III.

Diese ganze Nacht mit ihren beinah absurden Ereignissen und mit der furchtbaren »Entwickelung« am Morgen schwebt mir noch bis auf den heutigen Tag wie ein häßlicher, beängstigender Traum vor und bildet, wenigstens für mich, den peinlichsten Teil dessen, was ich hier berichte. Ich hatte allerdings den Anfang des Balles versäumt, kam aber zu seinem Ende hin; so schnell war ihm zu enden beschieden. Es war schon zehn Uhr vorbei, als ich zum Portale des Hauses der Frau Adelsmarschall gelangte, wo derselbe Weiße Saal, in welchem vor kurzem die Vorlesung stattgefunden hatte, trotz der Kürze der Zeit bereits aufgeräumt und zurechtgemacht war, um als Haupttanzsaal für die ganze Stadt, wie geplant war, zu dienen. Aber eine wie ungünstige Prognose ich auch dem Balle am Vormittage gestellt hatte, so hatte ich doch nicht die volle Wahrheit geahnt: es war keine einzige Familie aus den höheren Kreisen erschienen; sogar die einigermaßen angesehenen Beamten fehlten, was ein sehr bemerkenswerter Zug war. Was die Frauen und jungen Mädchen anlangt, so ergab sich, daß Peter Stepanowitschs Voraussagungen (die sich jetzt offenbar als heimtückisch erwiesen) im höchsten Grade fehlerhaft waren: es waren nur äußerst wenige erschienen; auf vier Männer kam kaum eine Dame, und was für Damen! Die bedenklichen Gattinnen einiger höherer Offiziere des Regimentes, die Frauen kleinerer Post- und Verwaltungsbeamten, drei Doktorfrauen mit ihren Töchtern, zwei oder drei ärmere Gutsbesitzersfrauen, die sieben Töchter und die Nichte jenes Sekretärs, dessen ich schon oben Erwähnung getan habe, Kaufmannsfrauen, – war dies das Ballpublikum, welches Julija Michailowna erwartet hatte? Sogar von den Kaufmannsfamilien war die Hälfte nicht gekommen. Was die Männer anlangt, so bildeten sie trotz des vollständigen Fehlens unserer vornehmen Welt doch eine kompakte Masse; aber diese Masse machte einen zweideutigen, verdächtigen Eindruck. Allerdings waren darunter auch mehrere sehr ruhige, achtbare Offiziere mit ihren Frauen, einige sehr gehorsame Familienväter, wie zum Beispiel immer derselbe Sekretär, der Vater der sieben Töchter. Dieses ganze friedliche Völkchen war erschienen sozusagen, »weil es sich nicht vermeiden ließ,« wie sich einer dieser Herren ausdrückte. Aber andererseits schien die Menge verwegener Persönlichkeiten und außerdem die Menge derjenigen, von denen ich und Peter Stepanowitsch vorher geargwöhnt hatten, daß sie ohne Billette hereingelassen seien, sich gegen vorhin noch vermehrt zu haben. Sie saßen vorläufig sämtlich beim Büfett, und zwar begab sich ein jeder gleich beim Eintreffen geradeswegs dorthin wie nach einem im voraus bestimmten Platze. So schien es mir wenigstens. Das Büfett war am Ende einer Zimmerflucht in einem geräumigen Saale untergebracht, wo sich Prochorytsch mit allen Verlockungen der Klubküche und mit einer verführerischen Ausstellung von kalten Speisen und Getränken eingerichtet hatte. Ich bemerkte hier mehrere Individuen in beinah zerrissenen Röcken, in höchst zweifelhaftem, durchaus nicht ballmäßigem Anzuge, Leute, die offenbar nur mit großer Mühe für kurze Zeit nüchtern gemacht und Gott weiß woher herangeholt waren, einige sogar aus anderen Städten. Es war mir freilich bekannt, daß nach Julija Michailownas Idee der Ball einen demokratischen Charakter tragen sollte; selbst Kleinbürger sollten nicht ausgeschlossen werden, wenn sie ihre Billette bezahlten. Das hatte sie kühn in ihrem Komitee ausgesprochen, fest davon überzeugt, daß es keinem der durchweg sehr armen Kleinbürger unserer Stadt in den Sinn kommen werde, ein Billett zu nehmen. Aber dennoch befremdete es mich, daß man diese traurigen Subjekte in beinah zerrissenen Röcken hatte hereinlassen können, trotz aller demokratischen Gesinnung des Komitees. Aber wer hatte sie hereingelassen und in welcher Absicht? Liputin und Ljamschin trugen ihre Festordner-Schleifen nicht mehr (obwohl sie beim Balle anwesend waren, da sie an der literarischen Quadrille teilnahmen); aber an Liputins Stelle war zu meiner Verwunderung jener Seminarist von vorhin getreten, der die Matinee durch sein Renkontre mit Stepan Trofimowitsch am meisten gestört hatte, und an Ljamschins Stelle Peter Stepanowitsch selbst; was konnte man unter solchen Umständen Gutes erwarten? Ich bemühte mich, die Gespräche mit anzuhören. Manche Ansichten überraschten durch ihre Seltsamkeit. So wurde zum Beispiel in einer Gruppe behauptet, die ganze Geschichte mit Stawrogin und Lisa habe Julija Michailowna eingefädelt und dafür von Stawrogin Geld erhalten. Es wurde sogar die Summe genannt. Es wurde behauptet, sie habe sogar das Fest in dieser Absicht arrangiert, und eben darum sei die halbe Stadt nicht erschienen, weil sie gewußt habe, um was es sich handle, und Lembke selbst sei darüber so frappiert gewesen, daß sein Verstand in Unordnung gekommen sei, und sie behandle ihn jetzt als Verrückten. – Es gab dort auch viel Gelächter, heiseres, rohes, selbstgefälliges Gelächter. Alle kritisierten scharf den Ball und schimpften ganz ungeniert auf Julija Michailowna. Im allgemeinen ging dieses Gerede ohne Ruhe und Ordnung vor sich und bestand aus abgerissenen Bemerkungen Halbbetrunkener, so daß es schwer war, daraus klug zu werden und etwas daraus zu entnehmen. Ebendort beim Büfett hatte sich auch eine Anzahl von Leuten niedergelassen, die einfach vergnügt waren; es waren sogar einige Damen da von der Art, die man durch nichts mehr in Verwunderung oder in Schrecken versetzen kann, sehr liebenswürdige, ausgelassene Damen, größtenteils Offiziersfrauen mit ihren Männern. Sie hatten gruppenweise an einzelnen Tischen Platz genommen und tranken höchst vergnügt Tee. Der Büfettraum hatte sich in einen behaglichen Zufluchtsort für fast die Hälfte des anwesenden Publikums verwandelt. Und doch mußte nach einiger Zeit diese ganze Masse in den Saal fluten; man bekam einen Schreck, wenn man daran auch nur dachte.

Unterdessen waren im Weißen Saale unter Mitwirkung des Fürsten drei dürftige Quadrillen zustande gekommen. Die jungen Damen tanzten, und die Eltern freuten sich über sie. Aber auch hier begannen schon viele dieser achtungswerten Personen daran zu denken, wie sie, wenn ihre Töchter sich hinreichend amüsiert haben würden, sich möglichst frühzeitig davonmachen könnten, und nicht erst dann, »wenn es losgehe«. Daß es unfehlbar losgehen werde, davon waren alle fest überzeugt. Julija Michailownas eigenen Seelenzustand zu schildern würde schwer sein. Ich sprach nicht mit ihr, obgleich ich ihr mehrmals ziemlich nahe kam. Auf meine Verbeugung beim Eintritt antwortete sie nicht; sie schien mich nicht bemerkt zu haben (sie hatte mich tatsächlich nicht bemerkt). Ihr Gesicht hatte einen leidenden Ausdruck; der Blick war verächtlich und hochmütig, aber fahrig und unruhig, Sie nahm sich mit offenbarer Qual zusammen, – wozu und für wen? Sie hätte unbedingt wegfahren und vor allen Dingen ihren Gemahl wegschaffen sollen; aber sie blieb! Schon an ihrem Gesichte konnte man wahrnehmen, daß ihr die Augen »vollständig aufgegangen« waren, und daß sie nichts Gutes mehr erwartete. Sie rief nicht einmal Peter Stepanowitsch zu sich heran (dieser schien sie auch selbst zu vermeiden; ich sah ihn am Büfett; er war außerordentlich heiter.) Aber sie blieb dennoch auf dem Balle und ließ Andrei Antonowitsch keinen Augenblick von ihrer Seite. Oh, bis zum letzten Augenblick würde sie noch vorhin bei der Matinee jede Anspielung auf seinen Gesundheitszustand mit der aufrichtigsten Entrüstung zurückgewiesen haben; aber jetzt mußten ihr auch in dieser Hinsicht die Augen aufgehen. Was mich betrifft, so hatte ich gleich beim ersten Blicke den Eindruck, daß Andrei Antonowitsch schlechter aussah als am Vormittage. Er schien sich in einem Zustande der Selbstvergessenheit zu befinden und gar nicht zu wissen, wo er eigentlich war. Ab und zu sah er mit auffallend strenger Miene um sich, so zum Beispiel ein paarmal nach mir hin. Einmal versuchte er, über irgendeinen Gegenstand ein Gespräch anzufangen; er begann laut und kräftig, sprach aber nicht zu Ende und versetzte dadurch einen friedlichen alten Beamten, der zufällig in seiner Nähe war, in Schrecken. Aber auch diese friedliche Hälfte des Publikums, die sich im Weißen Saale befand, hielt sich mit düsterer, ängstlicher Miene von Julija Michailowna fern und richtete gleichzeitig sehr sonderbare Blicke auf ihren Gemahl, Blicke, deren Beharrlichkeit und Offenheit zu der sonstigen Schüchternheit dieser Leute wenig stimmte.

»Sehen Sie, dieses Benehmen war es, was mir einen Stich ins Herz gab, und ich fing auf einmal an, etwas über Andrei Antonowitsch zu ahnen,« gestand Julija Michailowna mir selbst später.

Ja, sie hatte wieder einen Fehler begangen. Wahrscheinlich war sie vor kurzem, als sie nach meinem Davonlaufen sich mit Peter Stepanowitsch dafür entschieden hatte, den Ball stattfinden zu lassen und auf ihm zu erscheinen, wahrscheinlich war sie da wieder in das Arbeitszimmer des schon bei der Vorlesung endgültig »erschütterten« Andrei Antonowitsch gegangen, hatte wieder all ihre Zauberkünste zur Anwendung gebracht und ihn mit sich mitgeschleppt. Aber welche Qual stand sie aller Wahrscheinlichkeit nach jetzt aus! Und trotzdem fuhr sie nicht weg! Ob ihr Stolz sie peinigte, oder ob sie einfach die ruhige Überlegung verloren hatte, ich weiß es nicht. Bei all ihrem Hochmute versuchte sie es doch, demütig lächelnd mit einigen Damen ein Gespräch anzuknüpfen; aber diese wurden sofort verlegen, machten sich mit den einsilbigen, mißtrauischen Antworten »ja« und »nein« los und vermieden sie dann unverhohlen.

Von den unbestrittenen Würdenträgern unserer Stadt befand sich nur einer auf dem Balle, jener selbe angesehene General a.D., den ich schon einmal geschildert habe, und der bei der Frau Adelsmarschall nach Stawrogins Duell mit Gaganow »für die Ungeduld der ganzen Gesellschaft die Schleusen öffnete.« Er wanderte in würdevoller Haltung durch die Säle, betrachtete alles, hörte hier und da zu und suchte sich den Anschein zu geben, als sei er mehr zum Studium der Charaktere als zu seinem wirklichen Vergnügen hergekommen. Zuletzt ließ er sich definitiv bei Julija Michailowna nieder und wich keinen Schritt von ihr, offenbar bemüht, sie zu ermutigen und zu beruhigen. Ohne Zweifel war er ein herzensguter, sehr vornehmer und schon so bejahrter Mann, daß man es von ihm sogar ertragen konnte, bedauert zu werden. Aber Julija Michailowna fühlte sich sehr indigniert, da sie bemerkte, daß dieser alte Schwätzer sie zu bedauern und sogar zu protegieren wagte und ihr durch seine Gegenwart eine Ehre zu erweisen glaubte. Der General aber ließ von ihr nicht ab und schwatzte ohne Aufhören.

»Eine Stadt, sagt man, kann ohne sieben Gerechte nicht bestehen ... sieben, glaube ich, ich besinne mich nicht mit Be-stimmt-heit auf die Zahl. Ich weiß nicht, wie viele von diesen sieben ... unzweifelhaften Gerechten unserer Stadt ... die Ehre haben, Ihren Ball zu besuchen; aber trotz ihrer Anwesenheit bekomme ich das Gefühl, daß ich hier in Gefahr bin. Vous me pardonerez, charmante dame, n'est-ce pas? Ich rede nur so an-deu-tungs-wei-se; aber ich ging in das Büfettzimmer und war froh, als ich mit heiler Haut wieder heraus war ... Unser unschätzbarer Prochorytsch ist da nicht an seinem Platze, und gegen Morgen werden sie ihm wohl seine ganzen Speisevorräte wegnehmen. Übrigens macht mir die Sache Spaß. Ich warte nur, wie sich die li-te-ra-ri-sche Quadrille machen wird; dann aber heißt es bei mir: ins Bett. Verzeihen Sie einem alten Podagriker; ich pflege mich früh hinzulegen und würde auch Ihnen raten, nach Hause zu fahren und sich in die Baba zu legen, wie man aux enfants sagt. Ich bin um der schönen jungen Damen willen hergekommen ... die ich nirgends in solcher Vollzähligkeit zu sehen bekommen kann wie hier ... Sie sind alle von jenseits des Flusses, und da komme ich nicht hin. Die Frau eines Offiziers ... wohl eines Jägeroffiziers ... ist eine sehr hübsche Erscheinung, sehr hübsch und ... und sie weiß das auch selbst. Ich habe mich mit dieser schalkhaften Person unterhalten; sie ist sehr keck und ... na, ihre Töchter sind auch ganz frisch; aber weiter auch nichts; außer ihrer Frische ist an ihnen nichts Besonderes. Übrigens hat es mir Vergnügen gemacht. Es gibt so Knöspchen, da sind nur die Lippen dick. Überhaupt besitzen schöne russische Frauengesichter wenig von jener Regelmäßigkeit und ... und bekommen leicht etwas Pfannkuchenhaftes ... Vouz me pardonnerez, n'est-ce pas? ... übrigens neben schönen Augen ... lachenden Augen. Diese Knöspchen sind während zweier Jugendjahre ent-zük-kend, sogar drei Jahre lang ... na, aber dann werden sie weich und schwammig für das ganze Leben ... und rufen bei ihren Männern jene bedauerliche Gleich-gül-tig-keit hervor, durch die die weitere Entwickelung der Frauenfrage so sehr befördert wird ... wenn anders ich diese Frage richtig verstehe ... Hm! Der Saal ist schön; die Zimmer sind nett ausgeschmückt. Es könnte schlechter sein. Die Musik könnte viel schlechter sein ... ich sage nicht, daß sie schlechter sein sollte. Es macht einen schlechten Eindruck, daß so wenig Damen da sind. Von den Toiletten will ich nicht reden. Unpassend, daß der da in den grauen Hosen sich so offen erlaubt Kankan zu tanzen. Ich würde es verzeihen, wenn er es aus Freude täte, und weil er ein hiesiger Apotheker ist ... aber vor elf Uhr ist es doch zu früh, auch für einen Apotheker ... Da im Büfettzimmer haben sich zwei geprügelt, ohne daß sie hinausgebracht worden wären. Vor elf Uhr müssen Raufbolde noch hinausspediert werden, mögen die Sitten des Publikums sein, wie sie wollen ... ich rede nicht von der Zeit nach zwei Uhr morgens; da muß man schon den Anschauungen der betreffenden Gesellschaft eine gewisse Konzession machen, – wenn dieser Ball überhaupt bis nach zwei Uhr dauert. Warwara Petrowna hat doch nicht Wort gehalten und keine Blumen hergegeben. Hm! Sie wird wohl jetzt an andere Dinge denken als an Blumen, pauvre mère! Und die arme Lisa, haben Sie es gehört? Man sagt, es sei eine geheimnisvolle Geschichte, und ... und wieder erscheint dieser Stawrogin auf dem Plan ... Hm! Ich möchte gern wegfahren und mich schlafen legen ... ich kann schon den Kopf gar nicht mehr gerade halten. Wann mag denn diese li-te-ra-ri-sche Quadrille anfangen?«

Endlich fing auch die literarische Quadrille an. In der Stadt war man in der letzten Zeit, sobald irgendwo ein Gespräch über den bevorstehenden Ball begonnen hatte, immer alsbald auf diese literarische Quadrille zu reden gekommen, und da sich niemand so recht vorstellen konnte, was das sei, so hatte sie maßlose Neugier erregt. Nichts konnte für den Erfolg gefährlicher sein, und – wie groß war nun die Enttäuschung!

Eine bis dahin verschlossene Seitentür des Weißen Saales öffnete sich, und plötzlich erschienen einige Masken. Das Publikum umringte sie mit lebhaftem Interesse. Alle, die bisher im Büfettzimmer gewesen waren, kamen bis auf den letzten Mann auf einmal in den Saal geströmt. Die Masken stellten sich zum Tanzen auf. Es gelang mir, mich in die vorderste Reihe durchzudrängen, und ich kam gerade hinter Julija Michailowna, v. Lembke und den General zu stehen. In diesem Augenblicke sprang zu Julija Michailowna Peter Stepanowitsch heran, der bis dahin nirgends zu sehen gewesen war.

»Ich halte mich immer im Büfettzimmer auf und beobachte,« flüsterte er mit der Miene eines schuldbewußten Schulknaben, die er übrigens absichtlich fingierte, um sie noch mehr zu reizen.

Diese wurde dunkelrot vor Zorn.

»Wenn Sie mich nur wenigstens jetzt nicht mehr betrügen wollten, Sie frecher Mensch!« entfuhr es ihr beinah laut, so daß man es im Publikum hören konnte.

Peter Stepanowitsch lief, mit sich selbst höchst zufrieden, davon.

Es war schwer, sich eine kläglichere, gemeinere, dümmere, fadere Allegorie als diese »literarische Quadrille« vorzustellen. Man hätte nichts ersinnen können, was für unser Publikum weniger geeignet gewesen wäre, und dabei hatte diese Quadrille, wie gesagt wurde, Karmasinow ausgedacht. Arrangiert hatte sie allerdings Liputin nach Beratungen mit eben jenem lahmen Lehrer, der an der abendlichen Zusammenkunft bei Wirginski teilgenommen hatte. Aber Karmasinow hatte doch die Idee dazu geliefert und hatte sogar, wie man sagte, sich selbst verkleiden und eine besondere, selbständige Rolle übernehmen wollen. Die Quadrille bestand aus sechs Paaren von kläglichen Masken; eigentlich waren es gar keine Masken, da die betreffenden Personen ebensolche Kleider trugen wie alle andern. So hatte zum Beispiel ein bejahrter Herr von kleiner Statur einen Frack an, war, mit einem Worte, ebenso gekleidet wie alle Leute; nur hatte er sich einen würdevollen, grauen Bart angeheftet, und darin bestand sein ganzes Maskenkostüm; dieser Herr tanzte mit ernstem Gesichtsausdrucke immer auf einem Fleck herum, indem er mit raschen, kleinen Schritten umhertrippelte und sich fast nicht von der Stelle bewegte. Er stieß mit einer leidlichen, aber heiseren Baßstimme einige Laute aus, und diese heisere Stimme sollte eine bekannte Zeitung bedeuten. Dieser Maske gegenüber tanzten zwei Riesen X und Z, und diese Buchstaben waren ihnen an den Frack angeheftet; aber was diese Buchstaben X und Z bedeuteten, blieb unaufgeklärt. »Der ehrenhafte russische Gedanke« wurde von einem Herrn in mittlerem Alter dargestellt, mit Brille, Frack, Handschuhen und – Fußfesseln (echten Fußfesseln). Unter dem Arm trug dieser Gedanke ein Portefeuille mit irgendwelchen Akten. Aus seiner Tasche schaute ein aus dem Auslande gekommener, erbrochener Brief hervor, der für alle Zweifler eine Bescheinigung über die Ehrenhaftigkeit des »ehrenhaften russischen Gedankens« enthielt. All dies wurde von den Festordnern mündlich auseinandergesetzt; denn lesen konnte man natürlich den aus der Tasche heraussehenden Brief nicht. In der erhobenen rechten Hand hielt der »ehrenhafte russische Gedanke« ein Trinkglas, wie wenn er einen Toast ausbringen wollte. Rechts und links neben ihm trippelten zwei Nihilistinnen mit kurz geschorenem Haar umher, und vis-à-vis tanzte ein ebenfalls bejahrter Herr im Frack, aber mit einem schweren Knittel in der Hand; er stellte angeblich ein nicht in Petersburg erscheinendes Revolverjournal »Wen ich kriege, dem wasche ich den Kopf!« dar. Aber trotz seines Knittels konnte er die Blicke, die der »ehrenhafte russische Gedanke« durch seine Brillengläser beharrlich auf ihn richtete, nicht ertragen und bemühte sich zur Seite zu sehen, und wenn er einen pas de deux ausführte, so drehte und wand er sich und wußte nicht, wo er bleiben sollte; so quälte ihn wahrscheinlich das Gewissen ... Übrigens kann ich mich nicht auf all diese albernen Einfälle besinnen; es war alles von derselben Art, so daß ich mich schließlich in peinlichem Grade schämte. Und siehe da, diese selbe Empfindung der Scham prägte sich auch auf den Gesichtern des ganzen übrigen Publikums aus, sogar in den mürrischen Physiognomien derjenigen, die aus dem Büfettzimmer gekommen waren. Eine Zeitlang schwiegen alle und sahen mit unwilligem Staunen zu. Wer sich schämt, wird gewöhnlich unwillig und bekommt Lust zu schimpfen. Allmählich machte sich im Publikum ein dumpfes Gemurmel hörbar.

»Was soll denn das vorstellen?« brummte in einer Gruppe ein Büfettfreund.

»Irgendeine Dummheit.«

»Etwas aus der Literatur. Der Golos wird kritisiert.«

»Was kümmert das mich?«

In einer andern Gruppe:

»Die Esel!«

»Nein, sie sind keine Esel, sondern wir sind Esel.«

»Warum bist du ein Esel?«

»Nein, ich bin kein Esel.«

»Na, wenn du kein Esel bist, dann bin ich schon lange keiner.«

In einer dritten Gruppe:

»Man müßte ihnen allen einen Fußtritt geben und sie zum Teufel jagen!«

»Den ganzen Saal in Aufregung zu bringen!«

In einer vierten:

»Daß sich bloß die Lembkes nicht schämen, dabei zuzusehen!«

»Warum sollen sie sich schämen? Du schämst dich ja auch nicht!«

»Doch, ich schäme mich; und er ist doch der Gouverneur.«

»Und du bist ein Schafskopf.«

»In meinem ganzen Leben habe ich noch keinen so ordinären Ball gesehen,« sagte giftig dicht neben Julija Michailowna eine Dame, offenbar mit der Absicht, von dieser gehört zu werden.

Diese Dame war etwa vierzig Jahre alt, stämmig, geschminkt; sie trug ein grellfarbiges Seidenkleid; in der Stadt kannten sie fast alle; aber niemand empfing sie. Sie war die Witwe eines Staatsrates, der ihr ein hölzernes Haus und eine kärgliche Pension hinterlassen hatte; aber sie lebte auf großem Fuße und hielt sich Wagen und Pferde. Vor zwei Monaten hatte sie der neuen Frau Gouverneur ihrerseits zuerst einen Besuch gemacht, war aber nicht angenommen worden.

»Das war ja auch vorherzusehen,« fügte sie hinzu, indem sie Julija Michailowna frech ins Gesicht blickte.

»Wenn Sie das vorhersehen konnten, warum sind Sie denn dann hergekommen?« konnte sich Julija Michailowna nicht enthalten zu entgegnen.

»Aus Harmlosigkeit,« erwiderte die schlagfertige Dame sofort und setzte sich mit einem Ruck in Positur (sie hatte die größte Lust, mit Julija Michailowna anzubinden); aber der General trat zwischen die beiden:

»Chère dame,« sagte er, sich zu Julija Michailowna hinbeugend, »Sie sollten wirklich wegfahren. Wir genieren hier die Leute nur, und sie werden sich ohne uns vorzüglich amüsieren. Sie, meine Gnädige, haben alles getan; Sie haben ihnen den Ball eröffnet; nun, so überlassen Sie denn jetzt die Leute sich selbst ... Und auch Andrei Antonowitsch scheint sich nicht voll-stän-dig wohl zu fühlen ... Daß nur nicht noch ein Malheur passiert!«

Aber es war schon zu spät.

Andrei Antonowitsch hatte während der ganzen Quadrille den Tanzenden mit einer Art von zornigem Erstaunen zugesehen; aber als nun die lauten Bemerkungen im Publikum anfingen, begann er unruhig um sich zu blicken. Da fielen ihm zum erstenmal einige Persönlichkeiten aus dem Büfettzimmer in die Augen, und sein Blick drückte die größte Verwunderung aus. Plötzlich erscholl ein lautes Gelächter über ein Kunststück in der Quadrille; der Herausgeber des »nicht in Petersburg erscheinenden Revolverjournals«, der mit dem Knittel in der Hand tanzte, fühlte endlich, daß er die auf ihn gerichteten Brillengläser des »ehrenhaften russischen Gedankens« nicht länger ertragen konnte, und da er nicht wußte, wo er vor seinem Visavis bleiben sollte, ging er in der letzten Tanzfigur diesem plötzlich auf den Händen mit den Beinen nach oben entgegen, was (wie ich anmerke) das beständige Auf-den-Kopf-Stellen des gesunden Menschenverstandes in dem »nicht in Petersburg erscheinenden Revolverjournal« versinnbildlichen sollte. Da nur Ljamschin auf den Händen zu gehen verstand, so hatte er es übernommen, den Herausgeber mit dem Knittel darzustellen. Julija Michailowna wußte absolut nichts davon, daß da auf den Händen gegangen werden würde. »Das hatte man mir verheimlicht, das hatte man mir verheimlicht,« sagte sie später ganz verzweifelt und entrüstet zu mir. Das Gelächter der Menge galt natürlich nicht dem allegorischen Sinne, um den sich niemand kümmerte, sondern einfach dem Gehen auf den Händen in einem Frack mit Schößen. Lembke kochte vor Wut und zitterte am ganzen Leibe.

»Taugenichts!« schrie er, auf Ljamschin zeigend. »Man fasse den Schurken und drehe ihn um ... um, drehe ihn mit den Beinen um ... mit dem Kopf ... der Kopf soll oben sein ... oben!«

Ljamschin sprang auf die Füße. Das Gelächter wurde noch stärker.

»Man jage alle Schurken, die da lachen, hinaus!« befahl Lembke plötzlich.

Die Menge murrte und lachte.

»Das geht nicht, Exzellenz.«

»Das Publikum darf man nicht schimpfen.«

»Selbst ein Narr!« erscholl eine Stimme aus irgendeiner Ecke.

»Die Flibustier!« rief jemand von einem andern Ende her.

Lembke drehte sich auf diesen Ruf schnell um und wurde ganz blaß. Ein stumpfsinniges Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen, wie wenn er auf einmal etwas begriffe und sich an etwas erinnerte.

»Meine Herren,« wandte sich Julija Michailowna an die herandrängende Menge, indem sie gleichzeitig ihren Mann hinter sich herzog, »meine Herren, entschuldigen Sie Andrei Antonowitsch; er ist nicht wohl ... entschuldigen Sie ... verzeihen Sie ihm, meine Herren!«

Ich hörte genau, daß sie sagte: »Verzeihen Sie.« Die Szene spielte sich sehr schnell ab. Aber ich erinnere mich bestimmt, daß ein Teil des Publikums in diesem Augenblicke schon aus dem Saale hinausstrebte, anscheinend erschrocken, namentlich nach diesen Worten Julija Michailownas. Ich erinnere mich sogar, daß eine Frauenstimme, von Tränen fast erstickt, krampfhaft schrie:

»Ach, wieder wie am Vormittag!«

Und plötzlich schlug in dieses schon beginnende Gedränge wieder eine Bombe ein, gerade »wieder wie am Vormittag.«

»Feuer! Die ganze jenseitige Stadt brennt!«

Ich erinnere mich nur nicht, wo dieser schreckliche Ruf zuerst erscholl: ob in den Sälen, oder ob jemand, wie es scheint, mit diesem Rufe von der Treppe und aus dem Vorzimmer hereingelaufen kam; aber unmittelbar darauf trat ein solcher Wirrwarr ein, daß ich es nicht unternehme, ihn zu schildern. Mehr als die Hälfte des auf dem Balle anwesenden Publikums war aus dem jenseitigen Stadtteile und besaß dort Holzhäuser oder wohnte in solchen zur Miete. Sie stürzten zu den Fenstern; im Nu waren die Gardinen auseinandergezogen, die Rouleaus zerrissen. Der jenseitige Stadtteil brannte. Allerdings war die Feuersbrunst erst im Entstehen; aber es brannte an drei ganz verschiedenen Stellen; gerade das war es, was Schrecken erregte.

»Brandstiftung! Die Schpigulinschen!« wurde in der Menge gerufen.

Ich erinnere mich an einige sehr charakteristische Ausrufe.

»Das habe ich doch geahnt, daß sie Feuer anlegen werden; all diese Tage her habe ich es geahnt!«

»Die Schpigulinschen die Schpigulinschen; kein anderer!«

»Man hat uns hier absichtlich versammelt, um dort Feuer anzulegen!«

Dieser letzte, wunderlichste, unwillkürliche Ausruf rührte von einer Frau her, die ihr Haus ebenfalls gefährdet wußte. Alles strömte dem Ausgange zu. Ich versuche nicht zu schildern, welches Gedränge im Vorzimmer beim Suchen nach den Pelzen, Tüchern und Pelerinen herrschte, wie erschrockene Frauen kreischten und junge Mädchen weinten. Diebstähle sind wohl kaum vorgekommen; aber es ist kein Wunder, daß bei solcher Unordnung manche Leute ohne ihre warmen Überkleider wegfuhren, da sie das Ihrige nicht hatten finden können; darüber kursierten nachher in der Stadt viele Erzählungen mit legendenhaften Ausschmückungen. Lembke und Julija Michailowna wurden von der Menge in der Tür beinahe erdrückt.

»Alle zurückhalten! Niemanden hinauslassen!« schrie Lembke und streckte den Drängenden drohend die Hand entgegen. »Alle sollen Mann für Mann aufs strengste visitiert werden, sofort!«

Aus dem Saale antwortete ein Hagel kräftiger Schimpfworte.

»Andrei Antonowitsch! Andrei Antonowitsch!« rief Julija Michailowna in heller Verzweiflung.

»Die soll zuerst verhaftet werden!« schrie dieser und wies drohend mit dem Finger auf sie. »Die soll zuerst visitiert werden. Der Ball ist zum Zwecke der Brandstiftung arrangiert worden ...«

Sie schrie auf und fiel in Ohnmacht (oh, natürlich in eine wirkliche Ohnmacht). Ich, der Fürst und der General stürzten zu ihr hin, um ihr zu helfen; es fanden sich auch andere, die uns in diesem schweren Augenblicke beistanden, sogar einige Damen. Wir trugen die Unglückliche aus dieser Hölle hinaus und setzten sie in ihren Wagen; aber erst als wir bei ihrem Hause vorfuhren, kam sie zur Besinnung, und ihr erster Schrei betraf wieder Andrei Antonowitsch. Nach der Zerstörung all ihrer Phantasiegebilde stand nur noch Andrei Antonowitschs Gestalt vor ihrem geistigen Blicke. Wir schickten zu einem Arzte. Ich wartete bei ihr eine ganze Stunde lang, desgleichen der Fürst; der General wollte in einem Anfall hochherziger Gesinnung (obwohl er selbst einen großen Schreck bekommen hatte) die ganze Nacht nicht »von dem Bette der Unglücklichen« weggehen; aber nach zehn Minuten schlief er, noch ehe der Arzt gekommen war, im Saale auf einem Lehnstuhle sitzend ein; da ließen wir ihn denn auch.

Dem Polizeimeister, der sofort den Ball verließ, um zum Feuer zu eilen, gelang es, Andrei Antonowitsch hinter uns her hinauszuführen, und er wollte ihn veranlassen, zu Julija Michailowna in die Kutsche zu steigen, indem er Seiner Exzellenz aus aller Kraft zuredete, sich doch zu beruhigen. Aber ich begreife nicht, warum er nicht auf diesem Verlangen bestand. Allerdings wollte Andrei Antonowitsch nichts von Ruhe hören, sondern wollte mit Gewalt zum Feuer; aber das hätte kein Grund sein dürfen. Schließlich nahm ihn der Polizeimeister in seinem eigenen Wägelchen mit zum Feuer. Später erzählte er, Lembke habe während der ganzen Fahrt gestikuliert und schreiend ganz absonderliche, unausführbare Ideen vorgebracht. In der Folge lautete denn auch die amtliche Darstellung, Seine Exzellenz habe zu jener Zeit »infolge des plötzlichen Schrecks« bereits ein Nervenfieber gehabt.

Ich brauche nicht erst zu erzählen, wie der Ball endete. Ein paar Dutzend Strolche und mit ihnen sogar einige Damen waren in den Sälen zurückgeblieben. Polizei war keine mehr da. Die Musik ließ man nicht weg; die Musikanten, die fortgehen wollten, wurden geprügelt. Bis zum Morgen wurden dem Koche Prochorytsch seine sämtlichen Vorräte weggenommen; man trank bis zur Bewußtlosigkeit, tanzte den Kamarinski ohne Zensur, besudelte die Zimmer, und erst bei Tagesgrauen eilte ein Teil dieser Bande völlig betrunken zur Brandstätte, um dort neuen Unfug zu treiben. Die andere Hälfte übernachtete in den Sälen, in sinnlos betrunkenem Zustande mit allen Folgen desselben, auf den Samtsofas und auf dem Fußboden. Am Morgen, so bald es irgend möglich war, zog man sie an den Beinen auf die Straße hinaus. So endete das Fest zum Besten der Gouvernanten unseres Gouvernements.

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