»Wissen Sie wohl,« begann er fast drohend mit funkelnden Augen, indem er sich auf seinem Stuhle nach vorn beugte und den Zeigefinger der rechten Hand vor sich in die Höhe hob (offenbar, ohne es selbst zu bemerken), »wissen Sie wohl, welches Volk jetzt auf der ganzen Welt der einzige ›Träger des wahren Gottesglaubens‹ ist, welches Volk dasjenige ist, das im Namen des neuen Gottes die Welt erneuern und erlösen wird, und dem allein die Quellen des Lebens und des neuen Wortes gegeben sind? ... Wissen Sie wohl, welches Volk das ist, und wie sein Name lautet?«
»Aus Ihrem Gebaren muß ich wohl mit Notwendigkeit und aufs schnellste schließen, das dies das russische Volk ist ...«
»Und Sie lachen schon! O diese Menschensorte!« fuhr Schatow auf ihn los.
»Beruhigen Sie sich, ich bitte Sie; ich habe im Gegenteil gerade etwas Derartiges erwartet.«
»Sie haben Derartiges erwartet? Und Ihnen selbst ist dieser Satz nicht bekannt?«
»Er ist mir sehr wohl bekannt; ich sehe ganz genau voraus, worauf Sie hinauswollen. Der ganze Gedanke, den Sie da aussprechen, und sogar der Ausdruck ›Träger des wahren Gottesglaubens‹ ist nur der Schluß eines Gespräches, das wir beide vor mehr als zwei Jahren im Auslande führten, nicht lange vor Ihrer Abreise nach Amerika ... Wenigstens soweit ich mich jetzt erinnern kann.«
»Das ist ganz und gar Ihr Gedanke und nicht der meinige. Ihr eigener Gedanke, und nicht etwa nur der Schluß unseres Gespräches. Ein ›von uns beiden geführtes‹ Gespräch hat überhaupt nicht stattgefunden: es war ein Lehrer da, der gewaltige Worte verkündete, und es war ein Schüler da, der in geistigem Sinne von den Toten auferstand. Ich war jener Schüler und Sie der Lehrer.«
»Aber wenn ich mich recht erinnere, so traten Sie gerade nach meinen Worten in jenen Bund ein und fuhren erst dann nach Amerika.«
»Ja, und ich habe Ihnen darüber aus Amerika geschrieben; ich habe Ihnen über all das geschrieben. Ja, ich konnte mich nicht blutend von allem losreißen, womit ich seit meiner Kindheit verwachsen war, von allem, worauf ich voll Entzücken gehofft und worüber ich voll Haß geweint hatte. Es fällt dem Menschen schwer, seine Götter zu wechseln. Ich glaubte Ihnen damals nicht, weil ich Ihnen nicht glauben wollte, und klammerte mich zum letztenmal an diese Mistgrube ... Aber der Same blieb und wuchs. Im Ernst, sagen Sie im Ernst, haben Sie meinen Brief aus Amerika nicht durchgelesen? Vielleicht haben Sie ihn überhaupt nicht gelesen?«
»Ich habe davon drei Seiten gelesen, die beiden ersten und die letzte, und habe außerdem die Mitte flüchtig überblickt. Übrigens hatte ich immer vor ...«
»Ach, es ist ja ganz gleichgültig; weg damit; zum Teufel!« wehrte Schatow ab. »Wenn Sie jetzt von Ihren damaligen Ansichten über dieses Volk zurückgetreten sind, wie konnten Sie sie dann damals so energisch aussprechen? Das ist es, was mich jetzt niederdrückt.«
»Ich habe auch damals nicht mit Ihnen gescherzt; wenn ich Sie zu überzeugen suchte, so mühte ich mich dabei mit mir selbst vielleicht noch mehr ab als mit Ihnen,« antwortete Stawrogin rätselhaft.
»Sie haben nicht gescherzt! In Amerika habe ich drei Monate neben einem Unglücklichen auf Stroh gelegen und von ihm erfahren, daß Sie zu derselben Zeit, wo Sie mir Gott und das Vaterland ins Herz pflanzten, daß Sie zu derselben Zeit, ja vielleicht in denselben Tagen das Herz dieses Unglücklichen, dieser Drahtpuppe, dieses Kirillow vergiftet haben. Sie haben ihn in der Unwahrheit und Lüge bestärkt und seinen Verstand zur Raserei gebracht ... Gehen Sie hin, und sehen Sie ihn sich jetzt an; er ist Ihr Werk ... Übrigens haben Sie ihn ja gesehen.«
»Erstens muß ich Ihnen bemerken, daß Kirillow mir soeben selbst gesagt hat, er sei glücklich und gut. Ihre Annahme, daß dies alles zu derselben Zeit vorgegangen sei, ist ziemlich richtig; aber was folgt daraus? Ich wiederhole: ich habe weder Sie noch ihn getäuscht.«
»Sind Sie Atheist? Sind Sie jetzt Atheist?«
»Ja.«
»Waren Sie es auch damals?«
»Genau ebenso wie jetzt.«
»Ich habe Sie bei Beginn unseres Gespräches nicht um Achtung vor meiner Person gebeten; bei Ihrem Verstande könnten Sie das begreifen,« murmelte Schatow unwillig.
»Ich bin nicht bei Ihren ersten Worten aufgestanden; ich habe das Gespräch nicht abgebrochen; ich bin nicht von Ihnen weggegangen; ich sitze bis jetzt hier und antworte friedlich auf Ihre Fragen und auf Ihr ... Anschreien; also habe ich es Ihnen gegenüber nicht an Achtung fehlen lassen.«
Schatow unterbrach ihn mit einer abwehrenden Handbewegung:
»Erinnern Sie sich an Ihren Ausdruck: ›Ein Atheist kann nicht Russe sein‹, ›Ein Atheist hört sofort auf, Russe zu sein‹? Erinnern Sie sich daran?«
»Ja?« erwiderte Nikolai Wsewolodowitsch in fragendem Tone.
»Sie fragen? Sie haben es vergessen? Und doch war das einer der feinsten Hinweise auf eine der wichtigsten Eigenheiten des russischen Geistes, die Sie richtig erkannt hatten. Das haben Sie nicht vergessen können! Ich will Sie an noch mehr erinnern: Sie sagten damals: ›Wer nicht zur rechtgläubigen Kirche gehört, kann nicht Russe sein‹.«
»Ich meine, das ist ein Gedanke der Slawophilen.«
»Nein, die heutigen Slawophilen lehnen ihn ab. Heute ist das Volk klüger geworden. Aber Sie gingen noch weiter: Sie glaubten, daß der römische Katholizismus kein Christentum mehr sei; Sie behaupteten, Rom habe einen Christus verkündet, der der dritten Versuchung des Teufels erlegen sei, und wenn der Katholizismus der ganzen Welt gepredigt habe, daß Christus ohne ein weltliches Reich auf Erden nicht bestehen könne, so habe er eben damit den Antichrist gepredigt und dadurch die ganze westliche Welt verdorben. Sie wiesen speziell darauf hin, wenn Frankreich unglücklich sei, so sei einzig und allein der Katholizismus daran schuld; denn dieses Land habe den stinkenden römischen Gott verworfen, einen neuen aber nicht gefunden. So haben Sie damals reden können! Ich erinnere mich an alles, was Sie sagten.«
»Wenn ich gläubig wäre, so würde ich dies ohne Zweifel auch jetzt wiederholen; ich habe nicht gelogen, als ich wie ein Gläubiger sprach,« erwiderte Nikolai Wsewolodowitsch sehr ernst. »Aber ich versichere Ihnen, daß diese Reproduktion meiner früheren Gedanken bei mir eine sehr unangenehme Empfindung hervorruft. Können Sie nicht damit aufhören?«
»Wenn Sie gläubig wären?!« schrie Schatow, ohne auf die Bitte seines Gastes die geringste Rücksicht zu nehmen. »Aber haben Sie nicht zu mir gesagt, wenn man Ihnen mathematisch bewiese, daß die Wahrheit außerhalb Christi liege, so würden Sie doch lieber bei Christus bleiben wollen als bei der Wahrheit? Haben Sie das gesagt? Haben Sie es gesagt?«
»Aber gestatten Sie auch mir endlich die Frage,« versetzte Stawrogin mit erhobener Stimme: »wozu soll dieses ganze intolerante, boshafte Examen führen?«
»Dieses Examen wird für alle Zeit ein Ende haben, und Sie werden nie wieder daran erinnert werden.«
»Sie bleiben hartnäckig bei Ihrer Meinung, daß wir uns außerhalb von Raum und Zeit befinden.«
»Schweigen Sie!« schrie Schatow. »Ich bin dumm und ungeschickt; aber mag mein Name im Fluche der Lächerlichkeit untergehen! Erlauben Sie mir, vor Ihren Ohren Ihre damalige Anschauung in den Hauptzügen zu wiederholen ... Oh, nur zehn Zeilen, nur den zusammenfassenden Schluß.«
»Tun Sie es, vorausgesetzt, daß das dann wirklich der Schluß ist ...«
Stawrogin machte eine Bewegung, als wollte er nach der Uhr sehen; aber er beherrschte sich und unterließ es.
Schatow bog sich wieder auf dem Stuhle nach vorn und wollte einen Augenblick lang sogar schon wieder den Finger aufheben.
»Kein einziges Volk,« begann er, als läse er Zeile für Zeile aus einem Manuskripte ab, und fuhr gleichzeitig fort, Stawrogin drohend anzublicken, »kein einziges Volk hat sich jemals nach den Prinzipien der Wissenschaft und der Vernunft organisiert; dafür hat es niemals ein Beispiel gegeben, außer auf ganz kurze Zeit, aus Dummheit. Der Sozialismus muß schon seinem Wesen nach Atheismus sein; denn er hat das gleich von vornherein ausdrücklich ausgesprochen, daß er eine atheistische Institution ist und sich ausschließlich nach den Prinzipien der Wissenschaft und der Vernunft organisieren will. Vernunft und Wissenschaft haben im Leben der Völker immer, jetzt und vom Anfang aller Dinge an, nur eine Stellung zweiten Ranges, eine dienende Stellung eingenommen, und so wird es auch bis zum Ende aller Dinge bleiben. Es ist eine andere Kraft, durch die sich die Völker bilden und bewegen, eine befehlende und herrschende Kraft, deren Ursprung aber unbekannt und unerklärlich ist. Das ist die Kraft des unstillbaren Verlangens, das bis ans Ende gehen möchte und doch zugleich das Ende verneint. Das ist die Kraft der ununterbrochenen, unermüdlichen Bejahung der eigenen Existenz und der Verneinung des Todes; es ist der Geist des Lebens, wie die Schrift sagt, die ›Ströme lebendigen Wassers‹, mit deren Versiegen die Offenbarung St. Johannis so droht. Es ist ein ästhetisches Prinzip, wie die Philosophen sagen, oder, was damit identisch ist, ein ethisches Prinzip. Ich nenne es ganz einfach ›das Suchen nach Gott‹. Das Ziel einer jeden Volksbewegung, bei jedem Volke und in jeder Periode seines Daseins, ist einzig und allein das Suchen nach Gott, nach seinem Gott, unbedingt nach seinem eigenen Gott, und der Glaube an ihn als an den einzig wahren. Gott ist die synthetische Persönlichkeit des ganzen Volkes, von seinem Beginn bis zu seinem Ende. Noch nie ist es vorgekommen, daß alle oder viele Völker einen gemeinsamen Gott gehabt hätten; sondern ein jedes hat immer seinen besonderen gehabt. Es ist ein Symptom des Schwindens der Nationalität, wenn die Götter anfangen gemeinsam zu werden. Wenn die Götter gemeinsam werden, so sterben die Götter und der Glaube an sie mitsamt den Völkern selbst ab. Je stärker ein Volk ist, um so ausschließlicher gehört ihm sein Gott. Noch niemals hat es ein Volk ohne Religion gegeben, das heißt ohne den Begriff des Guten und des Bösen. Jedes Volk hat seine besonderen Begriffe von Gut und Böse und sein besonderes Gutes und Böses. Wenn die Begriffe des Guten und des Bösen bei vielen Völkern gemeinsam zu werden anfangen, dann sterben die Völker ab, und der Unterschied zwischen Gut und Böse fängt selbst an, sich zu verwischen und zu verschwinden. Niemals ist die Vernunft imstande gewesen, das Böse und das Gute zu definieren oder auch nur das Gute vom Bösen zu scheiden, nicht einmal annähernd; vielmehr hat sie beides immer in schmachvoller, kläglicher Weise miteinander vermischt; und die Wissenschaft hat ganz plumpe Antworten auf diese Frage gegeben. Besonders hat sich dadurch die Halbwissenschaft ausgezeichnet, die furchtbarste Geißel der Menschheit, schlimmer als Pest, Hunger und Krieg, die vor unserem jetzigen Jahrhundert unbekannt war. Die Halbwissenschaft ist ein Despot, wie es bisher noch nie einen ärgeren gegeben hat, ein Despot, der seine Priester und Sklaven hat, ein Despot, vor dem alle sich in Liebe und mit einem früher undenkbaren Aberglauben beugen; ja selbst die Wissenschaft zittert vor ihm und zeigt ihm gegenüber eine schmähliche Nachgiebigkeit. All das sind Ihre eigenen Worte, Stawrogin, mit Ausnahme dessen, was ich über die Halbwissenschaft gesagt habe; das sind meine Worte, weil ich selbst nur ein Halbgebildeter bin und sie darum ganz besonders hasse. An Ihren eigenen Gedanken aber und sogar an Ihren Worten habe ich nichts geändert, kein einziges Wort.«
»Ich glaube nicht, daß es ohne Veränderungen abgegangen ist,« bemerkte Stawrogin vorsichtig. »Sie haben das, was ich seinerzeit sagte, mit feurigem Interesse aufgenommen und, ohne es zu merken, es mit feurigem Interesse umgeändert. Schon allein, daß Sie Gott zu einem bloßen Attribut der Nationalität erniedrigt haben ...«
Er hatte auf einmal angefangen, Schatow eine besondere, gesteigerte Aufmerksamkeit zuzuwenden, und zwar nicht sowohl seinen Worten als seiner Person.
»Ich erniedrige Gott zu einem Attribut der Nationalität!« rief Schatow. »Vielmehr hebe ich das Volk zu Gott hinauf. Und ist es denn auch jemals anders gewesen? Das Volk ist der Körper Gottes. Jedes Volk ist nur so lange ein Volk, als es seinen besonderen Gott hat und alle übrigen Götter auf der Welt unversöhnlich ausschließt, nur solange es daran glaubt, daß es durch seinen Gott alle übrigen Götter besiegen und aus der Welt vertreiben wird. So haben alle gedacht, solange die Welt steht, wenigstens alle großen Völker, alle, die einige Bedeutung hatten, alle, die an der Spitze der Menschheit standen. Gegen die Tatsachen läßt sich nicht ankämpfen. Die Hebräer haben nur dazu gelebt, um den wahren Gott zu erwarten, und haben der Welt den wahren Gott hinterlassen. Die Griechen vergötterten die Natur und vermachten der Welt ihre Religion, das heißt die Philosophie und die Kunst. Rom vergötterte das Volk im Staate und vermachte den Völkern den Staat. Frankreich ist im Laufe seiner ganzen langen Geschichte lediglich eine Inkarnation und Entwicklung der Idee des römischen Gottes gewesen, und wenn es schließlich seinen römischen Gott in den Abgrund geworfen und sich dem Atheismus ergeben hat, der bei ihnen vorläufig Sozialismus heißt, so ist das einzig und allein deswegen geschehen, weil der Atheismus immerhin gesunder ist als der römische Katholizismus. Wenn ein großes Volk nicht glaubt, daß es im alleinigen und ausschließlichen Besitze der Wahrheit ist, wenn es nicht glaubt, daß es allein fähig und dazu berufen ist, durch seine Wahrheit alle andern von den Toten aufzuerwecken und zu retten, dann verwandelt es sich sogleich in ethnographisches Material und hört auf, ein großes Volk zu sein. Ein großes Volk kann sich niemals mit einer Rolle zweiten Ranges in der Menschheit begnügen, nicht einmal mit einer solchen ersten Ranges, sondern es verlangt unbedingt und ausschließlich den ersten Platz einzunehmen. Ein Volk, das diesen Glauben verliert, ist kein Volk mehr. Aber es gibt nur eine Wahrheit, und folglich kann nur ein einziges Volk den wahren Gott haben, wenn auch die übrigen Völker ihre eigenen, großen Götter haben mögen. Der einzige ›Träger des wahren Gottesglaubens‹ ist das russische Volk und ... und ... halten Sie mich denn wirklich für einen solchen Dummkopf, Stawrogin,« brüllte er plötzlich wütend, »daß ich nicht sollte beurteilen können, ob das, was ich in diesem Augenblicke sage, altes, wertloses Geschwätz ist, wie es auf allen Mühlen der Slawophilen in Moskau gemahlen wird, oder etwas vollkommen Neues, das letzte Wort, das einzige Wort der Erneuerung und Auferstehung, und ... und was schert mich jetzt in diesem Augenblicke Ihr Lachen! Was schert es mich, daß Sie mich gar nicht, gar nicht verstehen, auch nicht ein Wort, auch nicht einen Laut! ... Oh, wie verachte ich in diesem Augenblicke Ihr stolzes Lachen und Ihren stolzen Blick!«
Er sprang von seinem Platze auf; es war ihm sogar Schaum auf die Lippen getreten.
»Im Gegenteil, Schatow, im Gegenteil,« sagte Stawrogin sehr ernst und ruhig, ohne sich von seinem Platze zu erheben, »im Gegenteil, Sie haben durch Ihre flammenden Worte bei mir viele sehr starke Erinnerungen wachgerufen. In Ihren Worten erkenne ich meine eigene Gesinnung wieder, wie sie vor zwei Jahren war, und ich sage jetzt nicht mehr wie vorhin, daß Sie meine damaligen Gedanken übertreiben. Es scheint mir sogar, daß dieselben noch ablehnender, noch selbstbewußter waren, und ich versichere Ihnen zum drittenmal, daß ich gern alles, was Sie jetzt gesagt haben, bestätigen würde, sogar bis auf das letzte Wort, aber ...«
»Aber Sie brauchen einen Hasen?«
»Wa-as?«
»Das ist Ihr eigener unwürdiger Ausdruck,« erwiderte Schatow boshaft lachend und setzte sich wieder hin. »›Um ein Hasenragout zu machen, braucht man einen Hasen; um an Gott zu glauben, braucht man einen Gott‹; das sollen Sie wiederholentlich in Petersburg gesagt haben, à la Nosdrew1, der einen Hasen an den Hinterbeinen fangen wollte.«
»Nein, der rühmte sich sogar, schon einen gefangen zu haben. Apropos, erlauben Sie, daß ich nun auch Ihnen eine Frage vorlege, um so mehr, da ich, wie mir scheint, jetzt ein volles Recht dazu habe. Sagen Sie mir: ist Ihr Hase schon gefangen, oder läuft er noch?«
»Erdreisten Sie sich nicht, mich in dieser Form zu fragen! Fragen Sie in anderer Form, in anderer!« schrie Schatow, am ganzen Leibe zitternd.
»Wie Sie wünschen; also in anderer Form,« erwiderte Nikolai Wsewolodowitsch und betrachtete ihn mit hartem Blicke. »Ich wollte nur wissen: glauben Sie selbst an Gott oder nicht?«
»Ich glaube an Rußland; ich glaube an seine Rechtgläubigkeit ... Ich glaube an den Leib Christi ... Ich glaube, daß die neue Wiederkunft Christi in Rußland stattfinden wird ... Ich glaube ...« stammelte Schatow in Ekstase.
»Aber auch an Gott? An Gott?«
»Ich ... ich werde an Gott glauben.«
In Stawrogins Gesicht bewegte sich kein Muskel. Schatow sah ihn herausfordernd mit flammenden Blicken an, als ob er ihn damit verbrennen wollte.
»Ich habe Ihnen nicht gesagt, daß ich überhaupt nicht glaube!« schrie er endlich. »Ich bekenne nur, daß ich ein unglückliches, langweiliges Buch und vorläufig weiter nichts bin, vorläufig weiter nichts ... Aber mag mein Name untergehen! Von Ihnen hängt die Sache ab, nicht von mir ... Ich bin ein unbegabter Mensch und kann nur mein Blut hingeben, weiter nichts, wie jeder unbegabte Mensch. So mag denn mein Blut fließen! Von Ihnen rede ich; ich habe hier zwei Jahre lang auf Sie gewartet ... Ihretwegen tanze ich jetzt eine halbe Stunde lang nackt umher. Sie, Sie allein wären imstande, diese Fahne zu erheben! ...«
Er sprach nicht zu Ende; wie in Verzweiflung stemmte er die Ellbogen auf den Tisch und stützte den Kopf mit beiden Händen.
»Ich möchte anläßlich Ihres letzten Ausdrucks nur eines als Kuriosität bemerken,« unterbrach Stawrogin das Schweigen. »Warum wollen mir nur alle eine Fahne aufdrängen? Peter Werchowenski ist ebenfalls überzeugt, daß ich ›bei ihnen die Fahne erheben‹ könne, wenigstens hat man mir dies als einen von ihm getanen Ausspruch mitgeteilt. Er hat sich die Vorstellung zurechtgemacht, ich könne bei ihnen die Rolle eines Stenka Rasin2 spielen ›wegen ungewöhnlicher Befähigung zum Verbrechen‹; auch dies sind seine Worte.«
»Wie?« fragte Schatow. »Wegen ungewöhnlicher Befähigung zum Verbrechen?«
»Ganz richtig.«
»Hm! ... Ist denn das wahr,« fragte er mit boshaftem Lächeln, »ist denn das wahr, daß Sie in Petersburg einem viehischen, wollüstigen Geheimbunde angehört haben? Ist das wahr, daß Sie geäußert haben, der Marquis de Sade hätte von Ihnen noch viel lernen können? Ist das wahr, daß Sie Kinder an sich gelockt und mißbraucht haben? Reden Sie! Wagen Sie nicht zu lügen!« schrie er ganz außer sich. »Nikolai Stawrogin kann Schatow gegenüber, der ihn ins Gesicht geschlagen hat, nicht lügen! Sagen Sie alles, und wenn es wahr ist, werde ich Sie sofort totschlagen, augenblicklich, hier auf der Stelle!«
»Ich habe diese Worte gesagt; aber ich habe Kindern nichts Böses getan,« sagte Stawrogin, aber erst nach sehr langem Stillschweigen.
Er war blaß geworden, und seine Augen glühten.
»Aber Sie haben es gesagt!« fuhr Schatow herrisch fort, ohne seine funkelnden Augen von ihm abzuwenden. »Ist es wahr, daß Sie gesagt haben, Sie wüßten hinsichtlich der Schönheit keinen Unterschied zwischen einer wollüstigen, tierischen Handlung und irgendwelcher Großtat, selbst wenn sie in der Hingabe des Lebens für die Menschheit bestehe? Ist es wahr, daß Sie gefunden haben, an beiden Polen sei die Schönheit gleich groß und der Genuß identisch?«
»Auf eine solche Frage zu antworten ist mir nicht möglich ... ich will nicht darauf antworten,« murmelte Stawrogin, der sehr wohl hätte aufstehen und weggehen können, aber trotzdem nicht aufstand und nicht wegging.
»Ich weiß ebenfalls nicht, warum das Böse häßlich und das Gute schön ist; aber ich weiß, warum das Gefühl für diesen Unterschied sich bei Herren von Ihrer Art verwischt und verliert,« setzte ihm Schatow, der am ganzen Leibe zitterte, noch weiter hartnäckig zu. »Wissen Sie, warum Sie sich damals so schmählich und unwürdig verheiratet haben? Gerade deshalb, weil da die Schande und die Sinnlosigkeit bis zur Genialität gingen! Oh, Sie schlendern nicht vom Rande des Abgrundes hinweg, sondern stürzen sich kühn kopfüber hinab. Sie haben sich verheiratet aus Leidenschaft für die Selbstquälerei, aus Leidenschaft für Gewissensbisse, aus seelischer Wollust. Ihr Nervensystem war zerrüttet. Die gesunde Vernunft herauszufordern, das erschien Ihnen sehr reizvoll! Stawrogin und eine häßliche, lahme, schwachsinnige, bettelarme Frauensperson! Als Sie den Gouverneur ins Ohr bissen, haben Sie da ein Gefühl der Wollust gehabt? Ja? Sie müßig umherbummelndes Herrchen, haben Sie dabei ein solches Gefühl gehabt?«
»Sie sind ein Psychologe,« versetzte Stawrogin, der immer blasser geworden war, »wiewohl Sie sich über die Beweggründe zu meiner Ehe teilweise geirrt haben ... Wer könnte Ihnen übrigens all diese Nachrichten geliefert haben?« fügte er mit erzwungenem Lächeln hinzu. »Etwa Kirillow? Aber der war nicht beteiligt ...«
»Sie sind ja ganz blaß geworden?«
»Was wollen Sie denn aber eigentlich von mir?« fragte Nikolai Wsewolodowitsch, der jetzt endlich ebenfalls die Stimme erhob. »Ich habe nun eine halbe Stunde lang unter Ihren Peitschenhieben dagesessen, und Sie könnten mich wenigstens in höflicher Form entlassen ... wenn Sie wirklich keinen vernünftigen Zweck damit verfolgen, daß Sie so mit mir umgehen.«
»Einen vernünftigen Zweck?«
»Ohne Zweifel. Sie waren mindestens verpflichtet, mir endlich Ihren Zweck anzugeben. Ich habe immer darauf gewartet, daß Sie das tun würden, habe aber bei Ihnen nichts als wütende Bosheit gesehen. Ich bitte Sie nun, mir das Tor zu öffnen.«
Er stand vom Stuhle auf. Schatow eilte wie ein Rasender hinter ihm her.
»Küssen Sie die Erde, tränken Sie sie mit Tränen, bitten Sie um Verzeihung!« schrie er und packte ihn an der Schulter.
»Ich habe Sie aber doch an jenem Vormittage nicht totgeschlagen ... sondern ich habe beide Arme auf den Rücken genommen ...« sagte Stawrogin beinah schmerzlich mit niedergeschlagenen Augen.
»Sprechen Sie alles aus, sprechen Sie alles aus! Sie sind hergekommen, um mich vor einer Gefahr zu warnen; Sie haben mich reden lassen; Sie wollen morgen Ihre Ehe öffentlich bekannt geben! ... Ich sehe Ihnen ja am Gesichte an, daß ein schrecklicher neuer Gedanke Sie niederdrückt ... Stawrogin, warum bin ich dazu verurteilt, lebenslänglich an Sie zu glauben? Könnte ich etwa mit anderen so reden? Ich bin keusch, habe mich aber meiner Nacktheit nicht geschämt, weil ich mit Stawrogin sprach. Ich habe mich nicht gescheut, einen großen Gedanken durch meine Berührung zu karikieren, weil mein Zuhörer Stawrogin war ... Und wenn Sie werden fortgegangen sein, werde ich sicherlich Ihre Fußspuren küssen! Ich kann Sie mir nicht aus dem Herzen reißen, Nikolai Stawrogin!«
»Es tut mir leid, daß ich Sie nicht lieben kann, Schatow,« erwiderte Nikolai Wsewolodowitsch kalt.
»Ich weiß, daß Sie das nicht können, und ich weiß, daß Sie nicht lügen. Hören Sie, ich kann alles in Ordnung bringen: ich werde Ihnen einen Hasen verschaffen!«
Stawrogin schwieg.
»Sie sind ein Atheist, weil Sie ein Herrensohn sind, im höchsten Grade ein Herrensohn. Sie haben den Unterschied zwischen Gut und Böse verlernt, weil Sie aufgehört haben, Ihr Volk zu kennen ... Es wird eine neue Generation kommen, unmittelbar aus dem Herzen des Volkes, und wir alle werden sie nicht erkennen, weder Sie noch die Werchowenskis Vater und Sohn, noch auch ich, da ich ebenfalls ein Herrensohn bin, ich, der Sohn Ihres leibeigenen Lakaien Pawel ... Hören Sie, suchen Sie zu Gott durch Arbeit zu gelangen; darin liegt der Kern der Sache; oder Sie werden verschwinden wie gemeiner Schimmel; suchen Sie durch Arbeit zu ihm zu gelangen!«
»Durch Arbeit zu Gott? Durch was für Arbeit?«
»Durch Bauernarbeit. Wohlan, werfen Sie Ihren Reichtum von sich! ... Ah, Sie lachen; Sie meinen, es läuft auf einen Spaß hinaus?«
Aber Stawrogin lachte nicht.
»Sie glauben, daß man zu Gott durch Arbeit gelangen kann, und speziell durch Bauernarbeit?« fragte er nach einigem Nachdenken, wie wenn ihm da wirklich ein neuer, ernster Gedanke entgegengetreten wäre, welcher Erwägung verdiente. »Apropos,« fuhr er, plötzlich auf einen anderen Gegenstand übergehend, fort, »Sie haben mich soeben daran erinnert: wissen Sie auch wohl, daß ich keineswegs reich bin, so daß ich gar nichts von mir zu werfen brauche? Ich bin kaum imstande, Marja Timofejewnas Zukunft sicherzustellen ... Und nun noch eins: ich war hergekommen, um Sie zu bitten, daß Sie, wenn es Ihnen möglich wäre, auch in Zukunft Marja Timofejewna nicht verlassen möchten, da Sie der einzige sind, der einigen Einfluß auf ihren armen Geist haben kann. Ich sage das für alle Fälle.«
»Gut, gut, Sie sprechen von Marja Timofejewna,« erwiderte Schatow und machte nur mit der einen Hand eine abwehrende Bewegung, da er in der andern das Licht hielt. »Gut, das versteht sich dann von selbst ... Hören Sie, gehen Sie doch einmal zu Tichon!«
»Zu wem?«
»Zu Tichon. Tichon ist ein früherer Bischof; er lebt krankheitshalber im Ruhestande, hier in der Stadt, in unserem Jefimjewski-Bogorodski-Kloster.«
»Was soll ich da?«
»Nichts Besonderes. Es kommen viele Leute zu ihm, zu Fuß und zu Wagen. Gehen Sie doch auch hin; warum nicht? Was hindert Sie?«
»Ich höre das zum erstenmal, und ... ich bin mit solchen Menschen noch nie zusammengekommen. Ich danke Ihnen; ich werde hingehen.«
»Hierher!« Schatow leuchtete auf der Treppe. »So, nun gehen Sie!« Er öffnete das Pförtchen, das nach der Straße führte.
»Ich werde nicht wieder zu Ihnen kommen, Schatow,« sagte Stawrogin leise, als er durch das Pförtchen schritt.
Die Dunkelheit und der Regen waren unverändert geblieben.
Fußnoten
1 Siehe die Anmerkung auf S. 17.
2 Anführer rebellischer Kosaken, im Jahre 1671 hingerichtet.
Anmerkung des Übersetzers.