I.

Inzwischen trug sich bei uns ein Ereignis zu, das mich in Erstaunen versetzte und Stepan Trofimowitsch ernstlich erschütterte. Um acht Uhr morgens kam von ihm seine Nastasja zu mir gelaufen mit der Nachricht, der Herr sei »konfisziert«. Ich konnte zunächst nicht daraus klug werden; ich begriff nur, daß die »Konfiskation« durch Beamte erfolgt sei; diese waren gekommen und hatten Papiere weggenommen, und ein Soldat hatte sie in ein Bündel gebunden und »auf einer Schubkarre weggefahren«. Die Nachricht klang seltsam. Ich eilte sogleich zu Stepan Trofimowitsch hin.

Ich traf ihn in einem wunderlichen Zustande: er war verstört und in großer Erregung; aber doch hatte seine Miene gleichzeitig unzweifelhaft etwas Triumphierendes. Mitten im Zimmer siedete auf dem Tische ein Samowar, und daneben stand ein vollgegossenes, aber noch unberührtes, vergessenes Glas Tee. Stepan Trofimowitsch schlenderte um den Tisch herum und ging in alle Ecken des Zimmers, ohne sich von seinen Bewegungen Rechenschaft zu geben. Er trug seine gewöhnliche rote Jacke; aber als er mich erblickte, beeilte er sich, die Weste und den Rock anzuziehen, was er früher nie getan hatte, wenn einer der ihm näher Stehenden ihn in seiner Jacke getroffen hatte. Er griff sogleich in großer Aufregung nach meiner Hand.

»Enfin un ami!« (Er seufzte aus tiefster Brust.) »Cher, Sie sind der einzige, zu dem ich geschickt habe; sonst weiß niemand etwas davon. Ich muß Nastasja befehlen, die Tür zuzuschließen und niemanden hereinzulassen, natürlich mit Ausnahme jener Menschen... Vous comprenez?«

Er blickte mich unruhig an, wie wenn er eine Antwort erwartete. Selbstverständlich beeilte ich mich, ihn zu befragen, und erfuhr mit Not und Mühe aus seiner unzusammenhängenden, an Unterbrechungen und unnötigen Einschaltungen reichen Darstellung, daß um sechs Uhr morgens »plötzlich« ein Gouvernementsbeamter zu ihm gekommen sei.

»Pardon, j'ai oublié son nom. Il n'est pas du pays; aber wie es scheint, hat ihn Lembke mitgebracht, quelque chose de bête et d'allemand dans la physionomie. Il s'appelle Rosenthal.«

»Nicht etwa Blümer?«

»Blümer. Ganz richtig, so hieß er. Vous le connaissez? Quelque chose d'hébété et de très content dans la figure, pourtant très sévère, roide et sérieux. Ein echter Polizeimensch, gehorsam gegen die Vorgesetzten, je m'y connais. Ich schlief noch, und denken Sie sich: er bat um die Erlaubnis, meine Bücher und Manuskripte ›ansehen‹ zu dürfen; oui, je m'en souviens; il a employé ce mot. Er hat mich nicht arretiert, sondern nur einige Bücher mitgenommen ... Il se tenait à distance, und als er anfing, mir sein Kommen zu erklären, da machte er ein Gesicht, als ob ich ... enfin il avait l'air de croire que je tomberai sur lui immédiatement et que je commencerai à le battre comme plâtre. Tous ces gens du bas étage sont comme ça, wenn sie mit einem anständigen Menschen zu tun haben. Selbstverständlich begriff ich sofort alles. Voilà vingt ans que je m'y prépare. Ich schloß ihm alle Schubfächer auf und übergab ihm alle Schlüssel; ich selbst übergab ihm alles. J'étais digne et calme. An Büchern nahm er mit: ausländische Ausgaben von Schriften Herzens, ein gebundenes Exemplar des Kolokol, vier Abschriften meines Gedichtes et enfin tout ça. Ferner Papiere und Briefe et quelques unes de mes ébauches historiques, critiques et politiques. Das alles nahm er fort. Nastasja sagt, ein Soldat habe es auf eine Schubkarre geladen, mit einer Schürze zugedeckt und fortgefahren; oui, c'est cela, mit einer Schürze.«

Das war ein seltsames Gerede. Wer konnte davon etwas begreifen? Ich fiel ihn von neuem mit Fragen an: ob Blümer allein gekommen sei? In wessen Auftrage? Mit welchem Rechte? Wie er sich habe erdreisten können? Was er zur Erklärung gesagt habe?

»Il était seul, bien seul; übrigens war auch noch jemand dans l'antichambre, oui, je m'en souviens, et puis ... Übrigens war wohl auch noch jemand da, und auf dem Flur stand ein Wächter. Wir müssen Nastasja danach fragen; die weiß all das am besten. J'étais surexcité, voyez-vous. Il parlait, il parlait ... un tas de choses; übrigens redete er nur sehr wenig; ich war eigentlich derjenige, der immer sprach ... Ich erzählte meine Lebensgeschichte, selbstverständlich nur von diesem Gesichtspunkte aus ... J'étais surexcité, mais digne, je vous l'assure. Übrigens fürchte ich, daß ich in Tränen ausgebrochen bin. Die Schubkarre hatten sie sich von dem Krämer nebenan geben lassen.«

»O Gott, wie ist das alles nur möglich gewesen! Aber ich bitte Sie um Gottes willen, teilen Sie mir die Sache noch genauer mit, Stepan Trofimowitsch; was Sie da erzählen, klingt ja wie ein Traum!«

»Cher, ich glaube selbst zu träumen ... Savez-vous! Il a prononcé le nom de Teliatnikoff, und ich glaube, daß dieser der war, der sich im Vorzimmer versteckt hielt. Ja, ich erinnere mich, er schlug mir vor, einige Bekannte als Bürgen zu stellen, etwa den Staatsanwalt und Dmitri Mitritsch ... der mir noch fünfzehn Rubel vom Whist schuldig ist, soit dit en passant. Enfin, je n'ai pas trop compris. Aber ich bin doch noch schlauer gewesen als er, und was habe ich auch mit Dmitri Mitritsch zu schaffen? Ich bat ihn sehr, die Sache geheimzuhalten; sehr dringend bat ich ihn darum; ich fürchte sogar, daß ich dabei meiner Würde etwas vergeben habe; comment croyez-vous? Enfin il a consenti ... Ja, ich erinnere mich, daß er selbst darum bat; er meinte, es werde am besten sein, die Sache geheimzuhalten, weil er nur gekommen sei, um sich dies und jenes ›anzusehen‹, et rien de plus, und weiter nichts ... und wenn nichts gefunden werde, so werde die Sache keine weiteren Folgen haben. So haben wir denn das Geschäft en amis beendet; je suis tout-à-fait content.«

»Aber ich bitte Sie, er hat Ihnen doch das in solchen Fällen übliche Verfahren vorgeschlagen, nämlich die Stellung von Bürgen, und Sie haben das selbst zurückgewiesen!« rief ich in freundlicher Entrüstung.

»Nein, es ist schon besser so ohne Bürgen. Wozu einen Skandal heraufbeschwören? Mag die Sache bis zu einem gewissen Zeitpunkt en amis bleiben ... Sie wissen, wenn man es in unserer Stadt erfährt ... mes ennemis ... et puis à quoi bon ce procureur, ce cochon de notre procureur, qui deux fois m'a manqué de politesse et qu'on a rossé à plaisir l'autre année chez cette charmante et belle Natalja Pawlowna,quand il se cacha dans son boudoir. Et puis, mon ami, widersprechen Sie mir nicht und entmutigen Sie mich nicht, ich bitte Sie dringend; denn es gibt nichts Unerträglicheres, als wenn ein Mensch unglücklich ist und ihm dann hundert Freunde nachweisen, wie dumm er gehandelt hat. Aber setzen Sie sich, und trinken Sie Tee; und ich muß gestehen, ich bin sehr müde ... wäre es nicht gut, wenn ich mich hinlegte und mir Essigumschläge um den Kopf machte? Was meinen Sie?«

»Unbedingt!« rief ich; »und nehmen Sie auch Eis dazu! Sie sind sehr angegriffen. Sie sehen blaß aus, und die Hände zittern Ihnen. Legen Sie sich hin, erholen Sie sich, und verschieben Sie die Fortsetzung Ihrer Erzählung eine Weile! Ich werde mich hier neben Sie setzen und warten.«

Er konnte sich noch nicht dazu entschließen, sich hinzulegen; aber ich bestand darauf. Nastasja brachte Essig in einer Tasse, und ich befeuchtete ein Handtuch und legte es ihm auf den Kopf. Dann stieg Nastasja auf einen Stuhl und zündete in der Ecke vor dem Heiligenbilde ein Lämpchen an. Ich bemerkte dies mit Verwunderung; ein Lämpchen war früher nie vorhanden gewesen, und jetzt war auf einmal eins da.

»Das habe ich vorhin angeordnet, gleich nachdem die Leute weggegangen waren,« murmelte Stepan Trofimowitsch, mich schlau anblickend; »quand on a de ces choses-là dans sa chambre et qu'on vient vous arrêter, so macht das Eindruck, und sie müssen dann melden, was sie gesehen haben ...«

Als Nastasja mit dem Lämpchen fertig war, stellte sie sich in die Tür, legte die rechte Handfläche gegen die Backe und begann, ihn mit weinerlicher Miene anzusehen.

»Eloignez-la unter irgendeinem Vorwande!« sagte er zu mir vom Sofa aus, indem er mir mit dem Kopfe einen Wink gab. »Ich kann diese russische Art des Bemitleidens nicht ausstehen, et puis ça m'embête.«

Aber sie ging von selbst fort. Ich bemerkte, daß er immer nach der Tür hinspähte und nach dem Vorzimmer hinhorchte.

»Il faut être prêt, voyez-vous,« sagte er, mich bedeutsam anblickend; »chaque moment ... können sie kommen, mich mitnehmen, und hui – ist ein Mensch verschwunden!«

»O Gott! Wer wird denn kommen? Wer wird Sie mitnehmen?«

»Voyez-vous, mon cher, ich habe ihn, als er wegging, geradezu gefragt, was man jetzt mit mir machen werde.«

»Sie hätten lieber fragen sollen, wohin man Sie verschicken werde!« rief ich mit demselben Unwillen wie kurz vorher.

»Das war ja auch der verborgene Sinn meiner Frage; aber er ging weg, ohne eine Antwort gegeben zu haben. Voyez-vous, was Wäsche, Kleidung, namentlich warme Kleidung anlangt, da werden sie schon nach eigenem Ermessen anordnen, was ich mitnehmen soll; oder aber man transportiert mich vielleicht auch in einem bloßen Soldatenmantel fort. Aber ich habe fünfunddreißig Rubel« (er ließ plötzlich die Stimme sinken und blickte besorgt nach der Tür, durch welche Nastasja hinausgegangen war) »heimlich in einen Riß in der Westentasche geschoben; hier, fühlen Sie einmal! ... Ich denke, die Weste werden sie mir nicht wegnehmen; zum Scheine aber habe ich sieben Rubel im Portemonnaie gelassen; ›das ist alles, was ich habe,‹ will ich sagen. Wissen Sie, hier auf dem Tische habe ich Kleingeld und Kupfergeld herumliegen lassen, so daß sie nicht auf den Gedanken kommen können, daß ich Geld versteckt habe, sondern denken werden, daß dies alles sei. Gott mag wissen, wo ich die nächste Nacht zubringen werde.«

Ich ließ den Kopf hängen bei diesem Nonsens. Offenbar war es ganz unmöglich, daß er so arretiert und durchsucht wurde, wie er das befürchtete; er war eben ganz verwirrt. Allerdings trug sich das alles damals noch vor Erlaß der jetzigen neuen Gesetze zu. Und allerdings war er, als man ihm (nach seiner eigenen Mitteilung) ein regelrechteres Verfahren vorgeschlagen hatte, »schlauer gewesen« und hatte es abgelehnt ... Gewiß konnte früher, das heißt noch vor kurzem, ein Gouverneur in ganz außerordentlichen Fällen auch ... Aber was konnte denn hier für ein solcher ganz außerordentlicher Fall vorliegen? Das machte mich ganz wirr.

»Es ist sicherlich ein Telegramm aus Petersburg gekommen,« sagte Stepan Trofimowitsch auf einmal.

»Ein Telegramm! Eines, das Sie betrifft? Wegen der Schriften von Herzen und wegen Ihres Gedichtes? Sie haben wohl den Verstand verloren! Weswegen sollte man Sie arretieren?«

Ich war geradezu ärgerlich. Er schnitt eine Grimasse und fühlte sich offenbar beleidigt, nicht wegen meines Ausrufes, sondern wegen meiner Ansicht, daß kein Grund zu seiner Festnahme vorhanden sei.

»Wer kann in unserer Zeit wissen, wofür man ihn arretieren kann?« murmelte er rätselhaft.

Ein wunderlicher, törichter Gedanke fuhr mir durch den Kopf.

»Stepan Trofimowitsch, sagen Sie mir als Ihrem Freunde,« rief ich, »als Ihrem aufrichtigen Freunde, ich werde Sie nicht verraten: gehören Sie irgendeiner geheimen Gesellschaft an?«

Und siehe da, zu meiner Verwunderung war er sich auch darüber nicht sicher, ob er einer geheimen Gesellschaft angehörte oder nicht.

»Das ist so, wie man's nehmen will; voyez-vous ...«

»Was heißt das: ›wie man's nehmen will‹?«

»Wenn man mit ganzem Herzen dem Fortschritt anhängt ... wer kann da dafür garantieren? Man denkt, daß man keiner solchen Gesellschaft angehört; aber wenn man's genauer betrachtet, so stellt sich heraus, daß es doch der Fall ist.«

»Wie ist das möglich? Hier gibt es doch nur ein Ja oder ein Nein!«

»Cela date de Pétersbourg, als ich mit ihr zusammen dort eine Zeitschrift gründen wollte. Davon schreibt sich das her. Wir sind damals durchgeschlüpft, und sie haben uns vergessen; aber jetzt haben sie sich unser erinnert. Cher, cher, kennen Sie mich denn nicht?« rief er schmerzerfüllt. »Man wird mich festnehmen, mich auf einen Bauernwagen setzen, und dann marsch nach Sibirien fürs ganze Leben; oder man sperrt mich in eine Kasematte und vergißt mich.«

Und plötzlich brach er in heiße Tränen aus. Die Tränen strömten ihm nur so aus den Augen. Er bedeckte sich die Augen mit seinem rotseidenen Taschentuche und schluchzte, schluchzte etwa fünf Minuten lang krampfhaft. Mir tat das Herz weh. Dieser Mann, der zwanzig Jahre lang unser Prophet, unser Prediger, unser Lehrer, unser Patriarch, unser Kukolnik1 gewesen war, der eine so hohe, imposante Stellung über uns allen eingenommen hatte, vor dem wir uns von ganzem Herzen gebeugt hatten, indem wir uns den Verkehr mit ihm zur Ehre anrechneten: der fing jetzt auf einmal an zu schluchzen, zu schluchzen wie ein kleiner Knabe, der eine Unart begangen hat und der Rute entgegensieht, die der Lehrer herbeiholt. Er tat mir schrecklich leid. An den Bauernwagen glaubte er offenbar ebenso sicher wie an die Tatsache, daß ich neben ihm saß, und erwartete ihn gleich an diesem Vormittage, sofort, augenblicklich, und all das, weil er Schriften von Herzen besessen und selbst einmal ein Gedicht gemacht hatte! Eine solche vollständige, gänzliche Unkenntnis der alltäglichen Wirklichkeit hatte etwas Rührendes und zugleich etwas Widerwärtiges.

Endlich hörte er auf zu weinen, stand vom Sofa auf und begann wieder im Zimmer auf und ab zu gehen, wobei er das Gespräch mit mir fortsetzte, aber alle Augenblicke durchs Fenster sah und nach dem Vorzimmer hinhorchte. Unser Gespräch nahm zusammenhanglos seinen Fortgang. Alle meine Versicherungen und Beruhigungsversuche sprangen von ihm ab wie Erbsen von der Wand. Er hörte nur wenig danach hin; aber dennoch war es ihm ein dringendes Bedürfnis, daß ich beruhigend zu ihm spräche, und er redete denn auch unaufhörlich in diesem Sinne. Ich sah, daß er mich jetzt nicht entbehren konnte und mich um keinen Preis fortgelassen hätte. Ich blieb daher, und wir saßen länger als zwei Stunden zusammen. Im Laufe des Gespräches erwähnte er, daß Blümer zwei Proklamationen bei ihm gefunden und mitgenommen habe.

»Wie? Proklamationen?« rief ich dummerweise erschrocken. »Haben Sie denn ...«

»Ach was! Man hat mir zehn Stück zugesteckt,« antwortete er ärgerlich (er redete mit mir bald in ärgerlichem und hochmütigem, bald in höchst kläglichem und kleinmütigem Tone); »aber acht hatte ich schon wieder weggegeben; so hat Blümer nur zwei beschlagnahmt ...«

Er wurde plötzlich rot vor Unwillen.

»Vous me mettez avec ces gens-là! Glauben Sie denn wirklich, daß ich mit diesen Schurken Gemeinschaft haben kann, mit diesen heimlichen Zusteckern, mit meinem Söhnchen Peter Stepanowitsch, avec ces esprits-forts de la lâcheté? O Gott!«

»Nicht doch; aber ob man Sie nicht doch irgendwie mit denen vermengt hat? ... Übrigens, Unsinn! Das ist ja unmöglich!« erwiderte ich.

»Savez-vous,« entfuhr es ihm auf einmal; »ich habe manchmal die Empfindung, que je ferai là-bas quelque esclandre. Oh, gehen Sie nicht weg; lassen Sie mich nicht allein! Ma carrière est finie aujourd'hui, je le sens. Wissen Sie, ich werde mich dort vielleicht auf jemand stürzen und ihn beißen wie jener Unterleutnant ...«

Er sah mich mit einem sonderbaren Blicke an, mit einem furchtsamen Blicke, in welchem zu gleicher Zeit der Wunsch lag, Furcht zu erregen. Er regte sich in der Tat immer mehr und mehr über irgend jemand und über irgend etwas auf, je weiter die Zeit vorschritt, ohne daß der Bauernwagen erschienen wäre; er wurde sogar zornig. Plötzlich stieß Nastasja, die zu irgendwelchem Zwecke aus der Küche ins Vorzimmer gegangen war, dort an einen Kleiderständer an und warf ihn um. Stepan Trofimowitsch fing sofort an zu zittern und wurde leichenblaß; aber als die Sache sich aufgeklärt hatte, kreischte er Nastasja grimmig an, stampfte mit den Füßen und jagte sie wieder in die Küche zurück. Eine Weile darauf blickte er mich verzweifelt an und murmelte:

»Ich bin verloren! Cher,« (er setzte sich auf einmal neben mich und sah mir mit unendlich kläglicher Miene starr in die Augen), »cher, ich fürchte mich nicht vor Sibirien, das schwöre ich Ihnen, o, je vous jure« (es traten ihm sogar die Tränen in die Augen), »ich fürchte etwas anderes ...«

Ich vermutete nach seiner Miene, daß er mir endlich etwas Außerordentliches mitteilen wolle, was mitzuteilen er sich bisher noch nicht hatte entschließen können.

»Ich fürchte die Schande,« flüsterte er geheimnisvoll.

»Was für Schande? Aber ganz im Gegenteil! Glauben Sie mir, Stepan Trofimowitsch, die ganze Sache wird noch heute ihre Aufklärung finden und zu Ihren Gunsten enden ...«

»Sind Sie so fest davon überzeugt, daß man mir verzeihen wird?«

»Was reden Sie denn von Verzeihen! Was sind das für Ausdrücke! Was haben Sie denn begangen? Ich versichere Ihnen, daß Sie nichts begangen haben!«

»Qu'en savez-vous? Mein ganzes Leben war ... cher ... Man wird sich an alles erinnern ... und wenn man nichts findet, um so schlimmer,« fügte er überraschend hinzu.

»Wieso ›um so schlimmer‹?«

»Um so schlimmer.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Mein Freund, mein Freund, nun, mag man mich meinetwegen nach Sibirien oder nach Archangelsk verschicken und mich der bürgerlichen Rechte berauben; wenn ich zugrunde gehen soll, nun gut! Aber ... ich fürchte etwas anderes« (wieder Flüstern, ängstliche Miene und geheimnisvolles Wesen).

»Aber was denn, was denn?«

»Man wird mich auspeitschen,« sagte er und blickte mich mit ganz verstörtem Gesichte an.

»Wer wird Sie auspeitschen? Wo? Warum?« rief ich; ich ängstigte mich, ob er auch nicht den Verstand verliere.

»Wo? Nun, hier ... wo so etwas ausgeführt wird.«

»Aber wo wird denn so etwas ausgeführt?«

»Ach, cher,« flüsterte er ganz dicht an meinem Ohre, »da geht auf einmal unter einem der Fußboden auseinander, und man sinkt bis zur Mitte des Leibes hinein ... Das weiß ja jeder Mensch.«

»Fabeln!« rief ich, indem ich die Fortsetzung erriet; »alte Fabeln! Haben Sie das wirklich bis jetzt geglaubt?« Ich lachte laut auf.

»Fabeln! Diese Fabeln müssen doch einen Ursprung haben; ein Durchgepeitschter erfindet keine Fabeln. Ich habe mir das schon viele tausend Male im Geiste vorgestellt!«

»Aber wofür sollte man Sie, gerade Sie so bestrafen? Sie haben ja doch nichts getan?«

»Um so schlimmer; sie werden sehen, daß ich nichts getan habe, und mich durchpeitschen.«

»Und Sie sind davon überzeugt, daß man Sie zu diesem Zwecke nach Petersburg bringen wird?«

»Mein Freund, ich habe schon gesagt, daß ich mich um nichts mehr gräme; ma carrière est finie. Seit jener Stunde in Skworeschniki, als sie von mir Abschied nahm, ist es mir um mein Leben nicht leid ... aber die Schande, die Schande; que dira-t-elle, wenn sie es erfährt?«

Er blickte mich ganz verzweifelt an; der Ärmste war dunkelrot geworden. Ich schlug ebenfalls die Augen nieder.

»Sie wird nichts erfahren, weil Ihnen nichts zustoßen wird. Mir ist, als ob ich zum erstenmal in meinem Leben mit Ihnen spräche, Stepan Trofimowitsch, in solches Erstaunen versetzen Sie mich heute.«

»Mein Freund, das ist bei mir nicht Furcht. Aber selbst wenn man mir verzeiht, selbst wenn man mich wieder hierher zurückbringt und mir nichts tut, auch dann bin ich zugrunde gerichtet. Elle me soupçonnera toute sa vie ... mich, mich, den Dichter, den Denker, den Menschen, den sie zweiundzwanzig Jahre lang verehrt hat!«

»So etwas wird ihr gar nicht in den Sinn kommen!«

»Doch, doch!« flüsterte er aus tiefster Überzeugung. »Wir beide, ich und sie, haben mehrmals darüber in Petersburg gesprochen, in den Großen Fasten, vor unserer Abreise, als wir beide unsere Besorgnisse hatten. Elle me soupçonnera toute sa vie ... und wie kann ich sie vom Gegenteil überzeugen? Alles, was ich sagen könnte, wird unwahrscheinlich klingen. Und wer wird es überhaupt hier in dieser elenden Stadt glauben? C'est invraisemblable ... Et puis les femmes ... Sie wird sich freuen. Sie wird als wahre Freundin betrübt sein, aufrichtig betrübt; aber im geheimen wird sie sich freuen ... Ich habe ihr damit fürs ganze Leben eine Waffe gegen mich in die Hand gegeben. Oh, mein Leben ist zugrunde gerichtet! Zwanzig Jahre eines vollkommenen Glückes im Zusammenleben mit ihr ... und nun!«

Er verbarg das Gesicht in den Händen.

»Stepan Trofimowitsch, wäre es nicht das beste, wenn Sie Warwara Petrowna jetzt gleich von dem Vorgefallenen benachrichtigten?« schlug ich vor.

»Gott soll mich bewahren!« erwiderte er zusammenfahrend und sprang von seinem Platze auf. »Um keinen Preis, niemals; nach dem, was zwischen uns beim Abschiede in Skworeschniki gesprochen worden ist, ist das ganz unmöglich. Niemals!«

Seine Augen funkelten.

Wir blieben so noch eine Stunde oder länger, glaube ich, zusammen, er immer etwas erwartend; denn diese Vorstellung hatte sich nun einmal in seinem Kopfe festgesetzt. Er legte sich wieder hin, schloß sogar die Augen und lag etwa zwanzig Minuten lang da, ohne ein Wort zu sagen, so daß ich sogar glaubte, er schliefe oder habe kein Bewußtsein. Plötzlich richtete er sich ungestüm in die Höhe, riß sich das Handtuch vom Kopfe, sprang vom Sofa auf, stürzte zum Spiegel, band sich mit zitternden Händen ein Halstuch um, rief mit lauter Stimme Nastasja und befahl ihr, ihm den Überzieher, den neuen Hut und den Stock zu bringen.

»Ich kann das nicht länger aushalten,« sagte er mit stockender Stimme. »Es ist mir unmöglich, ganz unmöglich! ... Ich will von selbst hingehen.«

»Wohin?« fragte ich, ebenfalls aufspringend.

»Zu Lembke. Cher, ich muß das tun; das ist meine Pflicht. Ich bin ein Bürger und ein Mensch und kein willenlos im Strudel herumgewirbeltes Holzspänchen; ich habe Rechte und will auf meinen Rechten bestehen ... Ich habe zwanzig Jahre lang nicht auf ihnen bestanden, sondern sie mein ganzes Leben lang freventlich vergessen ... aber jetzt werde ich auf ihnen bestehen. Er soll mir alles sagen, alles. Er hat ein Telegramm erhalten. Er darf mich nicht quälen; lieber mag er mich arretieren, mich arretieren, mich arretieren!«

Er schrie das mit kreischender Stimme und stampfte dabei mit den Füßen.

»Ich stimme Ihnen ganz bei,« sagte ich, absichtlich möglichst ruhig, obgleich ich sehr um ihn in Sorge war. »Das wird in der Tat besser sein als in Kummer und Angst hier zu sitzen; aber Ihre Stimmung kann ich nicht billigen; sehen Sie nur, wie entstellt Sie aussehen, und ob Sie so dorthin gehen können. Il faut être digne et calme avec Lembke. Sie wären wirklich jetzt imstande sich dort auf jemand zu stürzen und ihn zu beißen.«

»Ich werde mich freiwillig ausliefern. Ich werde geradeswegs in den Rachen des Löwen gehen.«

»Ich werde mit Ihnen mitkommen.«

»Ich habe von Ihnen nicht weniger erwartet; ich nehme Ihr Opfer an, das Opfer eines aufrichtigen Freundes, aber nur bis zum Hause, nur bis zum Hause; Sie sollen und dürfen sich nicht durch meine Gesellschaft noch weiter kompromittieren. O, croyez-moi, je serai calme! Ich fühle mich in diesem Augenblicke à la hauteur de tout ce qu'il a de sacré ...«

»Ich werde vielleicht mit Ihnen auch ins Haus hineingehen,« unterbrach ich ihn. »Gestern hat mich das dumme Festkomitee durch Wysozki benachrichtigt, man zähle auf mich und fordere mich auf, bei dem morgigen Feste einer der Festordner, oder wie sie das nennen, zu sein, das heißt einer von den sechs jungen Leuten, die dazu da sind, auf die Präsentierbretter aufzupassen, den Damen den Hof zu machen, den Gästen ihre Plätze anzuweisen und eine Schleife aus weißen und roten Bändern an der linken Schulter zu tragen. Ich wollte es eigentlich ablehnen; aber jetzt kann ich es ja in der Weise benutzen, daß ich in das Haus komme unter dem Vorwande, mit Julija Michailowna selbst darüber reden zu wollen. Da kann ich also mit Ihnen zusammen hingehen.«

Er hörte es an und nickte mit dem Kopfe, schien aber nichts davon verstanden zu haben. Wir standen auf der Schwelle.

»Cher,« sagte er und streckte die Hand nach der Ecke aus, wo sich das Heiligenbild mit dem Lämpchen davor befand, »cher, ich habe nie daran geglaubt; aber ... meinetwegen, meinetwegen!« (Er bekreuzte sich.) »Allons!«

»Na, um so besser,« dachte ich, als ich mit ihm vor die Haustür trat. »Unterwegs wird die frische Luft das Ihrige tun; wir werden uns beruhigen, nach Hause zurückkehren und uns schlafen legen ...«

Aber ich hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Gerade unterwegs mußte uns ein Abenteuer zustoßen, das Stepan Trofimowitsch noch heftiger erschütterte und ihm endgültig die Richtung für sein Verhalten gab ... so daß ich, offen gestanden, von unserem Freunde gar nicht eine solche Bravour erwartet hätte, wie er sie plötzlich an diesem Vormittage bewies. Armer Freund, braver Freund!


Fußnoten


1 Ehemals angesehener Verfasser von Dramen und Romanen, 1809-1868.

Anmerkung des Übersetzers.


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