Frederik Pohl war von Anfang an dabei – seit dem Urknall gewissermaßen, als das entstand, was heute ein weit ausgedehntes kommerzielles und kulturelles Universum (einige würden sagen: eine weit ausgedehnte Leere) aus Filmen und Fernsehserien, aus Büchern und Magazinen ist. Die Singularität, mit der alles begann, war allerdings reichlich kurios: Die Sehnsucht etwas frühreifer und etwas durchgeknallter Teenager nach einer neuen Art von »Literatur«, jener nämlich, wie sie in den so genannten Pulps, den billigen Groschenmagazinen, veröffentlicht wurde.
Zuerst nannte man es »Scientifiction«, doch der Name setzte sich nicht durch.
Dann nannte man es Science Fiction.
Es war 1935, in Brooklyn. Die Vereinigten Staaten lagen in der Agonie der »Großen Depression« (»groß« vielleicht deshalb, weil wir sie heute so sehr vermissen). Gegenwärtig ist Nostalgie das vorherrschende Gefühl in der US-amerikanischen Gesellschaft, aber damals war man gierig nach der Zukunft – und die Science Fiction hatte sich die Zukunft auf ihre Fahnen geschrieben.
Als Kunstform im weitesten Sinne gab es sie natürlich schon viel länger, seit Jules Verne und H. G. Wells, ja vielleicht seit Mary Shelley und ihrem melancholischen, mit einem elektrischen Funken zum Leben erweckten Monster (manche meinen, das Genre sei noch weitaus älter und gehe bis zu »Gullivers Reisen« oder sogar Aristophanes’ »Vögel« zurück). Als kommerzielles Produkt jedoch – und als literarische Kuriosität – gibt es die Science Fiction erst seit jener Zeit, den 20er und 30er Jahren, als überall in den USA die Pulp-Magazine an den Zeitungskiosken auftauchten, mit ihren grell-bunten Covermotiven, ihren dröhnenden Raketen, gefährlichen Laserwaffen und natürlich den vollbusigen Frauen, die von ekelhaften Außerirdischen bedroht wurden. All das war, wie die Titel dieser Magazine versprachen, Amazing, Astounding, Thrilling. In seinen Erinnerungen »The Way the Future Was« beschreibt Pohl diese aufregende Zeit so: »Mein Kopf quoll geradezu über vor Raumschiffen, Robotermädchen und unsichtbar machenden Strahlen – und ich hatte niemanden, mit dem ich darüber reden konnte.«
Das sollte nicht lange so bleiben. Denn die Science Fiction machte Jagd auf Leser. Und wenn die grellen Cover dabei die Köder waren und die abgedruckten Storys die Haken, dann waren die Netze die SF-Clubs, die die Magazine ins Leben riefen: die »Science Fiction League« und ihre zahllosen Abkömmlinge. Mehr als außergewöhnlich war schließlich der Fang: Pohl, sein Freund und späterer Co-Autor Cyril Kornbluth, Isaac Asimov (auch aus Brooklyn), James Blish, Judith Merril, Donald Wollheim und jede Menge anderer, darunter Ray Bradbury und Jack Williamson, die zu den ersten SF-Conventions, den gemeinsamen Fan-Treffen, kamen.
»Die meisten Leute wollten darüber reden, was sie so aßen oder einkauften oder sonst den ganzen Tag über taten«, erinnert sich Pohl. »Wir aber wollten darüber reden, was wir gelesen hatten!« Und sie redeten nicht nur. Bald gaben sie ihre eigenen Magazine heraus und veröffentlichten ihre eigenen Storys – und schufen damit das, was wir heute als Science-Fiction-Genre kennen.
Frederik Pohl war ein echtes Wunderkind. Schon als Teenager betreute er das Magazin der »International Scientific Society« (die weder besonders international noch besonders wissenschaftlich war, wie er später bemerkte), er schlief nur sporadisch, schrieb die restliche Zeit oder hing mit seinen Kumpeln von den »Futurians« herum, der ersten Fan-Abspaltung in der bald reichlich fragmentierten Science-Fiction-Szene, und redete über Raumschiffe und Robotermädchen. Er machte sich nicht die Mühe, die High School abzuschließen – er war einfach zu beschäftigt. Mit neunzehn, in den späten 30ern, hatte er zwei weitere Magazine unter seiner Ägide: Astonishing Stories und Super Science Stories. Außerdem veröffentlichte er selbst Geschichten – unter einer ganzen Palette von Pseudonymen –, vertrat seine schriftstellernden Freunde (und seine Pseudonyme) als Agent und organisierte – und boykottierte zuweilen – zahllose SF-Conventions.
Dann kam der Zweite Weltkrieg, an dem Pohl in Italien und Frankreich teilnahm. Nach New York zurückgekehrt, entschied er sich endgültig, sein Geld in dem Genre zu verdienen, das er mit geschaffen hatte. Die Große Depression war vorbei; die amerikanische Wirtschaft – und damit auch die Science Fiction – boomte; die Leser waren nicht mehr nur Jugendliche und auch nicht mehr nur Jungs. Und die Pulp-Storys genügten ihnen längst nicht mehr – sie wollten nun Romane. Also schrieb Pohl Romane, teilweise in Zusammenarbeit mit Kornbluth und Williamson und nach Maßgabe eines strengen, selbstauferlegten Regimes: vier Seiten pro Tag, wie ein Uhrwerk. Nebenbei sorgte er dafür, dass die Magazine, die er herausgab (darunter Galaxy und If), immer besser und professioneller wurden und reichlich Preise einheimsten. Eine Karriere, die den meisten von uns voll und ganz genügen würde. Nicht aber Frederik Pohl.
In den 70er Jahren stellte er fest, dass ihn die Tätigkeit als Herausgeber und Agent nicht mehr ausfüllte. Er begann, mehr zu schreiben und ernsthafter zu schreiben. Auch die Science Fiction insgesamt, die britische vor allem, war zu dieser Zeit dabei, sich bisher unbeachtete literarische Möglichkeiten anzueignen – plötzlich wurde die Sprache, der Stil, wichtig, plötzlich waren die Protagonisten wirkliche Menschen, plötzlich gab es so etwas wie Sexualität. Beides zusammen, Pohls persönliche Neuerfindung als »seriöser« SF-Schriftsteller und die Neuerfindung des gesamten Genres in Form der »New Wave«, führte zu einem in der amerikanischen Literatur äußerst seltenen Phänomen: ein zweiter Akt – und ein überaus faszinierender dazu.
Und Frederik Pohl, der immer schon ein hell leuchtender Stern war, wurde zur Nova.
Ein Merkmal von Pohls satirischem Genie ist es, dass in »Gateway« die ersten Expeditionen der Menschheit in die Weiten des Universums nicht aus wissenschaftlichen Gründen und auch nicht für Ruhm und Ehre unternommen werden, sondern aus rein kommerziellen Erwägungen.
Es geht einfach darum, Beute zu machen.
Gateway ist ein Asteroid, den man in einer exzentrischen Umlaufbahn um die Sonne entdeckt hat. Er ist von weitläufigen Tunneln durchzogen und mit zahllosen Raumschiffen gespickt, die darauf programmiert sind, ihre Passagiere zu bestimmten Orten in den Tiefen des Weltalls zu befördern, unbekannte und zuweilen sehr gefährliche Orte. Alles, was man tun muss, ist, an Bord zu gehen und loszufliegen. Die Schiffe – und der honigwabenartige Asteroid insgesamt – sind die Hinterlassenschaften einer mysteriösen und offenbar ausgestorbenen außerirdischen Zivilisation, die einst große Teile des Universums kolonisiert hatte: die Hitschi.
Die Menschen lassen sich nicht zweimal bitten. Und tatsächlich kommen einige der Gateway-Prospektoren von ihren abenteuerlichen Reisen als Millionäre zurück, die Schiffe voll beladen mit wertvollen Objekten aus der Hitschi-Kultur. Andere dagegen haben weniger Glück: Ihr Inneres wird nach außen gekehrt, oder sie verlieren den Verstand. Wieder andere kehren überhaupt nicht zurück.
Den Hitschi allerdings begegnen sie nie. Pohl, der seine Science-Fiction-Ideen schon immer auf wissenschaftlicher Plausibilität gründete, nahm an, dass selbst wenn andere Zivilisationen im Universum existieren, es doch sehr unwahrscheinlich ist, dass sich ihre Lebensdauer mit der unseren überschneidet. Die Geschichte der Menschheit beginnt also zu einem Zeitpunkt, als die der Hitschi schon lange beendet ist. Ungefähr jedenfalls.
»Gateway« schlug in der Science-Fiction-Szene ein wie ein Komet. Viele konnten nicht glauben, dass der Roman von einem der bekanntesten Vertreter dieser Szene geschrieben worden war, zu ausgefeilt der Stil, zu komplex der Aufbau, verglichen jedenfalls mit den damals üblichen amerikanischen SF-Büchern. Der Text – voller Anspielungen, zart und erotisch, gewürzt mit reichlich trockenem Humor – machte außerdem Pohls Misstrauen gegenüber jeder Art von Autorität deutlich, seine Verachtung für die Exzesse des Kapitalismus und seine materialistische (also marxistische) Interpretation davon, wie Geschichte »gemacht« wird und wie Geschichte uns »macht«. All dies erinnerte an die Ursprünge der Science Fiction zur Zeit der Depression. Doch »Gateway« war auch ein Neubeginn: der erste amerikanische SF-Roman, der die psychologischen und literarischen Obsessionen der »New Wave« zu seinen Obsessionen machte, der erste, der dieses bisher unentdeckte Land betrat.
So sind die Reisen des Prospektors Robinette Broadhead in die Tiefen des Alls nichts anderes als Reisen in sein eigenes Selbst. Und so wird seine Geschichte auch elliptisch erzählt, zum großen Teil in Form eines Gesprächs mit seinem psychoanalytischen Therapieprogramm. Denn Broadhead muss damit fertig werden, dass sein enormer Erfolg als Prospektor den Verlust der Frau, die er liebt, zur Folge hatte. In Frederik Pohls Universum – so wie in Einsteins – ist eben nichts umsonst.
»Gateway« gewann alle bedeutenden SF-Preise, die es gibt: den Hugo Gernsback Award (zwar nicht Pohls erster, aber sein erster für einen Roman), den Nebula Award, den Locus Award. Damit jedoch war die Geschichte längst nicht zu Ende.
»Jenseits des blauen Horizonts«, der zweite Band, ist, wie der Titel schon vermuten lässt, noch kühner, noch komplexer: Broadhead kommt zwar noch vor, aber nur am Rande, im Mittelpunkt steht nun eine ganze Reihe anderer Figuren, darunter ein hormongeplagter Teenager, ein nervtötender alter Mann und ein nicht ganz so unschuldiges Waisenkind. Und eines der mysteriösen »Geschenke« der Hitschi ist ein periodisch auftretender, weltweiter Wahnsinn, der verheerende Folgen für die Menschheit hat.
Im dritten Teil, »Rückkehr nach Gateway«, tauchen die Hitschi dann schließlich doch auf, in all ihrer verschrobenen Größe, einen leichten Salmiakduft verbreitend, ihrer unendlichen Weisheit müde und von uns – obwohl sie uns seit der Morgenröte der menschlichen Zivilisation kennen – offenbar ebenso verwirrt wie wir von ihnen. Verwirrt insbesondere von dem, was wir Geld nennen … Das ist natürlich reinster Pohl.
Alle drei Romane haben eine begeisterte Leserschaft gefunden und etliche Epigonen nach sich gezogen. »Gateway« diente sogar als Grundlage eines sehr erfolgreichen Spiels, was eine gewisse Logik hat, sind die Reisen der Prospektoren ins Unbekannte ja selbst eine Art Spiel – eine Art Russisches Roulette, um genau zu sein.
Als Autor, Redakteur und Herausgeber war Frederik Pohl maßgeblich daran beteiligt, die Science Fiction zu schaffen, wie wir sie heute kennen; er hat etliche junge Talente zu Star-Autoren gemacht; und er hat solche Klassiker des Genres wie »Mensch+« und »Eine Handvoll Venus und ehrbare Kaufleute« geschrieben. Seine größte Errungenschaft jedoch war es, sich als Schriftsteller neu zu erschaffen, mit der Gateway-Trilogie. Sie ist selbst eine Art »Gateway« – in eine ebenso unerschöpfliche wie überzeugende Welt, eine Welt der Kugelblitze, Assassinen, die Krieg als Selbstzweck führen, Traumcouches, Albert-Einstein-Programme und CHON-Nahrung.
Eine Welt, die noch genauso begeistert, überrascht und provoziert wie zu jener Zeit, als sie entstanden ist.
Terry Bisson ist ein bekannter amerikanischer SF- und Fantasy-Autor. Zuletzt ist von ihm bei Heyne die Kurzgeschichtensammlung »Die Bären entdecken das Feuer« erschienen.