Nikolai Wsewolodowitsch schlief in dieser Nacht nicht; während der ganzen Dauer derselben saß er auf dem Sofa und richtete oft einen starren Blick auf einen bestimmten Punkt in der Ecke bei der Kommode. Die ganze Nacht hindurch brannte bei ihm die Lampe. Gegen sieben Uhr morgens schlief er im Sitzen ein, und als Alexei Jegorowitsch nach dem ein für allemal eingeführten Brauche Punkt halb zehn mit der Tasse Morgenkaffee bei ihm eintrat und ihn durch sein Erscheinen weckte, schien er, als er die Augen öffnete, unangenehm davon überrascht zu sein, daß er so lange hatte schlafen können, und daß es schon so spät war. Schnell trank er seinen Kaffee, schnell zog er sich an und verließ eilig das Haus. Auf Alexei Jegorowitschs vorsichtige Frage, ob er keine Befehle für ihn habe, gab er keine Antwort. Auf der Straße ging er, zu Boden blickend, in tiefer Versunkenheit; nur ab und zu hob er für einen Augenblick den Kopf in die Höhe und zeigte dann plötzlich eine Art von unklarer, aber starker Unruhe. An einer Straßenkreuzung, noch nicht weit von seinem Hause, wurde ihm der Weg durch eine Schar von vorbeigehenden Bauern versperrt; es mochten etwa fünfzig oder mehr Menschen sein; sie gingen wohlanständig, fast schweigend, in absichtlich beobachteter guter Ordnung. Bei einem Laden, neben dem er einen Augenblick warten mußte, sagte jemand, das seien »Schpigulinsche Arbeiter«. Er beachtete sie kaum. Endlich, gegen halb elf, gelangte er zu dem Tore unseres Jefimjewski-Bogorodski-Klosters am Rande der Stadt, am Flusse. Erst da schien ihm etwas einzufallen, etwas Beunruhigendes, Unangenhmes; er blieb stehen, fühlte schnell nach etwas, was in seiner Seitentasche steckte, und – lächelte. Als er die Einfassungsmauer passiert hatte, fragte er den ersten Klosterdiener, der ihm begegnete, wie er zu dem hier im Ruhestande lebenden Bischof Tichon gelangen könne. Der Klosterdiener machte ihm viele Verbeugungen und übernahm es sofort, ihn hinzuführen. Bei einer kleinen Freitreppe am Ende des langen, zweistöckigen Klostergebäudes trat ihnen ein dicker, grauhaariger Mönch entgegen; dieser nahm den Besucher in gebieterischer und gewandter Manier dem Klosterdiener ab und führte ihn einen langen, schmalen Korridor entlang, ebenfalls unter steten Verbeugungen, obgleich er sich bei seiner Korpulenz nicht tief bücken konnte, sondern nur häufig und kurz mit dem Kopfe zuckte; während des Gehens lud er ihn fortwährend ein, gütigst weiter zu kommen, wiewohl Nikolai Wsewolodowitsch ihm auch ohnedies folgte. Der Mönch richtete einige Fragen an ihn und sprach von dem Vater Archimandriten; als er keine Antworten erhielt, wurde er immer noch respektvoller. Stawrogin merkte, daß man ihn hier kannte, obgleich er, soweit er sich erinnerte, nur in seiner Kindheit hier gewesen war. Als sie zu einer Tür ganz am Ende des Korridors gelangt waren, öffnete der Mönch sie, wie wenn er hier zu befehlen hätte, fragte den hinzuspringenden Novizen in familiärem Ton, ob der Eintritt gestattet sei, machte dann, ohne auch nur die Antwort abzuwarten, die Tür ganz auf und ließ unter Verbeugungen den »werten« Gast an sich vorbeipassieren; nachdem er dessen Dank empfangen hatte, verschwand er schnell, ordentlich laufartig. Nikolai Wsewolodowitsch betrat ein kleines Zimmer, und fast in demselben Augenblick erschien in der Tür des anstoßenden Zimmers ein hochgewachsener, hagerer Mann von ungefähr fünfundfünfzig Jahren in einer einfachen Haussoutane; er machte einen etwas kränklichen Eindruck; auf seinem Gesichte lag ein unbestimmtes Lächeln, und sein Blick hatte etwas Seltsames, wie Verlegenes. Das war eben jener Tichon, über welchen Nikolai Wsewolodowitsch zum ersten Male von Schatow etwas gehört und über den er seitdem auch selbst schon nebenbei nach Möglichkeit Nachrichten gesammelt hatte.
Diese Nachrichten waren verschiedenartig und einander widersprechend; aber sie hatten auch etwas Gemeinsames, nämlich dies, daß diejenigen, die Tichon liebten, und diejenigen, die ihn nicht liebten (es gab aber auch solche), sich alle über ihn möglichst schweigsam verhielten; diejenigen, die ihn nicht liebten, wahrscheinlich aus Geringschätzung, seine Anhänger aber und sogar seine glühendsten Anhänger aus einer Art von Diskretion, als ob sie etwas verheimlichen wollten, irgendeine Schwäche desselben, vielleicht, daß er ein religiöser Irrer sei. Nikolai Wsewolodowitsch hatte erfahren, daß er schon etwa sechs Jahre lang im Kloster lebe, und daß sowohl Leute aus dem niedersten Volke als auch Personen von vornehmster Lebensstellung zu ihm kämen; ja sogar in dem fernen Petersburg habe er glühende Verehrer und ganz besonders Verehrerinnen. Andererseits hatte er von einem Mitgliede unseres Klubs, einem sehr angesehenen alten Herrn, übrigens einem sehr frommen Herrn, auch eine solche Auskunft erhalten: dieser Tichon sei beinah verrückt und zweifellos ein Trinker. Ich füge meinerseits vorgreifend hinzu, daß das Letztere entschieden Unsinn war; Tichon litt nur an einem veralteten rheumatischen Übel in den Beinen und zeitweilig an nervösen Krämpfen. Nikolai Wsewolodowitsch hatte auch erfahren, daß dieser im Ruhestande lebende Bischof, sei es nun infolge seiner Charakterschwäche oder infolge »einer unverzeihlichen und seinem Range nicht anstehenden Zerstreutheit«, es nicht verstanden habe, im Kloster selbst einen besonderen Respekt vor sich zu erwecken. Man sagte, daß der Vater Archimandrit, ein finsterer, in bezug auf seine Aufseherpflichten strenger und überdies durch seine Gelehrsamkeit berühmter Mann, sogar eine feindselige Gesinnung gegen ihn hege und ihm (nicht ins Gesicht, aber anderen gegenüber) einen lässigen Lebenswandel und beinah Ketzerei vorwerfe. Die Klosterbrüderschaft aber benahm sich ebenfalls gegen den kranken hochwürdigen Herrn wenn auch nicht gerade geringschätzig, so doch sozusagen familiär. Die beiden Zimmer, aus denen Tichons Wohnung im Kloster bestand, waren gleichfalls etwas seltsam ausgestattet. Neben plumpen, altertümlichen Möbeln mit abgescheuerten Lederbezügen standen einige elegante Stücke: ein sehr kostbarer, bequemer Lehnstuhl, ein großer Schreibtisch von vorzüglicher Arbeit, ein elegant geschnitzter Bücherschrank, Tischchen, Etagèren, selbstverständlich lauter Geschenke. Auch ein wertvoller bucharischer Teppich lag da, neben ihm aber gewöhnliche Bastmatten. Es waren Stiche vorhanden, auf denen »weltliche« Sujets, auch aus dem mythologischen Zeitalter, dargestellt waren, zugleich aber in der Ecke ein großer Heiligenschrein mit Heiligenbildern, die von Gold und Silber glänzten, darunter ein aus sehr alter Zeit stammendes mit Reliquien. Auch die Bibliothek war, wie man sagte, gar zu buntscheckig und widerspruchsvoll zusammengesetzt: neben den Werken der großen Lehrer und Helden des Christentums fanden sich da »Theaterstücke und Romane, ja vielleicht sogar noch Ärgeres«.
Nach den ersten Begrüßungen, die aus nicht recht ersichtlichem Grunde von beiden Seiten in offenbarer Verlegenheit eilig und sogar unverständlich gesprochen wurden, führte Tichon den Besucher in sein Wohnzimmer und veranlaßte ihn, immer noch wie in Eile, auf dem Sofa Platz zu nehmen; er selbst setzte sich neben ihn auf einen Lehnstuhl mit Rohrgeflecht. Da verlor Nikolai Wsewolodowitsch in erstaunlicher Weise vollständig die Fassung. Er machte den Eindruck, als suche er sich aus aller Kraft zu etwas Außerordentlichem und unstreitig Richtigem, zugleich aber für ihn fast Unmöglichem zu entschließen. Er blickte etwa eine Minute lang im Zimmer umher, offenbar aber ohne daß er das, worauf er seine Augen richtete, gesehen hätte; er versank in Gedanken, aber vielleicht ohne zu wissen, woran er dachte. Das Stillschweigen brachte ihn zur Besinnung, und es kam ihm auf einmal so vor, als schlage Tichon die Augen beschämt zu Boden und lächle dabei in einer ganz unmotivierten Weise. Dies rief bei ihm augenblicklich Widerwillen und Entrüstung hervor; er wollte aufstehen und weggehen; seiner Meinung nach war Tichon entschieden betrunken. Aber dieser hob plötzlich die Augen in die Höhe und sah ihn mit einem so festen, gedankenvollen Blicke und zugleich mit einem so unerwarteten, rätselhaften Ausdruck an, daß er beinah zusammenfuhr. Und da kam er auf einmal zu einer ganz anderen Auffassung: Tichon wisse schon, warum er gekommen sei; er sei davon schon vorher benachrichtigt worden (obgleich auf der ganzen Welt niemand diesen Grund wissen konnte), und wenn er nicht selbst als erster das Gespräch beginne, so unterlasse er das nur aus Schonung für ihn, um ihn nicht zu demütigen.
»Sie kennen mich?« fragte er plötzlich kurz. »Habe ich mich, als ich hereinkam, vorgestellt oder nicht? Entschuldigen Sie, ich bin so zerstreut ...«
»Nein, Sie haben sich nicht vorgestellt; aber ich hatte schon vor etwa vier Jahren einmal das Vergnügen, Sie zu sehen, hier im Kloster ... zufällig.«
Tichon sprach sehr ruhig und gleichmäßig, mit weicher Stimme und mit klarer, deutlicher Aussprache jedes Wortes.
»Ich bin vor vier Jahren nicht in dem hiesigen Kloster gewesen,« erwiderte Nikolai Wsewolodowitsch in einem groben Tone, zu dem kein Anlaß vorlag. »Ich bin hier nur als kleines Kind gewesen, als Sie noch gar nicht hier waren.«
»Vielleicht haben Sie es vergessen?« fragte Tichon vorsichtig und ohne auf seiner Meinung zu bestehen.
»Nein, ich habe es nicht vergessen; und es wäre auch komisch, wenn ich mich dessen nicht erinnerte,« antwortete Stawrogin, der seinerseits mit übermäßiger Hartnäckigkeit seine Behauptung aufrecht erhielt. »Sie haben vielleicht nur etwas über mich gehört und sich danach irgendwelche Vorstellung von mir gebildet und meinen daher irrtümlich, Sie hätten mich mit eigenen Augen gesehen.«
Tichon schwieg. In diesem Augenblick bemerkte Nikolai Wsewolodowitsch, daß über sein Gesicht manchmal ein nervöses Zucken ging, ein Symptom einer alten Neurasthenie.
»Ich sehe aber, daß Sie heute nicht wohl sind,« sagte er; »es wäre wohl das beste, wenn ich wegginge.«
Er machte sogar schon Miene aufzustehen.
»Ja, ich fühle heute und gestern starke Schmerzen in den Beinen und habe die Nacht wenig geschlafen ...«
Tichon hielt inne. Sein Besucher war plötzlich in eine unerklärliche Art von Versunkenheit geraten. Das Schweigen dauerte lange, ungefähr zwei Minuten.
»Sie haben mich soeben beobachtet?« fragte er auf einmal unruhig und argwöhnisch.
»Ich sah Sie an und mußte dabei an die Gesichtszüge Ihrer Mutter denken. Trotz der äußeren Unähnlichkeit ist doch viel innere, geistige Ähnlichkeit vorhanden.«
»Es ist gar keine Ähnlichkeit vorhanden, besonders keine geistige. Absolut keine!« regte sich Nikolai Wsewolodowitsch wieder unnötigerweise auf; er bewies dabei einen übermäßigen Eigensinn, für den er selbst keinen Grund wußte. »Sie sagen das nur so ... aus Mitleid mit meiner Lage,« entfuhr es ihm plötzlich. »Aber besucht meine Mutter Sie etwa?«
»Ja.«
»Das habe ich nicht gewußt. Das hat sie mir nie gesagt. Kommt sie oft zu Ihnen?«
»Fast jeden Monat, auch häufiger.«
»Niemals habe ich das gehört, niemals. Ich habe es nie gehört.« Er schien sich über diese Tatsache gewaltig aufzuregen. »Da haben Sie gewiß von ihr gehört, daß ich verrückt sei,« platzte er wieder heraus.
»Nein, das eigentlich nicht. Übrigens habe ich auch diese Vermutung gehört, aber von anderer Seite.«
»Sie haben offenbar ein sehr gutes Gedächtnis, wenn Sie solche Torheiten haben behalten können. Haben Sie denn auch von der Ohrfeige gehört?«
»Ja, etwas habe ich davon gehört.«
»Das heißt alles. Sie müssen furchtbar viel Zeit haben, um all so etwas anzuhören. Haben Sie auch von dem Duell gehört?«
»Ja, auch davon.«
»Na, da brauchen Sie keine Zeitungen. Hat Schatow Sie davon vorher benachrichtigt, daß ich zu Ihnen kommen würde?«
»Nein. Ich kenne Herrn Schatow allerdings, habe ihn aber schon lange nicht gesehen.«
»Hm ... Was haben Sie denn da für eine Karte? Ah, eine Karte des letzten Krieges! Wozu haben Sie die denn?«
»Ich habe diese Geschichte des Krieges hier mit Benutzung der Landkarte gelesen. Es ist eine sehr interessante Darstellung.«
»Zeigen Sie mal her; ja, die Darstellung ist nicht übel. Aber für Sie ist das doch eine sonderbare Lektüre.«
Er hatte das Buch zu sich herangezogen und flüchtig hineingeblickt. Es war eine ausführliche und geschickte Darstellung der Ereignisse des letzten Krieges, geschickt übrigens nicht sowohl in militärischer als in rein stilistischer Hinsicht. Nachdem er das Buch ein Weilchen in den Händen hin und her gedreht hatte, warf er es plötzlich ungeduldig wieder hin.
»Ich weiß schlechterdings nicht, wozu ich hierher gekommen bin,« sagte er mißmutig, indem er Tichon gerade in die Augen blickte, als erwarte er von diesem eine Antwort.
»Sie scheinen ebenfalls nicht sehr gesund zu sein.«
»Vielleicht bin ich es auch nicht.«
Und plötzlich erzählte er (jedoch in ganz kurzen, abgerissenen Worten, so daß manches nur schwer zu verstehen war), er leide, namentlich nachts, an einer Art von Halluzinationen; manchmal sehe er oder fühle er neben sich ein boshaftes, spöttisches, »kluges« Wesen; dieses Wesen habe verschiedene Gestalten und verschiedene Charaktere, sei aber dennoch ein und dasselbe. »Ich ärgere mich immer darüber,« fügte er hinzu.
»Diese Mitteilungen klangen wunderlich und verworren und schienen wirklich von einem Verrückten zu kommen. Aber dabei redete Nikolai Wsewolodowitsch mit einer so seltsamen, bei ihm unerhörten Offenheit und mit einer solchen ihm sonst ganz fremden Treuherzigkeit, daß es schien, als sei bei ihm plötzlich und unversehens der frühere Mensch vollständig verschwunden. Er schämte sich gar nicht, die Angst merken zu lassen, mit der er von seiner Vision sprach. Aber all dies dauerte nur einen Augenblick und verschwand ebenso schnell wieder, wie es gekommen war.«
»Das ist lauter dummes Zeug,« sagte er, sich wieder auf sich selbst besinnend, schnell und mit verlegenem Ärger. »Ich werde zu einem Arzt gehen.«
»Tun Sie das unbedingt,« stimmte ihm Tichon bei.
»Sie reden mit solcher Sicherheit ... Haben Sie solche Menschen wie mich schon gesehen, Menschen mit solchen Visionen?«
»Ja, aber nur sehr selten. Ich besinne mich nur auf einen einzigen ebensolchen Patienten in meinem Leben, einen Offizier, der seine Gattin, seine für ihn unersetzliche Lebensgefährtin, verloren hatte. Von einem andern habe ich nur gehört. Beide machten dann im Auslande eine Kur durch ... Leiden Sie schon lange daran?«
»Ungefähr seit einem Jahre; aber das ist lauter dummes Zeug. Ich werde zu einem Arzt gehen. Und das ist lauter dummes Zeug, schrecklich dummes Zeug. Das bin ich selbst in verschiedenen Gestalten, und weiter nichts. Da ich soeben diese ... Phrase hinzugefügt habe, so glauben Sie gewiß, ich hätte doch noch immer meine Zweifel und sei nicht fest davon überzeugt, daß ich es bin und nicht in Wirklichkeit der Teufel.«
Tichon sah ihn fragend an.
»Und ... Sie sehen ihn wirklich?« fragte er; als wolle er jeden Verdacht, daß es doch wohl nur eine täuschende, krankhafte Halluzination sei, ausschließen; »sehen Sie tatsächlich eine Gestalt?«
»Sonderbar, daß Sie danach so hartnäckig fragen, obwohl ich Ihnen doch schon gesagt habe, daß ich eine Gestalt sehe,« erwiderte Stawrogin, dessen gereizte Stimmung wieder mit jedem Worte ärger wurde. »Selbstverständlich sehe ich eine Gestalt; ich sehe sie so, wie ich Sie sehe ... manchmal sehe ich sie und bin nicht davon überzeugt, daß ich sie sehe, obwohl ich sie sehe ... manchmal aber weiß ich nicht, was Wahrheit ist, ich oder er ... das ist lauter dummes Zeug. Können Sie sich denn gar nicht zu der Annahme entschließen, daß das wirklich der Teufel ist?« fügte er auflachend hinzu, indem er in schroffster Art zu einem spöttischen Tone überging. »Das würde doch zu Ihrer Profession besonders gut passen.«
»Die größere Wahrscheinlichkeit ist dafür, daß es eine Krankheit ist, obgleich ...«
»Obgleich was?«
»Teufel existieren zweifellos; aber die Vorstellungen von ihnen können sehr verschieden sein.«
»Der Grund, weswegen Sie soeben wieder die Augen niedergeschlagen haben,« fiel Stawrogin in gereiztem, spöttischem Tone ein, »ist der: Sie schämen sich für mich, weil ich an den Teufel glaube, aber unter dem Scheine des Unglaubens Ihnen listig die Frage vorlege, ob er wirklich existiert oder nicht.«
Tichon lächelte in unbestimmtem Sinne.
»So mögen Sie denn wissen, daß ich mich ganz und gar nicht schäme, und um Sie zum Dank für Ihre Grobheit zu befriedigen, will ich Ihnen im Ernst und frech sagen: ich glaube an den Teufel, glaube an ihn in kanonischer Weise, an einen persönlichen Teufel, nicht an einen bloß bildlichen, und ich brauche niemanden erst darüber zu befragen. Nun wissen Sie alles.«
Er schlug ein nervöses, unnatürliches Gelächter auf. Tichon blickte ihn neugierig an, aber mit einem etwas scheuen, wenn auch sanften Blicke.
»Glauben Sie an Gott?« fragte Nikolai Wsewolodowitsch plötzlich.
»Ja.«
»Es steht ja geschrieben: wenn du glaubst und einem Berge befiehlst sich zu bewegen, so wird er sich bewegen ... nehmen Sie mir übrigens diesen Unsinn nicht übel. Aber ich möchte Sie doch gern fragen: werden Sie den Berg versetzen oder nicht?«
»Wenn Gott es befiehlt, so werde ich ihn versetzen,« erwiderte Tichon leise und bescheiden und schlug wieder die Augen nieder.
»Na, das wäre ja ganz dasselbe, wie wenn Gott selbst ihn versetzte. Nein, werden Sie, Sie selbst zur Belohnung Ihres Glaubens an Gott es fertigbringen?«
»Vielleicht werde ich ihn nicht versetzen.«
»›Vielleicht‹? Na, auch das ist nicht übel. Also zweifeln Sie immer noch?«
»Ja, wegen der Unvollkommenheit meines Glaubens zweifle ich.«
»Wie? Auch Ihr Glaube ist unvollkommen?«
»Ja ... vielleicht glaube auch ich nicht in vollkommener Weise,« antwortete Tichon.
»Das hätte ich wahrhaftig nicht gedacht, wenn ich Sie so ansehe!« Er betrachtete ihn mit einer gewissen Verwunderung, die jetzt durchaus ehrlich war, was zu dem spöttischen Tone der vorhergehenden Fragen durchaus nicht stimmte.
»Na, aber Sie glauben doch, daß Sie ihn wenigstens mit Gottes Hilfe versetzen werden; auch das ist ja nicht wenig. Mindestens wollen Sie es glauben. Und den Berg fassen Sie buchstäblich auf. Ein gutes Prinzip. Ich habe die Beobachtung gemacht, daß die Koryphäen unter unseren Leviten stark zum Luthertum neigen. Das ist immerhin mehr als das ›très peu‹ eines anderen Bischofs, der allerdings einen geschwungenen Säbel über seinem Kopfe sah. Sie sind gewiß auch ein Christ.« Stawrogin sprach schnell. In bunter Mischung kamen bald ernste, bald spöttische Worte aus seinem Munde.
»Deines Kreuzes, Herr, werde ich mich nicht schämen,« sagte Tichon leise, in einer Art von leidenschaftlichem Flüsterton, und neigte den Kopf noch tiefer hinab.
»Aber kann man an den Teufel glauben, ohne an Gott zu glauben?« fragte Stawrogin spöttisch.
»O, das ist sehr wohl möglich; das begegnet einem auf Schritt und Tritt,« antwortete Tichon, indem er aufblickte und lächelte.
»Und ich bin überzeugt, daß Sie einen solchen Glauben immer noch für ehrenwerter erachten als den vollständigen Unglauben,« rief Stawrogin laut lachend.
»Keineswegs; der völlige Atheismus ist ehrenwerter als die weltliche Gleichgültigkeit,« antwortete Tichon, anscheinend heiter und treuherzig.
»Oho, das ist ja eine interessante Ansicht von Ihnen!«
»Der vollkommene Atheist steht auf der zweithöchsten Stufe vor dem vollkommensten Glauben (mag er nun die letzte Stufe noch hinansteigen oder nicht); der Gleichgültige aber hat gar keinen Glauben mehr, sondern nur eine üble Furcht, und auch die nur mitunter, wenn er nämlich ein sensibler Mensch ist.«
»Hm ... haben Sie die Offenbarung Johannis gelesen?«
»Ja.«
»Erinnern Sie sich an die Stelle: ›Schreibe dem Engel der Gemeinde zu Laodicea ...‹?«
»Ja.«
»Wo haben Sie ein Neues Testament?« fragte Stawrogin in seltsamer Hast und Erregung und suchte mit den Augen das Buch auf dem Tische. »Ich möchte Ihnen die Stelle vorlesen ... Haben Sie eine russische Übersetzung?«
»Ich kenne die Stelle; ich erinnere mich,« rief Tichon.
»Können Sie sie auswendig? Dann sagen Sie sie her ...«
Er schlug schnell die Augen nieder, stützte beide Handflächen auf die Knie und schickte sich voller Ungeduld an zuzuhören. Tichon sagte aus dem Gedächtnisse die Stelle Wort für Wort her:
»›Und dem Engel der Gemeinde zu Laodicea schreibe: Das saget Amen, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Kreatur Gottes: Ich weiß deine Werke, daß du weder kalt noch warm bist. Ach, daß du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. Du sprichst: Ich bin reich und habe gar satt und bedarf nichts, und weißt nicht, daß du bist elend und jämmerlich, arm, blind und bloß ...‹«
»Genug!« unterbrach ihn Stawrogin. »Wissen Sie, ich liebe Sie sehr.«
»Ich Sie ebenfalls,« erwiderte Tichon halblaut.
Stawrogin verstummte und verfiel auf einmal wieder in die vorige Versunkenheit. Das geschah wie infolge eines Anfalles nun schon zum drittenmal. Auch daß er zu Tichon gesagt hatte: »Ich liebe Sie,« war beinahe in einem Anfalle geschehen, wenigstens war er selbst dadurch überrascht worden, daß er es gesagt hatte. Es verging mehr als eine Minute.
»Seien Sie nicht zornig!« flüsterte Tichon und berührte Stawrogin leise und anscheinend schüchtern mit den Fingern am Ellenbogen.
Der fuhr zusammen und runzelte ärgerlich die Stirn.
»Woher haben Sie gewußt, daß ich zornig geworden war?« fragte er schnell. Tichon wollte etwas erwidern; aber der andere unterbrach ihn plötzlich in unverständlicher Erregung.
»Warum haben Sie denn eigentlich angenommen, daß ich sicher zornig sein müsse? Ja, ich war zornig, Sie haben recht, und gerade deswegen, weil ich zu Ihnen gesagt hatte: ›Ich liebe Sie.‹ Sie haben recht; aber Sie sind ein grober Zyniker; Sie denken niedrig von der menschlichen Natur. Es war auch möglich, daß kein Zorn da war, wenn nur ein anderer Mensch da saß und nicht ich ... Indessen handelt es sich nicht um die Menschen überhaupt, sondern um mich. Aber Sie sind ein wunderlicher Kauz und ein religiöser Irrer ...«
Er geriet immer mehr in eine gereizte Stimmung hinein und legte sich seltsamerweise in der Wahl seiner Ausdrücke keinen Zwang auf:
»Hören Sie mal, ich kann Spione und Psychologen nicht leiden, wenigstens nicht solche, die sich in meine Seele einschleichen. Ich fordere niemand auf, in meine Seele einzudringen; ich habe niemand nötig; ich verstehe es, allein mit mir fertig zu werden. Sie glauben, ich fürchte mich vor Ihnen,« fuhr er mit lauterer Stimme fort und hob herausfordernd das Gesicht in die Höhe; »Sie sind völlig davon überzeugt, daß ich hergekommen bin, um Ihnen ein ›furchtbares‹ Geheimnis zu enthüllen, und warten auf dieses mit aller mönchischen Neugier, deren Sie fähig sind. Na, so mögen Sie denn wissen, daß ich Ihnen nichts enthüllen werde, kein Geheimnis, weil ich auch ohne Ihre Hilfe mit mir vollständig fertig zu werden imstande bin ...«
Tichon blickte ihn fest an:
»Es hat auf Sie Eindruck gemacht, daß das Lamm eher den Kalten liebt als den nur Lauen,« sagte er; »Sie wollen nicht ein nur Lauer sein. Ich ahne, daß Sie eine Absicht von besonderer Art hegen, vielleicht eine schreckliche Absicht. Ich beschwöre Sie, quälen Sie sich nicht lange, und sagen Sie alles!«
»Und Sie haben zuverlässig gewußt, daß ich mit irgendwelcher Absicht hergekommen bin?«
»Ich ... habe es erraten,« flüsterte Tichon mit niedergeschlagenen Augen.
Nikolai Wsewolodowitsch war etwas blaß, und seine Hände zitterten ein wenig. Einige Sekunden lang blickte er regungslos und schweigend vor sich hin, als ob er einen endgültigen Entschluß fassen wolle. Endlich zog er aus der Seitentasche seines Rockes einige bedruckte Bogen Papier heraus und legte sie auf den Tisch.
»Hier sind ein paar Bogen, die zur Veröffentlichung bestimmt sind,« sagte er mit stockender Stimme. »Wenn sie auch nur ein einziger Mensch gelesen haben wird, so mögen Sie wissen, daß ich sie nicht mehr verbergen werde, sondern alle sie lesen werden. So habe ich beschlossen. Ihres Rates bedarf ich gar nicht, denn mein Entschluß ist unerschütterlich. Aber lesen Sie sie! ... Sagen Sie während des Lesens nichts; aber wenn Sie werden gelesen haben, dann ersuche ich Sie, alles zu sagen« ...
»Ich soll sie lesen?« fragte Tichon unentschlossen.
»Lesen Sie sie; ich bin ganz ruhig.«
»Nein, ohne Brille kann ich es nicht lesen; es ist kleiner, ausländischer Druck.«
»Da ist Ihre Brille,« sagte Stawrogin, indem er sie vom Tische nahm und ihm hinreichte; dann lehnte er sich an die Sofalehne zurück. Tichon sah ihn nicht an und versenkte sich in die Lektüre.
Fußnoten
1 Anmerkung des Übersetzers: Als Dostojewskis Roman »Die Teufel« in den Jahrgängen 1871 und 1872 des »Russischen Boten« erschien, veranlaßte der Redakteur dieser Zeitschrift, Katkow, den Verfasser, drei Abschnitte wegzulassen; ein Passus, welchen Dostojewski im zweiten Teile gegen Ende des ersten Kapitels angebracht hatte, um auf diese drei Abschnitte vorzubereiten, wurde allerdings dadurch zwecklos. Der erste dieser Abschnitte ist dann aus einem von der Hand der Gattin Dostojewskis herrührenden Manuskripte im achten Bande der im Jahre 1906 in Petersburg veranstalteten Jubiläumsausgabe in der Abteilung »Materialien zum Roman ›Die Teufel‹« ohne seinen Anfang, aber unter Hinzunahme des Anfanges des zweiten abgedruckt worden; die beiden anderen sind, nebst dem bereits veröffentlichten, nach den erhaltenen Korrekturfahnen im Frühjahr 1922 in Moskau in einem Sonderhefte zum ersten Male publiziert.