wir arbeiten werden, werden wir auch eine eigene Meinung haben. Aber da wir nie arbeiten werden, so werden an unserer Statt auch immer diejenigen eine Meinung haben, die statt unser bisher gearbeitet haben, das heißt Westeuropa, die Deutschen, die seit zwei Jahrhunderten unsere Lehrer sind. Überdies ist Rußland ein zu großes Rätsel, als daß wir allein, ohne die Deutschen und ohne Arbeit, es lösen könnten. Schon seit zwanzig Jahren läute ich Sturm und rufe zur Arbeit auf! Ich habe mein Leben diesem Aufrufe geweiht, und ich Tor habe an einen Erfolg geglaubt! Jetzt glaube ich daran nicht mehr; aber ich läute und werde läuten bis zu meinem Ende, bis zum Grabe; ich werde den Glockenstrick ziehen, bis man zu meiner Seelenmesse läutet!«
Leider stimmten wir ihm lediglich bei. Wir klatschten unserm Lehrer Beifall, und mit welchem Eifer! Aber, meine Herren, hört man nicht auch jetzt noch auf Schritt und Tritt solchen »hübschen«, »verständigen«, »liberalen«, altrussischen Unsinn?
An Gott glaubte unser Lehrer. »Ich begreife nicht, warum mich hier alle als Gottesleugner hinstellen?« sagte er manchmal. »Ich glaube an Gott; mais distinguons: ich glaube an ihn wie an ein Wesen, das sich seiner nur in mir bewußt wird. Ich kann eben nicht in der Weise an ihn glauben wie meine Nastasja« (das Dienstmädchen), »oder wie ein Hausherr, der ›unter allen Umständen‹ glaubt, oder wie unser lieber Schatow, – übrigens nein, Schatow scheidet hier aus. Schatow glaubt zwangsweise, als Moskauer Slawophile. Was aber das Christentum anlangt, so bin ich bei all meiner aufrichtigen Hochachtung gegen dasselbe doch kein Christ. Eher bin ich ein antiker Heide wie der große Goethe oder wie die alten Griechen. Man nehme schon allein den Umstand, daß das Christentum kein Verständnis für das Weib gehabt hat, wie das George Sand in einem ihrer genialsten Romane so prächtig dargelegt hat. Was Verbeugungen, Fasten und all dergleichen anlangt, so sehe ich nicht ab, wen meine Ansicht darüber etwas angeht. Mögen auch unsere hiesigen Denunzianten eine noch so rege Tätigkeit entwickeln, so will ich doch kein Jesuit sein. Im Jahre 1847 schickte Bjelinski, der damals im Auslande war, seinen bekannten Brief an Gogol und machte diesem darin heftige Vorwürfe darüber, daß er ›an irgendwelchen Gott‹ glaube. Entre nous soit dit, ich kann mir nichts Komischeres vorstellen als den Augenblick, wo Gogol (der damalige Gogol!) diesen Ausdruck und den ganzen Brief las! Aber ich lasse die Lächerlichkeit beiseite, und da ich in allem Wesentlichen einverstanden bin, so sage ich und spreche es aus: das waren Männer! Sie verstanden es, ihr Volk zu lieben; sie verstanden es, für dasselbe zu leiden; sie verstanden es, für dasselbe alles zu opfern, und sie verstanden es gleichzeitig, wo das nötig war, auf ein Zusammengehen mit ihm zu verzichten und ihm in gewissen Anschauungen nicht nach dem Munde zu reden. Es war doch auch wirklich unmöglich, daß ein Bjelinski die Erlösung in Fastenöl oder in Rettich mit Erbsen suchte! ...«
Aber hier erhob Schatow Einspruch.
»Niemals haben diese Ihre Männer das Volk geliebt, für dasselbe gelitten und ein Opfer gebracht, wenn sie sich das auch selbst zu ihrem Troste eingebildet haben mögen!« brummte er grimmig, indem er die Augen auf den Boden richtete und sich ungeduldig auf seinem Stuhle hin und her drehte.
»Diese Männer, die sollten das Volk nicht geliebt haben!« rief Stepan Trofimowitsch klagend. »O, wie haben sie Rußland geliebt!«
»Weder Rußland noch das Volk!« rief nun Schatow ebenfalls erregt; seine Augen funkelten. »Man kann nicht lieben, was man nicht kennt, und sie haben keinen Begriff vom russischen Volke gehabt! Alle diese Männer und Sie mit ihnen haben das russische Volk durch eine Brille betrachtet, und Bjelinski ganz besonders; das geht schon aus ebendiesem seinem Briefe an Gogel hervor. Bjelinski hat, genau so wie der Wißbegierige in der Krylowschen Fabel, den Elefanten im zoologischen Museum nicht bemerkt5 und seine ganze Aufmerksamkeit auf die französischen sozialistischen Käferchen gerichtet; dabei ist er bis zu seinem Lebensende verblieben. Und der war doch noch verständiger als Sie alle! Und nicht genug damit, daß Sie das Volk verkennen, empfinden Sie gegen dasselbe auch Ekel und Geringschätzung, schon allein deswegen, weil Sie sich unter einem Volke nur das französische Volk vorstellen, und auch von dem nur die Pariser, und sich schämen, daß das russische Volk nicht von derselben Art ist. Das ist die nackte Wahrheit! Wer aber kein Volk hat, der hat auch keinen Gott! Glauben Sie sicher: jeder, der sein Volk zu verstehen aufhört und die Verbindung mit ihm verliert, verliert auch im selben Augenblick und im selben Maße den väterlichen Glauben und wird entweder ein Atheist oder gleichgültig. Ich spreche die Wahrheit! Das ist eine Tatsache, die sich belegen läßt. Das ist der Grund, weshalb Sie alle und wir alle jetzt entweder schändliche Atheisten oder indifferentes, liederliches Gesindel sind und weiter nichts! Und ich schließe auch Sie, Stepan Trofimowitsch, ganz und gar nicht aus; was ich gesagt habe, war sogar ausdrücklich auf Sie gemünzt. Das mögen Sie wissen!«
Gewöhnlich ergriff Schatow nach einem solchen längeren Erguß (wie er bei ihm oft vorkam) seine Mütze und stürzte zur Tür, fest überzeugt, daß nun alles zu Ende sei, und daß er seine freundschaftlichen Beziehungen zu Stepan Trofimowitsch vollständig und für alle Zeit zerstört habe. Aber der hielt ihn immer noch rechtzeitig zurück.
»Wollen wir uns nun nicht nach all diesen freundlichen Worten versöhnen, Schatow?« pflegte er zu sagen und ihm von seinem Lehnstuhl aus gutmütig die Hand hinzustrecken.
Der plumpe, aber sich leicht schämende Schatow mochte Zärtlichkeiten nicht leiden. Seinem äußeren Wesen nach grob und derb, besaß er doch, wie ich glaube, im stillen ein großes Zartgefühl. Er überschritt zwar oft das rechte Maß, war aber selbst der erste, der darunter litt. Nachdem er auf Stepan Trofimowitschs einladende Worte etwas vor sich hingebrummt und wie ein Bär auf demselben Flecke herumgetreten hatte, lächelte er auf einmal unerwartet, legte seine Mütze wieder hin und setzte sich auf seinen früheren Platz, wobei er hartnäckig auf den Boden blickte. Natürlich wurde Wein gebracht, und Stepan Trofimowitsch brachte einen passenden Toast aus, zum Beispiel auf das Andenken einer der früheren Größen der Politik und Literatur.
Fußnoten
1 Am 19. Februar 1861 wurde die Leibeigenschaft aufgehoben.
Anmerkung des Übersetzers.
2 Ein Bauerntanz.
Anmerkung des Übersetzers.
3 Eine im Jahre 1847 erschienene Erzählung von Grigorowitsch.
Anmerkung des Übersetzers.
4 Fürst von Nowgorod, 1151-1202.
Anmerk. des Übersetzers.
5 Dieser hat Kleingetier, wie Käfer u. dgl., betrachtet und darüber den Elefanten nicht gesehen.
Anmerkung des Übersetzers.