II.


Hier wurde ich Zeuge einer aufregenden Szene: die arme Frau wurde, ihr gerade ins Gesicht, belogen und betrogen, und ich konnte nichts dabei tun. In der Tat, was konnte ich ihr sagen? Ich war schon einigermaßen zur Besinnung gekommen und zu der Anschauung gelangt, daß ich nur gewisse Empfindungen und argwöhnische Vermutungen hätte, aber weiter nichts. Ich fand sie in Tränen, beinah in Krämpfen; sie befeuchtete sich das Angesicht mit Eau de Cologne und trank ab und zu Wasser aus einem Glase. Vor ihr stand Peter Stepanowitsch, der ohne Unterbrechung redete, und der Fürst, welcher schwieg, als ob er ein Schloß vor dem Munde hätte. Mit Tränen und Geschrei machte sie Peter Stepanowitsch Vorwürfe wegen seiner »Abtrünnigkeit«. Von vorn herein überraschte es mich, daß sie den ganzen Mißerfolg, den ganzen schmählichen Verlauf dieses Vormittages, mit einem Worte alles einzig und allein darauf zurückführte, daß Peter Stepanowitsch nicht dabei gewesen war.

An ihm selbst bemerkte ich eine wichtige Veränderung: er war anscheinend über irgend etwas sehr in Sorge, ja er war beinah ernst. Gewöhnlich sah er nie ernst aus; er lachte immer, sogar wenn er ärgerlich war, und er war oft ärgerlich. Oh, er war auch jetzt ärgerlich und redete grob, nachlässig, mürrisch und ungeduldig. Er versicherte, er habe in der Wohnung Gaganows, den er zufällig früh morgens besucht habe, Kopfschmerzen und Erbrechen bekommen. Leider hatte die arme Frau die größte Lust, sich noch weiter betrügen zu lassen! Die wichtigste Frage, die bei meiner Ankunft verhandelt wurde, war, ob der Ball, das heißt die ganze zweite Hälfte des Festes, stattfinden solle oder nicht. Julija Michailowna erklärte, sie werde »nach den Beleidigungen von vorhin« um keinen Preis auf dem Balle erscheinen; mit andern Worten, sie wünschte dringend, dazu gezwungen zu werden, und zwar gerade von ihm, von Peter Stepanowitsch. Sie betrachtete ihn wie ein Orakel und würde sich, wenn er sogleich weggegangen wäre, ins Bett gelegt haben. Aber er wollte gar nicht weggehen: er selbst wollte durchaus, daß der Ball heute stattfände und Julija Michailowna unbedingt auf ihm erschiene.

»Na, was ist da zu weinen? Müssen Sie denn durchaus eine Szene machen und an jemandem Ihren Ärger auslassen? Na, lassen Sie ihn immerhin an mir aus, aber recht schnell; denn die Zeit vergeht, und wir müssen zu einem Entschlusse kommen. Haben wir mit der Vorlesung Pech gehabt, so wollen wir es mit dem Balle wieder wettmachen. Da, der Fürst ist derselben Meinung. Ja, wenn der Fürst nicht dagewesen wäre, wie wäre die Sache dann erst abgelaufen?«

Der Fürst war anfänglich gegen den Ball (das heißt gegen Julija Michailownas Erscheinen auf dem Balle; der Ball selbst mußte in jedem Falle stattfinden); aber nach zwei oder drei solchen Berufungen auf seine Meinung fing er allmählich an zum Zeichen der Zustimmung zu brummen.

In Erstaunen versetzte mich auch Peter Stepanowitschs ganz ungewöhnlich unhöflicher Ton. Oh, mit Entrüstung weise ich das nachher verbreitete gemeine Geklätsch zurück, als ob Julija Michailowna mit Peter Stepanowitsch irgendwelches Verhältnis gehabt habe. Es hat nichts Derartiges bestanden, und es konnte auch gar nichts Derartiges bestehen. Er hatte nur dadurch eine so große Macht über sie erlangt, daß er ihr gleich von Anfang an bei ihren phantastischen Hoffnungen, auf die Gesellschaft und auf das Ministerium Einfluß zu gewinnen, aus aller Kraft zugestimmt hatte, auf ihre Pläne eingegangen war, ihr solche selbst entworfen, die gröbste Schmeichelei bei ihr zur Anwendung gebracht, sie vom Kopf bis zu den Füßen umstrickt hatte und ihr so notwendig geworden war wie die Luft. Als sie mich erblickte, rief sie mit funkelnden Augen:

»Da, fragen Sie ihn! Er ist ebenfalls, gerade wie der Fürst, die ganze Zeit über nicht von meiner Seite gewichen. Sagen Sie, ist es nicht deutlich, daß das alles ein Komplott ist, ein gemeines, schlaues Komplott, um mir und Andrei Antonowitsch alles mögliche Böse anzutun? Oh, sie haben sich verschworen! Sie hatten einen bestimmten Plan. Das ist eine geschlossene Partei, eine ganze Partei!«

»Sie gehen zu weit, wie immer. Sie haben stets Phantasiegebilde im Kopfe. Ich freue mich übrigens über die Anwesenheit dieses Herrn« (er tat, als hätte er meinen Namen vergessen); »er wird Ihnen seine Ansicht sagen.«

»Meine Ansicht«, beeilte ich mich zu erwidern, »stimmt in allen Punkten mit Julija Michailownas Ansicht überein. Daß ein Komplott vorliegt, ist klar. Ich habe Ihnen diese Bänder zurückgebracht, Julija Michailowna. Ob der Ball stattfindet oder nicht, das ist natürlich nicht meine Sache, da ich darüber nichts zu sagen habe; aber meine Rolle als Festordner ist beendet. Verzeihen Sie meine Heftigkeit; aber ich kann nicht gegen die gesunde Vernunft und gegen meine Überzeugung handeln.«

»Hören Sie, hören Sie!« rief sie und schlug die Hände zusammen.

»Ich höre,« versetzte er. »Und nun ein Wort zu Ihnen,« wandte er sich an mich. »Ich glaube, Sie haben alle irgendein Tollkraut gegessen, von dem Sie so irrereden. Meiner Ansicht nach hat sich nichts zugetragen, absolut nichts, was nicht auch früher schon passiert wäre, und was nicht immer in dieser Stadt passieren könnte. Was für ein Komplott soll denn stattgefunden haben? Es ist ein häßlicher, schmählich dummer Vorfall gewesen; aber wo ist da ein Komplott zu finden? Und ein Komplott gegen Julija Michailowna, die doch gerade diese Menschen verzogen und patronisiert und ihnen all ihre leichtfertigen Streiche unverdientermaßen verziehen hat? Julija Michailowna! Was habe ich Ihnen einen ganzen Monat lang unaufhörlich wiederholt? Wovor habe ich Sie gewarnt? Wozu in aller Welt hatten Sie denn dieses ganze Pack nötig? Mußten Sie sich denn mit diesen gemeinen Menschen liieren? Um eine Vereinigung der Gesellschaft herbeizuführen? Die werden auch gerade eine Vereinigung eingehen; ich bitte Sie!«

»Wann hätten Sie mich gewarnt? Im Gegenteil, Sie haben es gebilligt; Sie haben es geradezu verlangt ... Ich muß gestehen, ich bin im höchsten Grade erstaunt ... Sie selbst haben mir viele seltsame Leute zugeführt.«

»Nein, ich habe mich mit Ihnen darüber gestritten und es nicht gebilligt; was aber das Zuführen anlangt, so ist es richtig, daß ich Ihnen welche zugeführt habe, aber erst als sie schon von selbst sich dutzendweise herandrängten, und erst in der letzten Zeit, um die literarische Quadrille zustande zu bringen; denn dabei kann man diesen Pöbel nicht entbehren. Aber ich möchte darauf wetten: heute haben diese Kerle noch ein Dutzend ebensolchen Gesindels ohne Billette mitgebracht!«

»Zweifellos!« stimmte ich ihm bei.

»Sehen Sie wohl, Sie sind schon meiner Ansicht. Erinnern Sie sich wohl, was hier in der letzten Zeit für ein Ton geherrscht hat, ich meine in der ganzen Stadt? Überall nichts als Frechheit und Schamlosigkeit; unaufhörlich wurden Skandalgeschichten ausposaunt. Und wer ermutigte dieses Treiben? Wer deckte es durch seine Autorität? Wer hat sie alle aus Rand und Band gebracht? Wer hat die ganze untere Volksklasse vor den Kopf gestoßen? In Ihrem Album sind ja alle hiesigen Familiengeheimnisse reproduziert. Haben Sie nicht Ihren Dichtern und Zeichnern den Kopf gestreichelt? Haben Sie nicht diesem Ljamschin Ihre Hand zum Küssen gereicht? Hat nicht in Ihrer Gegenwart der Seminarist den Wirklichen Staatsrat ausgeschimpft und seiner Tochter mit seinen Teerstiefeln das Kleid verdorben? Wie können Sie sich da darüber wundern, daß das Publikum unfreundlich gegen Sie gesinnt ist?«

»Aber das ist doch alles Ihr eigenes Werk! O mein Gott!«

»Nein, ich habe Sie gewarnt; wir haben uns gestritten, hören Sie wohl? Wir haben uns gestritten!«

»Sie lügen mir ja ins Gesicht!«

»Na, das können Sie allerdings leicht sagen. Sie brauchen jetzt ein Opfer, an dem Sie Ihren Ärger auslassen können; na gut, lassen Sie ihn an mir aus; ich habe es schon einmal gesagt. Ich will mich lieber an Sie wenden, mein Herr ...« (Er konnte sich gar nicht auf meinen Namen besinnen.) »Lassen Sie uns an den Fingern abzählen: ich behaupte, daß es außer Liputin keinen Verschwörer gegeben hat, ab-so-lut keinen! Das werde ich beweisen; aber sehen wir uns zunächst einmal diesen Liputin genauer an! Er hat ein Gedicht des Narren Lebjadkin vorgebracht, – ist das nun also Ihrer Ansicht nach ein Komplott? Wissen Sie, Liputin hat das möglicherweise einfach für einen Witz gehalten. Im Ernst, im Ernst, für einen Witz Er hat das einfach in der Absicht vorgebracht, alle zu erheitern und zum Lachen zu bringen, und in erster Linie seine Gönnerin Julija Michailowna; das ist die ganze Geschichte. Glauben Sie das nicht? Na, war das denn etwa nicht in ganz demselben Tone, der hier einen ganzen Monat lang geherrscht hat? Und mit Ihrer Erlaubnis möchte ich sagen: weiß Gott, unter anderen Umständen hätte das auch vorkommen können! Der Scherz war plump, na ja, von starkem Kaliber, zugegeben, aber doch immerhin lächerlich.«

»Wie? Sie halten Liputins Benehmen für witzig?« rief Julija Michailowna in heftiger Entrüstung. »Diese Dummheit, diese Taktlosigkeit, diese schändliche Gemeinheit, dieses Attentat? Oh, Sie reden absichtlich so! Danach muß man annehmen, daß Sie selbst mit diesem Menschen im Komplott sind!«

»Unzweifelhaft; ich habe im Hintergrunde gesessen, mich versteckt gehalten und die ganze Maschinerie in Bewegung gesetzt. Aber wenn ich an einem Komplott beteiligt gewesen wäre, dann würde (das sollten Sie begreifen) die Sache mit der Liputinschen Geschichte allein nicht zu Ende gewesen sein! Also Ihrer Ansicht nach habe ich mit meinem Papa ein Komplott gemacht, damit er absichtlich einen solchen Skandal hervorrufen sollte? Na, wer ist denn schuld daran, daß Papachen eine Vorlesung halten durfte? Wer hat Sie gestern davon zurückzuhalten gesucht, noch gestern, noch gestern?«

»Oh, hier il avait tant d'esprit ich rechnete so auf ihn; und dabei besitzt er gute Manieren: ich dachte, der und Karmasinow ... und nun!«

»Ja, und nun! Aber trotz tant d'esprit hat Papachen die Sache verdorben; wenn ich aber selbst voraus wußte, daß er die Sache verderben würde, hätte ich dann als Mitglied eines unzweifelhaft gegen Ihr Fest gerichteten Komplotts Ihnen gestern davon abgeredet, den Bock zum Gärtner zu machen? Nun aber habe ich Ihnen gestern davon abgeredet, habe Ihnen davon abgeredet, weil ich eine Ahnung hatte. Alles vorherzusehen war natürlich unmöglich: wahrscheinlich hat nicht einmal er selbst eine Minute vorher gewußt, wie er losschießen werde. Diese nervösen alten Herren haben ja gar keine Ähnlichkeit mit anderen Menschen. Aber die Sache läßt sich noch retten: schicken Sie gleich morgen zur Genugtuung des Publikums mittels administrativer Anordnung und mit aller schuldigen Rücksicht zwei Ärzte zu ihm, um seinen Gesundheitszustand festzustellen; es würde sogar heute schon gehen; und dann geradeswegs in eine Kaltwasserheilanstalt mit ihm! Wenigstens werden alle lachen und einsehen, daß sie keinen Grund haben, sich für beleidigt zu halten. Ich werde davon gleich heute auf dem Balle in meiner Eigenschaft als sein Sohn Mitteilung machen. Mit Karmasinow ist es eine andere Sache; der ist als grüner Esel aufgetreten und hat das Publikum mit seinem Opus eine ganze Stunde gelangweilt, – der ist also ohne Zweifel mit mir im Komplott! Er hat gewiß zu mir gesagt: ›Erlauben Sie, daß ich ebenfalls das Fest verderbe, um Julija Michailowna zu schaden!‹«

»Oh, Karmasinow, quelle honte! Ich wollte in den Boden sinken vor Scham über unser Publikum!«

»Na, ich wäre nicht in den Boden gesunken, sondern hätte mir Herrn Karmasinow selbst gehörig vorgenommen. Das Publikum hatte ja ganz recht. Und wer ist nun wieder an Karmasinow schuld? Habe ich ihn Ihnen ans Kleid gehängt? Habe ich mich an seiner Vergötterung beteiligt? Na, hol ihn der Teufel, aber der dritte, der politisierende Schauspieler, na, mit dem ist es etwas anderes. Dabei haben wir alle einen Bock geschossen und nicht nur mein Verschwörerbund!«

»Ach, reden Sie nicht davon; das ist ja schrecklich, ganz schrecklich! An dem bin ich allein schuld!«

»Gewiß, aber hier habe ich für Sie eine Entschuldigung in Bereitschaft. Wer in aller Welt soll sie genau kennen, diese ›Aufrichtigen‹? Selbst in Petersburg kann man sich nicht vor ihnen hüten. Er war Ihnen ja doch empfohlen, und noch dazu wie! Geben Sie also selbst zu, daß Sie jetzt sogar verpflichtet sind, auf dem Balle zu erscheinen. Denn das ist doch eine ernste Sache, daß Sie ihn selbst auf das Katheder geführt haben. Sie müssen jetzt öffentlich erklären, daß Sie mit ihm nicht solidarisch sind, daß der dreiste Mensch sich schon in den Händen der Polizei befindet, und daß Sie auf eine unbegreifliche Weise getäuscht worden sind. Sie müssen mit Entrüstung erklären, daß Sie das Opfer eines Verrückten geworden sind. Denn ein Verrückter ist er ja, weiter nichts. In diesem Sinne muß auch über ihn nach oben berichtet werden. Ich kann diese bissigen Kerle nicht ausstehen. Ich äußere mich ja selbst vielleicht noch ärger, aber doch nicht vom Katheder herab. Und gerade jetzt machen die Leute ein Gerede von einem Senator.«

»Von was für einem Senator? Wer macht Gerede?«

»Sehen Sie, ich selbst begreife nichts davon. Ist Ihnen, Julija Michailowna, nichts von einem Senator bekannt geworden?«

»Von einem Senator?«

»Sehen Sie, die Leute sind davon überzeugt, daß in Petersburg bereits ein Senator dazu designiert ist, Sie hier abzulösen. Ich habe es von vielen gehört.«

»Ich habe es auch gehört,« bemerkte ich bestätigend.

»Wer hat das gesagt?« rief Julija Michailowna, die dunkelrot geworden war.

»Sie meinen, wer es zuerst gesagt hat? Woher soll ich das wissen? Es wird nun eben so geredet. Die ganze Einwohnerschaft redet es. Namentlich gestern wurde es gesagt. Alle waren dabei ganz ernst, obgleich man daraus nicht recht klug werden kann. Freilich, die Verständigeren, Sachkundigeren reden dabei nicht mit; aber auch von denen hören manche zu.«

»Was für eine Gemeinheit! Und – was für eine Dummheit!«

»Na, eben deswegen müssen Sie auf dem Balle erscheinen, um es diesen Dummköpfen zu zeigen.«

»Ich muß gestehen, ich habe selbst die Empfindung, daß ich dazu sogar verpflichtet bin; aber ... wie, wenn ein anderer Schimpf meiner wartet? Wie nun, wenn die Leute nicht kommen? Und es wird ja niemand kommen, niemand, niemand!«

»Unnötige Sorge! Die werden nicht kommen? Und die Kleider, die sie sich haben machen lassen, und die Toiletten der jungen Mädchen? Wenn Sie so reden, kann ich Sie gar nicht mehr für eine Frau halten. Ist das eine Menschenkenntnis!«

»Die Frau Adelsmarschall wird nicht da sein; sie wird bestimmt nicht da sein!«

»Aber was ist denn im Grunde passiert, weswegen man wegbleiben sollte?« rief er endlich ärgerlich und ungeduldig.

»Eine Blamage, eine Schande, – das ist passiert! Was eigentlich passiert ist, weiß ich nicht genau; aber jedenfalls war es etwas Derartiges, daß ich nun unmöglich hingehen kann.«

»Warum nicht? Was können Sie denn schließlich dafür? Warum nehmen Sie die Schuld auf sich? Ist nicht weit eher das Publikum schuld, die alten Herren, die Familienväter? Die mußten die Taugenichtse und Herumtreiber im Zaume halten; denn um Taugenichtse und Herumtreiber handelt es sich dabei einzig und allein, nicht um irgendwelche ernst zu nehmenden Elemente. In keiner Gesellschaft und nirgends läßt sich lediglich durch die Polizei zurechtkommen. Aber bei uns verlangt jeder, wenn er hereinkommt, daß hinter ihm ein besonderer Polizist aufgestellt wird, um ihn zu behüten. Die Leute begreifen nicht, daß die Gesellschaft sich selbst beschützen muß. Aber was tun bei uns die Familienväter, die Würdenträger, die Frauen und Mädchen in solchen Fällen? Sie schweigen und fühlen sich gekränkt. Nicht einmal dazu reicht die Willenskraft der Gesellschaft aus, solche Schlingel im Zaum zu halten.«

»Ach wie wahr, wie wahr! Sie schweigen, fühlen sich gekränkt und sehen sich um.«

»Wenn das aber wahr ist, dann müssen Sie es auch dort aussprechen, laut, stolz und streng. Sie müssen gerade zeigen, daß Sie nicht geschlagen sind. Gerade diesen alten Herren und den Müttern. Oh, Sie verstehen sich darauf, Sie haben Talent dazu, wenn Ihr Kopf klar ist. Sie werden alle um sich herumgruppieren und dann laut, ganz laut reden. Und dann schicken wir eine Korrespondenz an den Golos und die Börsennachrichten.1 Warten Sie, ich werde mich selbst an die Arbeit machen und Ihnen alles arrangieren. Natürlich wird erhöhte Aufmerksamkeit vonnöten sein; wir werden das Büfett beobachten müssen; wir müssen den Fürsten bitten und diesen Herrn hier ... Sie dürfen uns nicht im Stich lassen, monsieur, jetzt, wo alles eigentlich von neuem beginnen soll. Na, und zuletzt erscheinen Sie an Andrei Antonowitschs Arm. Wie steht es mit Andrei Antonowitschs Befinden?«

»O wie ungerecht, wie falsch, wie beleidigend haben Sie immer über diesen engelhaften Menschen geurteilt!« rief Julija Michailowna plötzlich in einem unerwarteten Ausbruch ihrer Empfindungen; sie brach beinahe in Tränen aus und führte das Taschentuch an die Augen.

Peter Stepanowitsch konnte im ersten Augenblick nur stottern:

»Ich bitte Sie, ich ...aber wieso denn ... ich habe immer ...«

»Nein, niemals, niemals! Sie haben ihm niemals Gerechtigkeit widerfahren lassen!«

»Aus einer Frau kann man doch nie klug werden!« brummte Peter Stepanowitsch mit einem schiefen Lächeln.

»Er ist der redlichste, zartfühlendste, engelhafteste Mensch! Der beste Mensch!«

»Aber ich bitte Sie, was seine Herzensgüte anlangt ... ich habe seine Herzensgüte immer anerkannt ...«

»Niemals! Aber lassen wir das! Ich habe ihn früher immer nur in sehr ungeschickter Weise in Schutz genommen. Vorhin hat diese Jesuitin, die Frau Adelsmarschall, ebenfalls ein paar spöttische Bemerkungen über die Geschichte von gestern fallen lassen.«

»Oh, jetzt wird sie keine Lust mehr haben, Bemerkungen über gestrige Geschehnisse zu machen; sie hat heute ihr eigenes Erlebnis. Und warum beunruhigen Sie sich so darüber, daß sie nicht auf den Ball kommen wird? Kommen wird sie allerdings nicht, nachdem sie in eine solche Skandalgeschichte hineingeraten ist. Vielleicht trägt sie dabei keine Schuld; aber für ihren Ruf ist es doch sehr nachteilig; sie hat eben schmutzige Hände bekommen.«

»Was bedeutet das? Ich verstehe das nicht. Wieso hat sie schmutzige Hände bekommen?« fragte Julija Michailowna, ihn erstaunt anblickend.

»Das heißt, ich behaupte es nicht; aber in der Stadt sagt man allgemein, sie habe die beiden zusammengebracht.«

»Was bedeutet das? Wen zusammengebracht?«

»Aber wissen Sie denn etwa noch nichts davon?« rief er mit vorzüglich fingiertem Erstaunen. »Nun, Stawrogin und Lisaweta Nikolajewna!«

»Wie? Was?« riefen wir beide.

»Aber wissen Sie es wirklich nicht? Hui! Da hat sich ein tragischer Roman abgespielt: Lisaweta Nikolajewna ist aus dem Wagen der Frau Adelsmarschall direkt in Stawrogins Kutsche umgestiegen und mit diesem Letzteren nach Skworeschniki gefahren, am hellen Tage. Erst vor einer Stunde; es ist noch nicht einmal eine Stunde her.«

Wir waren starr. Selbstverständlich bestürmten wir ihn mit weiteren Fragen; aber obgleich er selbst »zufällig« Zeuge des Vorganges gewesen war, konnte er doch zu unserer Verwunderung nichts Genaueres darüber erzählen. Die Sache hatte sich angeblich folgendermaßen zugetragen: als die Frau Adelsmarschall nach der Vorlesung Lisa und Mawriki Nikolajewitsch in ihrem Wagen zu dem Hause von Lisas noch immer fußkranker Mutter gebracht hatte, da hatte nicht weit von der Haustür, etwa fünfundzwanzig Schritte entfernt, seitwärts ein anderer Wagen gewartet. Sobald Lisa an der Haustür hinausgesprungen war, war sie geradeswegs zu diesem Wagen hingelaufen; der Schlag war geöffnet und dann wieder zugeschlagen worden; Lisa hatte Mawriki Nikolajewitsch zugerufen: »Kümmern Sie sich nicht um mich!« und der Wagen war im schnellsten Tempo nach Skworeschniki gefahren. Auf unsere hastigen Fragen, ob eine Verabredung vorgelegen habe, und wer in dem Wagen gesessen habe, antwortete Peter Stepanowitsch, er wisse das nicht; eine Verabredung habe gewiß vorgelegen; aber Stawrogin selbst habe er im Wagen nicht bemerkt; vielleicht habe dessen Kammerdiener, der alte Alexei Jegorowitsch, darin gesessen. Auf die Fragen: »Wie kam es denn, daß Sie gerade dabei waren? Und woher wissen Sie denn so bestimmt, daß sie nach Skworeschniki gefahren ist?« antwortete er, er sei dort zufällig vorbeigekommen und, als er Lisa erblickt habe, sogar an den Wagen herangelaufen (und doch hatte er nicht bemerkt, wer in dem Wagen saß, er bei seiner Neugier!); aber Mawriki Nikolajewitsch habe nicht nur keine Verfolgung unternommen, sondern nicht einmal versucht, Lisa zurückzuhalten; ja er habe sogar der Frau Adelsmarschall, die aus voller Kehle geschrien habe: »Sie will zu Stawrogin, sie will zu Stawrogin!« mit der Hand den Mund zugehalten. Hier verlor ich plötzlich die Geduld und schrie Peter Stepanowitsch wütend an:

»Das haben Sie Taugenichts alles angestiftet! Darauf haben Sie den Vormittag verwendet! Sie haben Stawrogin geholfen; Sie sind in dem Wagen hingefahren; Sie haben sie einsteigen lassen, Sie Sie, Sie! Julija Michailowna, dieser Mensch ist Ihr Feind; er wird auch Sie zugrunde richten! Nehmen Sie sich vor ihm in acht!«

Und ich lief Hals über Kopf aus dem Hause.

Ich verstehe bis jetzt noch nicht und wundere mich selber darüber, wie ich ihm dies damals habe zuschreien können. Aber ich hatte ganz richtig geraten: alles war fast genau so zugegangen, wie ich es zu ihm gesagt hatte; das hat sich in der Folge herausgestellt. Sehr auffällig war vor allen Dingen die offenbar gekünstelte Manier, in der er uns die Nachricht mitteilte. Er erzählte sie uns nicht sofort, nachdem er ins Haus gekommen war, als erste, außerordentliche Neuigkeit, sondern tat, als glaube er, daß wir es schon ohne ihn wüßten, was doch in so kurzer Zeit unmöglich war. Und wenn wir es gewußt hätten, so hätten wir nicht davon schweigen können, bis er darüber zu reden anfing. Auch hatte er nicht hören können, was in der Stadt bereits über die Frau Adelsmarschall »allgemein gesagt« wurde, wiederum wegen der Kürze der Zeit. Außerdem lächelte er beim Erzählen ein paarmal in einer gemeinen, leichtfertigen Art, wahrscheinlich weil er uns schon für völlig betrogene Dummköpfe hielt. Aber ich hatte keine Lust, weiter an ihn zu denken; den eigentlichen Kern seiner Mitteilung hielt ich für wahr und lief ganz außer mir von Julija Michailowna weg. Diese Katastrophe empfand ich wie einen tiefen Stich ins Herz. Vor seelischem Schmerze kamen mir fast die Tränen, und vielleicht habe ich sogar wirklich geweint. Ich wußte gar nicht, was ich unternehmen sollte. Ich eilte zu Stepan Trofimowitsch; aber ärgerlicherweise schloß er wieder seine Tür nicht auf. Nastasja versicherte mir in ehrfurchtsvollem Flüstertone, er habe sich schlafen gelegt; aber ich glaubte es nicht. In Lisas Hause gelang es mir, die Dienerschaft zu befragen; sie bestätigten die Flucht, wußten aber selbst weiter nichts. Im Hause herrschte Wirrwarr; die kranke gnädige Frau hatte Ohnmachtsanfälle bekommen, und Mawriki Nikolajewitsch befand sich bei ihr. Diesen herausrufen zu lassen erschien mir unmöglich. Über Peter Stepanowitsch wurde mir auf meine Fragen gesagt, er sei in der letzten Zeit täglich verstohlen im Hause erschienen, mitunter zweimal an einem Tage. Die Dienerschaft war betrübt und sprach von Lisa mit besonderem Respekt; sie hatten sie alle gern gehabt. Daß sie verloren war, vollständig verloren, daran zweifelte ich nicht; aber die psychologische Seite des Vorgangs war mir völlig unverständlich, namentlich nach der Szene, welche Lisa tags zuvor mit Stawrogin gehabt hatte. Durch die Stadt zu laufen und mich in den Häusern schadenfroher Bekannter zu erkundigen, wo sich die Nachricht jetzt natürlich verbreitete, das widerstrebte mir und schien mir auch entwürdigend für Lisa. Aber sonderbarerweise lief ich zu Darja Pawlowna, wo ich übrigens nicht empfangen wurde (im Stawroginschen Hause wurde seit dem vorhergehenden Tage niemand empfangen); ich weiß nicht, was ich ihr hätte sagen können, und warum ich zu ihr gelaufen war. Von ihr begab ich mich zu ihrem Bruder. Schatow hörte mich mürrisch und schweigend an. Ich bemerke, daß ich ihn in ungewöhnlich düsterer Stimmung getroffen hatte; er war sehr nachdenklich, und es schien ihn große Anstrengung zu kosten, mir zuzuhören. Er redete fast nichts und ging in seinem Zimmerchen auf und ab, von einer Ecke in die andere, wobei er stärker als sonst mit den Stiefeln aufstampfte. Als ich beim Weggehen schon auf der Treppe war, rief er mir nach, ich möchte zu Liputin herangehen: »Dort werden Sie alles erfahren.« Aber ich ging nicht zu Liputin heran, sondern kehrte, als ich schon ziemlich weit weg war, wieder zu Schatow zurück, öffnete die Tür halb und fragte ihn ohne einzutreten lakonisch und ohne alle Erklärungen, ob er heute zu Marja Timofejewna gehen werde. Darauf fing Schatow an zu schimpfen, und ich ging weg. Um es nicht zu vergessen, merke ich hier an, daß er noch an diesem Abend expreß nach dem Rande der Stadt zu Marja Timofejewna ging, die er seit ziemlich langer Zeit nicht gesehen hatte. Er fand sie den Umständen nach bei guter Gesundheit und in heiterer Stimmung; Lebjadkin aber war sinnlos betrunken und schlief auf dem Sofa im ersten Zimmer. Das war genau um neun Uhr gewesen. So berichtete er mir selbst gleich am folgenden Tage, als er mir eilig auf der Straße begegnete. Es war schon zwischen neun und zehn Uhr abends, als ich mich entschloß, auf den Ball zu gehen, aber nicht mehr in der Eigenschaft als Festordner (ich hatte auch meine Schleife bei Julija Michailowna gelassen), sondern aus unbezähmbarer Neugier, um ohne eigene Fragen zu hören, wie man bei uns in der Stadt über all diese Ereignisse rede. Auch wollte ich gern Julija Michailowna sehen, wenn auch nur von weitem. Ich machte mir starke Vorwürfe, daß ich vorher so formlos von ihr weggelaufen war.


Fußnoten


1 Petersburger Zeitungen, von denen namentlich der Golos eine entschieden liberale Richtung vertrat.

Anmerkung des Übersetzers.

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