Am 1228. Tag unseres All-inclusive-Vergnügungsausflugs zur Oort’schen Wolke war das Aufregendste die Post. Vera läutete, und wir erschienen alle, um sie abzuholen. Es gab sechs Briefe für meine sinnliche kleine Halbschwägerin von berühmten Filmstars – na ja, es sind nicht alle Filmstars. Es sind berühmte und gut aussehende Discjockeys, denen sie schreibt, weil sie erst vierzehn Jahre alt ist und irgendetwas Männliches braucht, von dem sie träumen kann. Sie schreiben ihr zurück, glaube ich, weil ihre Presseagenten ihnen klar machen, dass das gute Reklame ist. Ein Brief aus dem alten Land an Peter, meinen Schwiegervater; ein langer in Deutsch. Sie wollen, dass er nach Dortmund zurückkommt und sich um den Posten eines Bürgermeisters oder so bewirbt. Immer vorausgesetzt, versteht sich, dass er noch am Leben ist, wenn er zurückkommt, was bei allen vieren von uns nur eine Vermutung ist. Aber sie geben nicht auf. Zwei private Briefe an meine Frau Lurvy, wohl von ehemaligen Anbetern. Und ein Brief an uns alle vom Witwer der armen Trish Bover – oder auch ihrem Ehemann, je nachdem, ob man Trish für lebendig oder tot hielt:


»Habt ihr eine Spur von Trishs Schiff gesehen? Hanson Bover«


Kurz und knapp, weil er sich mehr nicht leisten kann, vermutete ich. Ich bat Vera, ihm dieselbe Antwort wie immer zu schicken: »Tut uns Leid, nein.« Ich hatte Zeit genug, mich um diese Korrespondenz zu kümmern, weil es keine Post für Paul C. Hall gab, der ich bin.

Es gibt in der Regel nicht viel für mich, was einer der Gründe dafür ist, dass ich viel Schach spiele. Peter erklärt mir, ich könnte von Glück sagen, dass ich überhaupt dabei sein darf, und ich wäre es wohl auch nicht, wenn er nicht die Reise für die ganze Familie finanziert hätte. Und nicht seine Fähigkeiten investiert hätte, aber das haben wir alle getan. Peter ist Nahrungsmitteltechniker. Ich bin Bauingenieur. Meine Frau Dorema – es ist besser, wenn man sie nicht so nennt, und wir rufen sie deshalb meistens »Lurvy« – ist Pilotin. Noch dazu eine verdammt gute. Lurvy ist jünger als ich, aber sie war sechs Jahre lang auf Gateway. Hatte nie einen Erfolg, kam nahezu bankrott zurück, aber gelernt hatte sie viel. Nicht nur, was das Navigieren anging. Manchmal werfe ich einen Blick auf Lurvys Arme mit den fünf Flugspangen, für jeden ihrer Gateway-Flüge eine, und auf ihre Hände, fest und sicher an der Steuerung, warm und wärmend, wenn wir uns berühren. Ich weiß nicht viel über das, was sie auf Gateway erlebt hat. Vielleicht ist es besser so.

Und die andere ist ihr kleines, minderjähriges Luder von Halbschwester, Janine. Ah, Janine! Manchmal war sie vierzehn Jahre alt und manchmal vierzig. Wenn sie vierzehn war, schrieb sie ihre schwärmerischen Briefe an ihre Filmstars und beschäftigte sich mit ihren Spielsachen – ein zerschlissenes, ausgestopftes Gürteltier, ein Hitschi-Gebetsfächer (echt) und eine Feuerperle (unecht), die ihr Vater ihr gekauft hatte, um sie mit auf die Reise zu locken. Wenn sie vierzig war, wollte sie auch spielen, aber in erster Linie mit mir. Und da sitzen wir. Dreieinhalb Jahre lang buchstäblich aufeinander. Bemüht, nicht von Mordlust ergriffen zu werden.

Wir waren nicht die Einzigen im Weltraum. Zuweilen, aber selten, fingen wir eine Nachricht von unseren nächsten Nachbarn, dem Stützpunkt auf Triton oder einem Forschungsschiff auf, das sich verirrt hatte. Aber Triton lag zusammen mit Neptun in seiner Umlaufbahn weit vor uns – Empfangszeit hin und zurück drei Wochen. Und das Spähschiff hatte für uns keine Energie zu vergeuden, obwohl es nur noch fünfzig Lichtstunden entfernt war. Das hatte nichts mit einem nachbarlichen Schwatz über die Gartenhecke zu tun.

Was machte ich also? Ich spielte viel Schach mit unserem Bordcomputer.

Auf dem Weg zur Oort’schen Wolke gibt es nicht besonders viel zu tun, außer sich mit Spielen zu beschäftigen, und außerdem war das eine gute Methode, im Krieg zwischen zwei Frauen, der in unserem kleinen Raumschiff unaufhörlich tobte, neutral zu bleiben. Meinen Schwiegervater kann ich aushalten, wenn es sein muss. Er bleibt meistens für sich, so gut das in einem Raum von vierhundert Kubikmetern geht. Seine beiden verrückten Töchter ertrage ich nicht immer, obwohl ich sie beide liebe.

Das wäre alles leichter auszuhalten, wenn wir mehr Platz hätten – das machte ich mir immer wieder klar –, aber man kann eben keinen Beruhigungsspaziergang um den Häuserblock machen, wenn man in einem Raumschiff sitzt. Ab und zu ein rascher Außeneinsatz, um die Außenfracht zu überprüfen, ja, und dann konnte ich mich umsehen – die Sonne immer noch fast der hellste Stern in ihrer Konstellation; Sirius vor uns war bereits heller, und Alpha Centauri, knapp unter und seitlich der Ekliptik, ebenfalls. Aber das dauerte immer nur eine Stunde, dann musste man ins Schiff zurück. Kein Luxusschiff. Ein antikes Stück von Raumschiff, von Menschenhand gemacht, niemals gedacht für einen Flug, der länger als ein halbes Jahr dauerte, und darin mussten wir uns nun dreieinhalb Jahre zusammendrängen. Guter Gott! Wir müssen nicht bei Verstand gewesen sein, als wir unterschrieben. Was helfen zwei Millionen Dollar, wenn man beim Verdienen überschnappt?

Unser Bordgehirn war viel leichter zu ertragen. Wenn ich mit ihm Schach spielte, über die Konsole gebeugt, den großen Kopfhörer aufgesetzt, konnte ich Lurvy und Janine vergessen. Das Gehirn trug den Namen Vera, was eigentlich nur auf meine eigene Eitelkeit zurückzuführen war und nichts mit ihrem – ich meine seinem – Geschlecht zu tun hatte. Oder auch mit ihrer Wahrheitsliebe, denn ich hatte ihr befohlen, manchmal Witze mit mir zu machen. Wenn Vera in Verbindung stand mit den großen Computern in Umlaufbahnen oder zu Hause auf der Erde, war sie sehr, sehr klug, aber so konnte sie keine Unterhaltung führen, wegen der Gesamtempfangszeit von 25 Tagen nämlich, und sobald keine Verbindung mehr bestand, war sie eben sehr, sehr dumm …

»a 2 – a 4, Vera.«

»Danke …« Lange Pause, während sie meine Parameter prüfte, um sich zu vergewissern, mit wem sie sprach und was sie eigentlich tat. »Paul. Läufer schlägt Springer.«

Ich konnte Vera vernichtend schlagen, wenn wir Schach spielten, es sei denn, sie schwindelte. Wie sie das machte? Nun, nachdem ich vielleicht hundert Spiele gegen sie gewonnen hatte, gewann sie eines. Dann gewann ich ungefähr fünfzig, und sie gewann eines und noch eines, die nächsten zwanzig Spiele verteilten sich ungefähr je zur Hälfte, und dann begann sie mich jedes Mal am Boden zu zerstören. Bis ich dahinter kam, was sie machte. Sie übermittelte Spielstand und -tendenz an die Großcomputer auf der Erde, und wenn wir eine Spielpause einlegten, was manchmal vorkam, wenn Peter oder eine der Frauen mich vom Brett wegholten, hatte sie Zeit, durch die Kritik der Großrechner an ihren Plänen und Vorschlägen ihre Spielstrategie zu verbessern. Die Maschinen erklärten Vera, welche Spielzüge ich mutmaßlich plante und wie ihnen zu begegnen sei, und sobald Bodenstation-Vera richtig lag, hatte Bord-Vera mich in der Hand. Ich gab mir keine Mühe, ihr das abzugewöhnen. Ich unterbrach einfach kein Spiel mehr, und nach einiger Zeit waren wir so weit entfernt, dass ihr einfach nicht mehr die nötige Frist blieb, sich helfen zu lassen, und ich schlug sie wieder bei jedem Spiel.

Diese Schachpartien waren so ungefähr das Einzige, was ich in diesen dreieinhalb Jahren gewann. Bei dem großen Spiel, das zwischen meiner Frau Lurvy und ihrer geilen, vierzehn Jahre alten Halbschwester Janine stattfand, gab es für mich nichts zu gewinnen. Lurvy versuchte Janine eine Mutter zu sein, und diese gab sich Mühe, ihr als Feindin gegenüberzustehen. Was ihr gelang. Es lag nicht allein an Janine. Lurvy trank ein paar Gläser – das war ihre Art, der Langeweile zu entfliehen – und kam dahinter, dass Janine ihre Zahnbürste benutzt oder widerwillig getan hatte, was ihr aufgetragen worden war, nämlich den Bereich der Essenszubereitung sauber zu machen, bevor er zu stinken anfing, ohne aber die organischen Stoffe in den Verarbeiter zu werfen. Dann ging es los. Von Zeit zu Zeit absolvierten sie rituelle Darbietungen von Weibergeschwätz, untermalt von Ausbrüchen …

»Die blaue Hose gefällt mir wirklich an dir, Janine. Soll ich den Saum heften?«

»Na gut, ich werde also fett, willst du das damit sagen? Na, immer noch besser, als mich die ganze Zeit blöd zu saufen!« Und dann gerieten sie sich wieder in die Haare. Und ich spielte wieder Schach mit Vera. Das war das einzig Sichere. Jedes Mal, wenn ich versuchte, mich einzumischen, erzielte ich augenblicklich den Erfolg, sie gemeinsam gegen mich aufzubringen: »Drecks-Chauvi, warum schrubbst du den Küchenboden nicht?«

Das Komische dabei war, ich liebte sie beide. Auf unterschiedliche Art, versteht sich, obwohl es mir schwer fiel, das Janine klarzumachen.

Man sagte uns, worauf wir uns einließen, als wir unterschrieben. Neben der üblichen psychologischen Unterweisung für Fernflüge standen wir alle vier ein Dutzend stundenlanger Sitzungen über das Problem durch, und was der Psychiater sagte, lief am Ende auf »Gebt euch die größte Mühe« hinaus. Es stellte sich heraus, dass ich bei dem Prozess der Familien-Neubildung lernen musste, den Elternpart zu übernehmen. Peter war zu alt dafür, auch wenn er der biologische Vater war. Lurvy war, wie von einer ehemaligen Gateway-Pilotin zu erwarten, kein häuslicher Typ. Es hing an mir; der Psychiater ließ daran keinen Zweifel. Das Gerät verriet nur nicht, wie das gehen sollte.

Da saß ich also mit einundvierzig Jahren, X-Milliarden Kilometer von der Erde entfernt, weit hinter der Plutobahn, gegen die Ekliptikebene ungefähr fünfzehn Grad gekippt, bemüht, nicht mit meiner Halbschwägerin zu schlafen, bemüht, mit meiner Frau Frieden zu halten, bemüht, in Waffenruhe mit meinem Schwiegervater zu leben. Das waren die großen Probleme, mit denen ich jeden Tag erwachte (jedes Mal, wenn man mir erlaubt hatte, zu schlafen), um mich über einen weiteren Tag hinwegzuretten. Um nicht an sie denken zu müssen, versuchte ich immer wieder, an die zwei Millionen Dollar pro Person zu denken, die wir für den Abschluss der Mission erhalten sollten. Wenn sogar das versagte, versuchte ich an die langfristige Bedeutung unseres Fluges zu denken, nicht allein für uns, sondern für alle atmenden Menschen. Das war real genug. Wenn alles gut verlief, würden wir fast die ganze Menschheit vor dem Tod durch Verhungern retten. Das war unübersehbar wichtig. Manchmal erschien es sogar wichtig. Aber es war die Menschheit, die uns in dieses übelriechende Straflager offenbar für alle Ewigkeit gepfercht hatte, und es gab Zeiten, in denen ich – nicht wahr? – beinahe hoffte, sie würden wirklich alle verhungern.


Tag 1283. Ich wurde gerade wach, als ich Vera vor sich hin pfeifen und knistern hörte, wie sie es immer macht, sobald eine Mitteilung kommt, die zum Handeln zwingt. Ich öffnete den Reißverschluss der Spanndecke und schob mich aus unserem Privatabteil, aber der alte Peter hatte sich schon über den Drucker gebeugt.

Er fluchte knarrend.

»Verdammt noch mal! Wir haben eine Kursänderung.«

Ich packte eine Haltestange und stieß mich ab, um selbst zu sehen, aber Janine, vor dem Wandspiegel eifrig damit beschäftigt, ihre Backenknochen nach Pickeln abzusuchen, war vor mir zur Stelle. Sie las die Mitteilung und glitt verächtlich davon. Peter bewegte eine ganze Weile stumm die Lippen und sagte dann scharf: »Das interessiert dich nicht?«

Janine zuckte kaum merklich die Achseln, ohne ihn anzusehen.

Lurvy kam hinter mir aus dem Privatabteil und zog den Reißverschluss ihrer Unterwäsche zu.

»Lass sie in Ruhe, Pa«, sagte sie. »Paul, zieh etwas an.«

Es war besser zu tun, was sie sagte, und außerdem hatte sie Recht. Ärger mit Janine ließ sich am besten vermeiden, wenn man sich gebärdete wie ein Puritaner. Bis ich meine kurze Hose aus dem zerwühlten Bettzeug fischte, hatte Lurvy die Mitteilung schon gelesen. Das war normal; sie war unsere Pilotin.

Sie hob den Kopf und grinste.

»Paul! Wir müssen in etwa elf Stunden eine Korrektur vornehmen, und das ist vielleicht die letzte. Weg da!«, sagte sie zu Peter, der immer noch am Terminal klebte, und zog sich herunter, um Veras Rechnertasten zu bedienen. Sie beobachtete, wie die Flugbahnen auf dem Monitor erschienen, bestätigte per Knopfdruck und jubelte dann: »Dreiundsiebzig Stunden und acht Minuten bis zur Landung!«

»Das hätte sogar ich gekonnt«, beklagte sich ihr Vater.

»Murr nicht, Pa. Drei Tage, und wir sind da. Wenn wir wenden, müssten die Teleskope es sogar zeigen.«

Janine, die wieder dabei war, an ihren Backen zu zupfen, erklärte über die Schulter: »Wir könnten es schon seit Monaten sehen, wenn nicht jemand das große Teleskop demoliert hätte.«

»Janine!« Lurvy gelang es diesmal, sich zu zügeln. Sie sagte mit ihrer Vernunftstimme: »Meinst du nicht, dass das ein Anlass zum Feiern wäre, statt zum Streiten? Natürlich meinst du das, Janine. Ich schlage vor, dass wir alle einen trinken – du auch.«

Ich ging sofort dazwischen, während ich den Gürtel meiner kurzen Hose zuzog – wie das weiterging, wusste ich leider zu gut.

»Setzt du die chemischen Raketen ein, Lurvy? Gut, dann müssen Janine und ich hinaus und die Außenfracht überprüfen. Warum trinken wir das Glas nicht, wenn wir zurückkommen?«

Lurvy lächelte sonnig.

»Gute Idee, Liebster. Aber vielleicht nehmen Pa und ich jetzt einen Kurzen, und dann machen wir noch bei eurer Runde mit, wenn ihr wollt.«

»In den Anzug!«, befahl ich Janine und hinderte sie so daran, die hitzige Antwort, die sie auf der Zunge hatte, auszusprechen. Sie war offenbar vorübergehend zur Versöhnlichkeit entschlossen, weil sie kommentarlos gehorchte. Wir überprüften gegenseitig die Abdichtung, ließen uns zusätzlich von Lurvy und Peter kontrollieren, drängten uns hintereinander in die Schleuse und schwebten an unseren Leinen ins All hinaus. Das Erste, was wir beide taten, war, Richtung Heimat zu blicken – nicht sehr zufrieden stellend; die Sonne war nur noch ein heller Stern, und die Erde konnte ich überhaupt nicht erkennen, obwohl Janine in der Regel behauptete, sie könne es. Das Zweite war, zur Nahrungsfabrik hinüberzublicken, aber da konnte ich auch nichts sehen. Ein Stern sieht praktisch aus wie der andere, vor allem in den unteren Helligkeitsbereichen, wenn fünfzig- oder sechzigtausend davon am Himmel stehen.

Janine arbeitete schnell und geschickt, beklopfte die Bolzen der großen Ionentriebwerke, die seitlich an unserem Raumschiff befestigt waren, während ich die Festigkeit der Stahlbänder prüfte. Janine war im Grunde nicht übel. Sie war vierzehn Jahre alt und sexuell erregbar, gewiss, aber sie trug nicht allein die Schuld daran, dass sie keine geeignete Person hatte, an der sie sich als Frau erproben konnte. Außer mir und, noch unbefriedigender, ihrem Vater.

Alles war in Ordnung, wovon wir natürlich überzeugt gewesen waren. Sie wartete schon am Stummel der Aufhängung des großen Teleskops, bis ich fertig war, und ein Maßstab für ihre gute Laune war, dass sie keinen Ton darüber sagte, wer es während der irren Zeit abgebrochen und zugelassen hatte, dass es davonschwebte. Ich ließ sie zuerst ins Schiff zurückkehren, während ich noch zwei Minuten draußen blieb. Nicht, weil mir die Aussicht besonders gut gefallen hätte, sondern deshalb, weil diese Minuten im Weltraum in dreieinhalb Jahren praktisch die einzigen waren, in denen ich so etwas wie allein sein konnte.

Wir flogen noch immer mit über drei Kilometern in der Sekunde. Aber da es nichts gab, woran man das messen konnte, fiel es natürlich nicht auf. Es sah ganz so aus, als bewegten wir uns überhaupt nicht, wie fast die ganze Zeit während der dreieinhalb Jahre. Eine der Geschichten, die wir alle immer wieder vom alten Peter gehört hatten, betraf seinen Vater, der beim Werwolf gewesen war. Er konnte nicht älter gewesen sein als sechzehn, als der große Krieg zu Ende ging. Seine Hauptaufgabe bestand darin, Düsenmotoren zu einem Geschwader der Luftwaffe zu transportieren, das gerade mit Maschinen vom Typ Me 210 ausgerüstet worden war. Peter behauptet, sein Papa sei mit der bedauernden Äußerung gestorben, die Motoren nicht mehr rechtzeitig zum Geschwader befördert zu haben, damit es die Lancasters und B 17 abschießen und den Endsieg hätte sicherstellen können. Wir fanden das alle sehr komisch – jedenfalls noch beim ersten Anhören. Aber das war eigentlich nicht das Komische. Das Komischste war, wie der Naziknabe die Motoren beförderte. Mit einem Gespann. Nicht einmal Pferde. Ochsen. Nicht einmal auf einem Karren – es war ein Schlitten! Die allermodernsten Düsenturbinen – und um sie zum Einsatz zu bringen, bedurfte es eines wuschelhaarigen Jungen mit einer Gerte, der bis zu den Knöcheln in Kuhdung watete.

Während ich auf der Stelle schwebte und durch den Raum kroch, auf einer Reise, die ein Hitschi-Schiff in einem einzigen Tag bewältigt hätte, verspürte ich ein gewisses Mitgefühl für Peters Vater. So verschieden waren wir gar nicht. Bei uns fehlte nur der Kuhdung.


Tag 1284. Die Kursänderung ging völlig glatt vonstatten, nachdem wir uns alle in unsere Lebenserhaltungssysteme gezwängt und in die Beschleunigungsliegen gequetscht hatten, die unseren Luft- und Messgeräten genau angepasst waren. Angesichts des winzigen Delta-Vektors, um den es ging, lohnte sich die Mühe kaum. Gar nicht davon zu reden, dass Lebenserhaltungssysteme nicht viel nützten, wenn so viel fehlen sollte, dass wir sie brauchten, fünftausend AE von zu Hause entfernt. Aber wir hielten uns an die Vorschriften, denn so hatten wir es schon dreieinhalb Jahre lang gemacht.

Und nachdem wir gewendet hatten und die chemischen Raketen gezündet hatten und wieder verstummt waren und die Arbeit abermals den Ionentriebwerken überließen, und nachdem Vera herumgetan und gegluckst und zögernd mitgeteilt hatte, soweit sie erkennen könne, scheine alles in Ordnung zu sein – vorbehaltlich der Bestätigung durch die Erde einige Wochen später, natürlich –, sahen wir sie! Lurvy verließ als Erste ihren Sessel und war an den Schirmen, die sie binnen Sekunden auf Scharfeinstellung brachte.

Wir blieben und starrten sie an: die Nahrungsfabrik!

Sie tanzte Ärgernis erregend im Metallspiegel und war schwer festzuhalten. Selbst eine Ionenrakete verleiht einem Raumschiff eine gewisse Vibration, und wir waren immer noch weit entfernt, aber da war sie. Sie schimmerte in der von vereinzelten Sternen durchsetzten Dunkelheit bläulich, seltsam geformt. Sie hatte die Größe eines Bürogebäudes und war noch am ehesten rechteckig. Aber ein Ende war abgerundet, und an einer Seite schien ein langes, gewölbtes Stück zu fehlen.

»Glaubst du, sie hat einen Treffer abbekommen?«, fragte Lurvy angstvoll.

»Ach, keine Spur«, knurrte ihr Vater. »Sie ist so gebaut. Was wissen wir über Hitschi-Konstruktionen?«

»Woher weißt du das?«, fragte Lurvy, aber ihr Vater ging nicht darauf ein. Er brauchte es auch nicht; wir wussten alle, dass er es nicht wissen konnte und nur aus der Hoffnung heraus sprach, denn wenn sie beschädigt war, saßen wir in der Klemme. Unsere Prämien wurden schon fürs Hinfliegen bezahlt, aber unsere Hoffnungen auf echten Gewinn – den einzigen Gewinn, der sieben qualvolle Flugjahre aufwiegen konnte – ruhten darauf, dass die Nahrungsfabrik funktionierte. Oder wenigstens gründlich studiert und nachgebaut werden konnte.

»Paul«, sagte Lurvy plötzlich, »sieh dir die Seite an, die sich eben wegdreht – sind das nicht Schiffe?«

Ich kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, was sie sah. An der langen geraden Seite des Gebildes gab es ein halbes Dutzend Ausbuchtungen, drei oder vier kleinere und zwei ziemlich große. Sie sahen ganz aus wie das, was ich vom Gateway-Asteroiden gesehen hatte, soweit ich das zu beurteilen vermochte. Aber …

»Du bist Prospektor gewesen«, gab ich zurück. »Was meinst du?«

»Ich glaube, es sind Schiffe. Aber, du meine Güte, hast du die zwei letzten gesehen? Sie waren riesig. Ich bin in Einern und Dreiern gewesen, aber in nichts von der Art dort. Die könnten, ich weiß nicht, fünfzig Leute aufnehmen. Wenn wir solche Schiffe hätten, Paul … wenn wir solche Schiffe hätten …«

»Wenn, wenn«, fauchte ihr Vater. »Wenn wir solche Schiffe hätten und sie dahin lenken könnten, wo wir hinwollen, ja, dann würde uns die Welt gehören. Hoffen wir, dass sie noch funktionieren. Hoffen wir, dass überhaupt noch etwas funktioniert.«

»Bestimmt, Vater«, ertönte eine liebliche Stimme hinter uns. Wir drehten uns um. Janine kniete unter dem Verarbeiter und hielt uns eine Quetschflasche von unserem besten selbstgemachten, aus Altstoffen gewonnenen Kornbranntwein vor Augen. »Ich würde sagen, das muss gefeiert werden.« Sie lächelte.

Lurvy sah sie nachdenklich an, aber sie hatte sich gut in der Hand und erwiderte nur: »Na, das ist aber eine gute Idee, Janine. Lass sie herumgehen.«

Janine trank einen damenhaften kleinen Schluck und gab ihrem Vater die Flasche.

»Ich dachte, du und Lurvy, ihr mögt einen Gutenachtschluck«, sagte sie nach einem Räuspern. Sie durfte erst seit ihrem vierzehnten Geburtstag Hochprozentiges trinken, es schmeckte ihr immer noch nicht, und sie beharrte nur darauf, weil es ein Vorrecht der Erwachsenen war.

»Gute Idee«, sagte Peter nickend. »Ich bin jetzt, wie viel sind es, ja, fast zwanzig Stunden auf den Beinen. Wir sollten alle noch ein wenig schlafen, bevor wir landen«, fügte er hinzu und gab die Flasche an meine Frau weiter, die einen Zehntelliter in ihre geübte Kehle spritzte und sagte: »Ich bin eigentlich noch gar nicht schläfrig. Wisst ihr, was ich machen möchte? Am liebsten würde ich noch einmal das Band von Trish Bover abspielen.«

»Ach du guter Gott, Lurvy! Das haben wir alle schon x-mal gesehen!«

»Ich weiß, Janine. Du brauchst es dir auch nicht anzusehen, wenn du nicht willst, aber ich habe mich immer wieder gefragt, ob eines dieser Schiffe jenes von Trish ist, und … na ja, ich will es mir einfach noch einmal ansehen.«

Janines Lippen wurden schmal, aber die Gene setzten sich durch, und ihre Selbstbeherrschung war so stark wie die ihrer Schwester, wenn sie wollte – das gehörte zu den Dingen, auf die wir geprüft wurden, bevor man uns die Mission übertrug.

»Ich wähle es an«, sagte sie und stieß sich ab, zu Veras Tastatur hinüber. Peter schüttelte den Kopf und zog sich in sein Privatabteil zurück. Er zog die Falttafel zu, um uns auszusperren, und wir anderen versammelten uns um die Konsole. Weil es ein Band war, konnten wir die Aufzeichnung optisch wie akustisch verfolgen. Nach ungefähr zehn Sekunden konnten wir die arme, zornige Trish Bover sehen, wie sie in die Kamera sprach und die letzten Worte sagte, die je ein Mensch von ihr hören sollte.

Tragisches kann nur für eine gewisse Zeit tragisch sein, und wir hatten das nun dreieinhalb Jahre lang immer wieder gehört. Das Band spielten wir regelmäßig ab und betrachteten die Szenen, die sie mit ihrer Handkamera aufgenommen hatte. Nicht, weil wir glaubten, mehr daraus zu erfahren, als die Leute von der Gateway-Gesellschaft bereits entnommen hatten, sondern weil wir uns noch einmal vergewissern wollten, dass sich alles lohnte. Die wahre Tragödie war die, dass Trish nicht wusste, was sie gefunden hatte.

»Hier ist Flugbericht Null. Vierundsiebzig D Neunzehn«, begann sie, noch ganz ruhig. Ihr trauriges, armes Gesicht versuchte sogar zu lächeln. »Ich scheine in Schwierigkeiten zu sein. Ich bin bei einer Art Hitschi-Gebilde herausgekommen und habe angedockt, und jetzt kann ich nicht mehr weg. Die Raketen der Landekapsel funktionieren, aber die Hauptkonsole nicht. Und ich will nicht hier bleiben, bis ich verhungere.« Verhungern! Nachdem die großen Wissenschaftler Trishs Aufnahmen durchgesehen hatten, erkannten sie, was das für ein »Gebilde« war – die CHON-Nahrungsfabrik, nach der sie immer schon gesucht hatten.

Aber ob es sich lohnte, war immer noch eine offene Frage, und Trish glaubte ganz sicher nicht, dass es sich lohnte. Sie glaubte vielmehr, dass sie dort sterben würde; dass sie nicht einmal ihren Lohn für den Flug kassieren konnte. Und ganz am Ende versuchte sie, mit der Landekapsel zurückzugelangen.

Sie stieg in die Kapsel und richtete sie auf die Sonne, schaltete die Motoren ein und nahm eine Pille. Nahm viele Pillen; alle, die sie hatte. Dann stellte sie die Kühlanlage auf höchste Leistung, setzte sich hin und schloss die Tür hinter sich.

»Taut mich auf, wenn ihr mich findet«, sagte sie, »und vergesst meine Belohnung nicht.«

Und vielleicht würde man das wirklich nicht vergessen. Sobald man sie fand. Falls man sie fand. Vielleicht in zehntausend Jahren. Bis ihre schwache Funkbotschaft von jemandem gehört wurde – vielleicht bei der fünfhundertsten automatischen Wiederholung –, war es viel zu spät, als dass das für Trish noch eine Rolle gespielt hätte; sie antwortete nie.

Vera spielte das Band bis zu Ende ab und verstaute es dann wieder in ihrem Archiv; der Bildschirm wurde dunkel.

»Wäre Trish eine richtige Pilotin gewesen, statt eine von diesen wilden Gateway-Sucherinnen, die reinspringen, auf den Knopf drücken und das Raumschiff machen lassen, was es will«, sagte Lurvy, übrigens nicht zum ersten Mal, »hätte sie sich besser ausgekannt. Sie hätte den schmalen Delta-Vektor der Landekapsel genutzt, um einen Teil des Massenträgheitsmoments zu verringern, statt den Rest zu vergeuden, indem sie schnurgerade zielte.«

»Danke, Pilotenexpertin«, sagte ich, auch nicht zum ersten Mal. »Dann hätte sie damit rechnen können, viel früher im Asteroidengürtel zu sein, nicht? Vielleicht schon in sechs- oder siebentausend Jahren.«

Lurvy zog die Schultern hoch.

»Ich gehe zu Bett«, sagte sie und bediente sich ein letztes Mal aus der Flasche. »Und du, Paul?«

»Ach, seid doch nicht so«, sagte Janine. »Ich wollte Paul bitten, dass er mir hilft, die Zündabläufe für die Ionentriebwerke durchzugehen.«

Lurvy war sofort auf der Hut.

»Bist du sicher, dass er nur das mit dir durchgehen soll? Schmoll nicht, Janine. Du weißt, du bist das oft genug durchgegangen, und außerdem ist das Pauls Aufgabe.«

»Und was ist, wenn Paul ausfällt?«, gab Janine sofort zurück. »Woher wissen wir, dass wir nicht gerade dann in die irre Zeit geraten, wenn wir dabei sind?«

Das konnte nun wirklich niemand wissen, und ich war im Übrigen schon zu der Meinung gelangt, dass uns das passieren würde. Dieses Phänomen trat regelmäßig in Abständen von ungefähr hundertdreißig Tagen auf, ein Dutzend Tage hin oder her. Wir kamen knapp hin.

»Ich bin eigentlich ein bisschen müde, Janine«, erklärte ich. »Ich verspreche dir, dass wir das morgen machen.«

Oder eben dann, wenn gleichzeitig einer von den anderen wach war – es kam vor allem darauf an, mit Janine nicht allein zu sein in einem Schiff mit dem Gesamtrauminhalt eines Motelzimmers. Man würde sich wundern, wie schwer es ist, sich in einem Raumschiff mit dem Gesamtrauminhalt eines Motelzimmers einzurichten. Praktisch unmöglich.

Aber in Wirklichkeit war ich nicht müde, und als Lurvy neben mir eingeschlafen war – ihre Atmung war zu leise, als dass man sie irgendwie ein Schnarchen hätte nennen können –, reckte ich mich im Bett. Ich war hellwach und zählte auf, was positiv war. Das musste ich mindestens einmal am Tag tun. Wenn ich etwas zum Aufzählen finden konnte.

Diesmal fand ich etwas Gutes. Viertausend AE. Mehr als viertausend AE stellen eine lange Reise dar – und das in Luftlinie. Oder eigentlich in Photonenlinie, weil es im interstellaren Raum nur sehr wenig Luft gibt. Sagen wir, eine halbe Billion Kilometer, da fehlte nicht viel. Und wir flogen in einer Spirale hinaus, was fast einen ganzen Umlauf um die Sonne ausmachte, bevor wir ans Ziel kamen. Unsere Bahn erstreckte sich nicht bloß über 25 Lichttage, es waren schon eher 60. Und bei gleichmäßigem Antrieb während des gesamten Weges kamen wir an die Lichtgeschwindigkeit nicht einmal heran. Dreieinhalb Jahre … und die ganze Zeit über dachten wir: Mensch, was ist, wenn einer sich mit dem Hitschi-Antrieb auskennt, bevor wir dort sind? Geholfen hätte uns das gar nichts. Es wäre viel mehr Zeit vergangen als dreieinhalb Jahre, bevor man dazu hätte kommen können, all das zu tun, was man tun wollte, wenn es einmal so weit war. Und rate mal einer, wo auf der Liste das Vorhaben gestanden hätte, uns nachzufliegen.

Das Schöne, worüber ich also nachdenken konnte, war, dass wir wenigstens nicht vor der Erkenntnis stehen würden, der Flug sei umsonst gewesen, weil wir fast schon an Ort und Stelle waren.

Alles, was noch übrig blieb, war, die großen Ionentriebwerke an der Fabrik festzumachen … nachzuprüfen, ob das funktionierte … den langsamen Rückflug anzutreten, das Ding zurück zur Erde zu schieben … und auf irgendeine Weise zu überleben, bis wir dort waren. Sagen wir, na ja, noch einmal vier Jahre.

Ich befasste mich lieber wieder mit der tröstlichen Tatsache, dass wir fast am Ziel waren.


Der Gedanke, Kometen zur Nahrungsgewinnung auszubeuten, war nicht neu, er ging mindestens zurück auf Krafft Ehricke in den 1950-ern, nur hatte er vorgeschlagen, die Menschen sollten sie kolonisieren. Das ergab Sinn. Bring ein bisschen Eisen und Spurenelemente mit – das Eisen, um etwas zu bauen, in dem du unterkommen kannst, die Spurenelemente, um CHON-Nahrung in Zwiebelkuchen oder Hamburger zu verwandeln –, und du kannst auf unbestimmte Zeit von dem Angebot ringsum leben. Denn daraus bestehen Kometen. Ein bisschen Staub, etwas Gestein und enorm viel gefrorene Gase. Und was sind das für Gase? Sauerstoff. Stickstoff. Wasserstoff. Kohlendioxyd. Wasser. Methan. Ammoniak. Immer wieder dieselben vier Elemente. CHON. Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff, und was kommt heraus, wenn man ihre Symbole in dieser Reihenfolge aufführt? CHON, gesprochen »Chon«.

Die Oort’sche Wolke bestand aus Millionen megatonnengroßer Portionen Essen. Zu Hause auf der Erde blickten zehn oder zwölf Milliarden hungriger Menschen zu ihr hinauf und leckten sich die Lippen.

Es wurde immer noch viel darüber gestritten, was Kometen dort draußen in der Wolke zu suchen hatten. Man konnte sich sogar darüber streiten, ob sie überhaupt in Gruppen auftraten. Öpik erklärte vor hundert Jahren, mehr als die Hälfte aller gesichteten Kometen passten in genau definierte Gruppen, und seine Anhänger glauben das bis heute. Whipple sagte, Quatsch, es gibt keine Gruppe, in der mehr als drei Kometen unterzubringen wären. Dasselbe sagten seine Anhänger. Dann kam Oort daher und versuchte dem Ganzen einen Sinn zu geben. Er stellte sich vor, dass es da eine riesige Schale von Kometen rund um das Sonnensystem gab, und hier und da pickte sich die Sonne einen heraus, der dann bis zum Perihel hereinsauste. Und wir sahen daraufhin den Halleyschen Kometen oder jenen, der als Stern von Bethlehem gilt, oder irgendeinen anderen. Anschließend befasste sich eine ganze Gruppe von Leuten damit und fragte, warum das eigentlich so sei. Es stellte sich heraus, dass es gar nicht sein konnte – jedenfalls dann nicht, wenn man für die Oort’sche Wolke von der Maxwell’schen Geschwindigkeitsverteilung ausgeht. Unterstellt man normale Verteilung, dann muss man nämlich auch davon ausgehen, dass es überhaupt keine Oort’sche Wolke gibt. Man kann aus einer Oort’schen Wolke die beobachteten beinahe parabolischen Bahnen nicht ableiten; das behauptete R. A. Lyttleton. Aber dann erklärte ein anderer: »Na, vielleicht ist die Verteilung auch eine nicht Maxwell’sche!« Und so erwies es sich. Das ist alles zusammengeklumpt. Es gibt Kometenhaufen und riesige Raumvolumina, in denen fast gar keine auftreten.

Und während die Hitschi ihre Maschine ohne Zweifel so eingesetzt hatten, dass sie auf satten Kometenweiden grasen konnte, befand sie sich jetzt, viele hunderttausende von Jahren später, in einer Art Kometenwüste. Wenn sie noch arbeitete, hatte sie wenig Material zum Bearbeiten. (Vielleicht hatte sie alles aufgefressen?)

Ich schlief ein mit dem Gedanken, wie CHON-Nahrung wohl schmecken mochte. Sie konnte nicht viel schlimmer sein als das, was wir dreieinhalb Jahre lang gegessen hatten, nämlich in der Hauptsache uns selbst, wieder verarbeitet.


Tag 1285. Janine hätte mich heute beinahe drangekriegt. Ich spielte Schach mit Vera, alles schlief friedlich, als ihre Hände sich um die großen Kopfhörer legten und meine Augen bedeckten.

»Lass das, Janine«, sagte ich.

Als ich mich umdrehte, schmollte sie.

»Ich wollte nur mit Vera arbeiten«, sagte sie.

»Wozu? Damit du wieder einen heißen Liebesbrief an einen deiner Filmstars schicken kannst?«

»Du behandelst mich wie ein Kind«, sagte sie.

Es konnte als Wunder gelten, dass sie einmal ganz angezogen war; ihr Gesicht glänzte, ihr Haar war feucht und nach hinten gebunden. Sie sah ganz so aus, wie man sich das Idealbild des ernsthaften Teenagers vorstellt. »Was ich wollte«, fuhr sie fort, »war, mit Vera die Triebwerkausrichtung zu üben. Wenn du mir schon nicht hilfst.«

Einer der Gründe dafür, weshalb Janine mitflog, war der, dass sie viel Intelligenz besaß – wie wir alle; das musste so sein, wollte man mitfliegen. Und was sie besonders gut konnte, war, mich in Schwierigkeiten zu bringen.

»Also gut«, sagte ich, »du hast Recht. Vera, unterbrich das Spiel, und gib uns das Programm, mit dem wir der Nahrungsfabrik Antriebskraft verleihen können.«

»Gewiss«, sagte Vera, »… Paul.« Und das Schachbrett verschwand. An seiner Stelle zeigte sie ein Hologramm der Nahrungsfabrik. Sie hatte ihre Daten nach den Teleskopansichten, die uns vorlagen, auf den neuesten Stand gebracht, sodass der Komplex vollständig gezeigt wurde, komplett mit ihrer Staubwolke und dem Klumpen von schmutzigem Schneeball, der an einer Seite klebte.

»Lösch die Wolke, Vera!«, befahl ich. Die verwaschene Stelle verschwand, und die Nahrungsfabrik präsentierte sich wie eine technische Zeichnung. »Okay, Janine. Wie sieht der erste Schritt aus?«

»Wir docken an«, erwiderte sie sofort. »Wir hoffen, dass die Landekapsel-Nachbildung passt, und docken damit an. Wenn wir nicht andocken können, setzen wir mit Stützen an irgendeinem Punkt der Oberfläche auf; so oder so wird unser Schiff zu einem starren Verbindungsteil des Gebildes, sodass wir unseren Schub für die Lagesteuerung nutzen können.«

»Weiter?«

»Wir montieren gemeinsam Triebwerk Eins ab und befestigen es am Heck der Fabrik – dort.« Sie zeigte auf die entsprechende Stelle des Hologramms. »Wir schließen es hier an die Konsole an, und sobald es montiert ist, schalten wir ein.«

»Lenkung?«

»Vera wird uns die Koordinaten geben – hoppla, entschuldige, Paul.« Sie war von mir und Vera fortgeschwebt und packte mit der Hand meine Schulter, um sich wieder heranzuziehen. Sie ließ die Hand, wo sie war. »Dann wiederholen wir das Ganze bei den fünf anderen Triebwerken. Bis alle laufen, haben wir einen Delta-Vektor von zwei Metern pro Sekunde, geliefert durch den Pu239-Generator. Dann breiten wir die Spiegelfolien aus …«

»Nein.«

»Nein, klar, wir überprüfen zuerst alle Verankerungen, um uns zu vergewissern, dass sie bei Schubbelastung auch halten; na, das setze ich doch voraus. Dann starten wir mit Solarenergie, und wenn wir alles ausgebreitet haben, sollten wir an die zweieinviertel Meter herangekommen sein …«

»Zu Anfang, Janine. Je näher wir herangehen, desto mehr Energie gewinnen wir. Gut. Gehen wir das Gerät durch. Du stützt unser Schiff an dem Rumpf aus Hitschi-Metall ab. Wie machst du das?«

Sie erklärte es mir, und sie wusste tatsächlich alles. Die Sache war nur die, dass aus ihrer Hand auf meiner Schulter eine Hand unter meinem Arm wurde, die über meine Brust glitt und herumzutasten begann, und die ganze Zeit sprach sie von Kaltschweißdaten und Kollimation der Triebwerke. Ihr Gesicht war völlig ernst und konzentriert, und ihre Hand streichelte meinen Bauch. Vierzehn Jahre alt. Aber sie sah nicht aus wie vierzehn, fühlte sich nicht so an, roch nicht so – sie war an Lurvys letzten Tropfen Chanel gewesen. Was mich rettete, war Vera; eine gute Sache, genau überlegt, weil ich das Interesse daran verlor, mich selbst zu retten. Das Hologramm erstarrte, während Janine eines der Triebwerke mit einer zusätzlichen Stütze versah, und Vera sagte: »Arbeitsnachricht geht ein. Soll ich sie vorlesen … Paul?«

»Nur zu.«

Janine zog ihre Hand ein wenig zurück, als das Hologramm verschwand und auf dem Bildschirm folgender Text erschien:


Wir sind ersucht worden, Sie um einen Gefallen zu bitten. Das nächste Auftreten des 130-Tage-Syndroms wird innerhalb der folgenden zwei Monate erwartet. Das Gesundheitsministerium ist der Ansicht, dass eine vollständige optische Aufzeichnung von Ihnen allen mit einer Beschreibung der Nahrungsfabrik und Hinweisen darauf, wie gut die Dinge stehen und wie wichtig das Ganze ist, Spannungen und daraus entstehende Schäden bedeutsam verringern wird. Bitte, halten Sie sich an folgende Anweisungen. Erbitten baldmöglichst Ausführung, damit wir aufzeichnen und Ausstrahlung mit größtmöglicher Wirkung vorbereiten können.


»Soll ich den Verfahrenstext bringen?«, fragte Vera.

»Ja … aber ausgedruckt.«

»Gut … Paul.« Der Bildschirm wurde fahl und leer, und der Drucker begann Blätter auszuspucken. Ich griff danach und las sie, nachdem ich Janine gebeten hatte, ihre Schwester und ihren Vater zu wecken. Sie widersprach nicht. Sie machte zu gern Fernsehen für die Menschen zu Hause, das brachte ihr immer bewundernde Briefe von berühmten Leuten an die tapfere Jungastronautin ein.

Die Anweisungen entsprachen dem Erwarteten. Ich programmierte Vera, sie Zeile für Zeile vor uns abrollen zu lassen, und wir hätten sie im Verlauf von zehn Minuten lesen können. Aber das sollte nicht sein. Janine behauptete, ihre Schwester müsse ihr die Haare waschen, selbst Lurvy erklärte, sie müsse sich schminken, und Peter wollte seinen Bart gestutzt haben. Von mir. Alles in allem vergeudeten wir, wenn man vier Proben mitrechnet, sechs Stunden – nicht gerechnet Strom für einen Monat – für die Fernsehsendung. Wir versammelten uns alle vor der Kamera, blickten zivilisiert und entschlossen drein und erklärten einem Publikum, das die Bilder erst in vier Wochen zu Gesicht bekommen würde, was wir zu tun gedachten. Bis dahin würden wir schon dort sein. Aber ob ihnen das etwas nützte oder nicht, es lohnte sich. Wir hatten seit dem Start auf der Erde acht oder neun Anfälle des 130-Tage-Fiebers durchgemacht. Jedes Mal war es von seinem eigenen Syndrom, Satyriasis oder Depression, Lethargie oder fröhlicher Hochstimmung, begleitet gewesen. Ich hatte mich im Weltraum befunden, als es einmal losgegangen war – auf diese Weise war das große Teleskop zu Schaden gekommen –, und die Chancen, je wieder ins Raumschiff zu gelangen, hatten fifty-fifty gestanden. Es war mir aber einfach gleichgültig gewesen. Ich halluzinierte Einsamkeit und Wut, sah mich gejagt von affenähnlichen Wesen und wünschte mir den Tod. Und zu Hause auf der Erde, bei Milliarden Menschen, die nahezu alle auf die eine oder andere Weise erfasst wurden, war es bei jedem Auftreten die Hölle. Das trat in zunehmendem Maß auf seit zehn Jahren – acht, seitdem es das erste Mal als wiederkehrende Plage erkannt worden war –, und niemand wusste, woher es kam.

Aber alle wünschten sich ein Ende herbei.


Tag 1288. Andocktag! Peter saß an der Steuerung, weil er Vera bei einer solchen Gelegenheit nicht vertraute, während Lurvy über seinem Kopf angeschnallt war und Kurskorrekturen herunterrief. Wir kamen knapp vor der dünnen Wolke aus Partikeln und Gas zum relativen Stillstand, nicht mehr als einen Kilometer von der Nahrungsfabrik selbst entfernt.

Von unseren Plätzen aus, wo Janine und ich in unseren Raumanzügen saßen, war schwer zu erkennen, was draußen vorging. Vorbei an Peters Kopf und Lurvys gestikulierenden Armen konnten wir einzelne Blicke auf die gigantische alte Maschine werfen, aber nicht mehr. Wir sahen nur blau leuchtendes Metall schimmern und konnten ab und zu einen Andockschacht oder den Umriss eines der alten Schiffe erkennen.

»Verdammt noch mal! Ich treibe ab!«

»Nein, tust du nicht, Peter. Das blöde Ding besitzt eine leichte Beschleunigung.«

Und vielleicht einen Stern. Wir brauchten die Lebenserhaltungssysteme eigentlich nicht; Peter stupste uns ganz vorsichtig, wie eine Qualle im Aquarium. Ich wollte fragen, woher die Beschleunigung kam und wozu sie gut war, aber die beiden Piloten hatten zu tun, und außerdem nahm ich nicht an, dass sie die Antwort kannten.

»Gut so. Und jetzt lenk es in den Andockschacht in der Mitte der drei Öffnungen.«

»Warum in den?«

»Warum nicht? Weil ich es sage!«

Wir schoben uns ein, zwei Minuten lang heran und kamen wieder zum relativen Stillstand. Dann passten wir uns der Beschleunigung an und rasteten ein. Die Hitschi-Kapsel am Bug fügte sich genau in den uralten Schacht.

Lurvy griff hinunter und schaltete die Konsole ab. Wir sahen einander an. Wir waren da.

Oder, um es anders auszudrücken, wir hatten die Hälfte geschafft. Noch einmal so weit, bis wir zu Hause waren.


Tag 1290. Es war keine Überraschung, dass die Hitschi eine Atmosphäre geatmet hatten, in der wir überleben konnten. Das Wunder war, dass es hier noch etwas davon gab, nach all den – zig oder hunderten von Jahrtausenden, seitdem jemand davon etwas geatmet hatte. Und das war nicht die einzige Überraschung.

Es war nicht nur die Atmosphäre, die überdauert hatte. Das ganze Schiff hatte überdauert – und es funktionierte! Wir wussten das sofort, als wir das Innere betraten und die Sonden uns zeigten, dass wir die Helme abnehmen konnten. Die blau schimmernden Metallwände fühlten sich warm an, und wir spürten ein schwaches, gleichmäßiges Vibrieren. Die Temperatur lag bei etwa zwölf Grad – kühl, aber nicht ärger als in manchen Häusern auf der Erde, in denen ich gewesen bin. Wollen Sie raten, was die ersten Worte waren, die von menschlichen Wesen im Inneren der Nahrungsfabrik gesprochen wurden? Sie kamen von Peter und lauteten: »Zehn Millionen Dollar! Mein Gott, vielleicht sogar hundert!«

Und wenn er es nicht gesagt hätte, dann eben ein anderer von uns. Unsere Prämie würde in astronomische Höhen klettern. Trishs Bericht hatte nicht erwähnt, ob die Nahrungsfabrik funktionierte oder nicht – sie hätte, was unser Wissen anging, ebenso gut ein geborstenes Wrack sein können, entleert von allem, das sie zu einem lohnenden Ziel machte. Aber hier hatten wir ein vollständiges, großes Hitschi-Gebilde vor uns, bei dem alles funktionierte! Es gab einfach nichts, womit man es vergleichen konnte. Die Tunnels auf der Venus, die alten Raumschiffe, sogar Gateway selbst waren vor einer halben Million Jahren fast völlig ausgeräumt worden. Das hier war eingerichtet! Warm, bewohnbar, summend, durchtränkt von schwacher Mikrowellenstrahlung – lebendig. Es schien nicht im Mindesten alt zu sein.

Wir hatten wenig Gelegenheit, uns umzusehen; je früher wir das Ding zur Erde steuerten, desto eher würden wir kassieren können. Wir genehmigten uns eine Stunde, um in der atembaren Luft umherzugehen, in Räume zu blicken, die mit riesigen blauen und grauen Metallgebilden gefüllt waren, durch Korridore zu schlittern, unterwegs zu essen, einander über die Kommunikatoren zu berichten, was wir fanden; unsere Gespräche wurden von Vera zur Erde weitergeleitet. Dann an die Arbeit. Wir stiegen wieder in die Anzüge und begannen damit, die Außenfracht abzumontieren.

Und da gab es die ersten Schwierigkeiten.

Die Nahrungsfabrik befand sich nicht in einer freien Umlaufbahn. Sie beschleunigte. Irgendein Schub wirkte auf sie ein. Er war nicht groß, weniger als ein Prozent von einem g.

Aber die elektrischen Raketentriebwerke wogen jedes über zehn Tonnen.

Selbst bei nur einem Prozent Echtgewicht waren das über hundert Kilogramm, von zehn Tonnen Trägheit ganz zu schweigen. Als wir das erste Triebwerk abmontierten, löste es sich an einem Ende und begann davonzugleiten. Peter war zur Stelle, um es aufzuhalten, aber das war mehr, als er auf die Dauer verkraften konnte. Ich zog mich hinüber und packte die Außenfracht mit einer Hand, die Halterung, an der sie befestigt gewesen war, mit der anderen, und es gelang uns, das Ding festzuhalten, bis Janine es mit einem Kabel zu sichern vermochte.

Dann zogen wir uns ins Schiff zurück, um nachzudenken.

Wir waren schon jetzt erschöpft. Nach über drei Jahren auf engstem Raum waren wir harte Arbeit nicht mehr gewohnt. Veras Bioanalyse meldete, dass sich in uns Ermüdungsgifte ansammelten. Wir stritten miteinander und ärgerten uns eine Weile gegenseitig, dann gingen Peter und Lurvy schlafen, während Janine und ich uns eine Verschnürung ausdachten, mit der jedes Triebwerk gesichert werden konnte, bevor es losgelassen wurde und an drei langen Kabeln zur Nahrungsfabrik hinüberschwingen durfte, gebremst durch drei dünnere Führungskabel, damit es am Ende der Reise nicht gegen den Rumpf krachte und sich in seine Bestandteile auflöste. Wir hatten zehn Stunden dafür vorgesehen, ein Triebwerk anzubringen. Für das erste benötigten wir drei Tage. Als es endlich befestigt war, stellten wir hohl starrende Wracks dar. Unsere Herzen hämmerten, unsere Muskeln schmerzten am ganzen Körper. Wir schliefen eine ganze Schicht und lungerten ein paar Stunden in der Nahrungsfabrik herum, bevor wir damit anfingen, das Triebwerk zu sichern, damit man es starten konnte. Peter war noch der tatkräftigste von uns; er lief ein halbes Dutzend Korridore hinunter, so weit er konnte.

»Überall Sackgassen«, berichtete er, als er zurückkam. »Das, wohin wir gelangen können, scheint nur etwa ein Zehntel des Ganzen zu sein – es sei denn, wir schneiden Löcher in die Wände.«

»Nicht jetzt«, sagte ich.

»Niemals!«, erklärte Lurvy entschieden. »Alles, was wir tun, ist, dieses Ding zurückzubringen. Wenn einer es zerlegen will, dann erst, wenn wir unser Geld eingesteckt haben.« Sie rieb sich den Bizeps, die Arme vor der Brust verschränkt, und fügte bedauernd hinzu: »Wir sollten lieber anfangen, das Triebwerk zu sichern.«

Wir brauchten dazu noch einmal zwei Tage, aber endlich saß alles. Das Schweißmaterial, das sie uns mitgegeben hatten, um Stahl mit Hitschi-Metall zu verbinden, leistete das Versprochene wirklich. Soweit wir äußerlich feststellen konnten, saß das Ding fest. Wir zogen uns ins Schiff zurück und befahlen Vera, das Triebwerk mit zehn Prozent Schub laufen zu lassen.

Sofort spürten wir einen winzigen Ruck. Es klappte. Wir grinsten uns alle an, und ich griff in meine Privattasche nach der Flasche Champagner, die ich für diese Gelegenheit aufgehoben hatte.

Wieder ein Ruck.

Ein Lächeln nach dem anderen verschwand. Man hätte nur eine einmalige Beschleunigung spüren dürfen.

Lurvy sprang an die Konsole.

»Vera! Anzeige Delta-V!«

Auf dem Bildschirm leuchtete ein Kraftdiagramm auf: die Nahrungsfabrik in der Mitte vorgestellt und Kraftpfeile, die in zwei Richtungen wiesen. Der eine symbolisierte die Kraft unseres Triebwerks, das seine Aufgabe erfüllte, gegen den Rumpf zu drücken. Der andere …

»Zusatzschub, der Kurs jetzt beeinflusst … Lurvy«, meldete Vera. »Vektorergebnis in Richtung und Größenordnung jetzt dasselbe wie vorheriger Delta-V.«

Unsere Rakete drückte gegen die Nahrungsfabrik. Aber viel erreichte sie nicht. Die Fabrik drückte dagegen.


Tag 1298. Wir taten also, was wir allem Anschein nach tun mussten. Wir schalteten alles ab und schrien um Hilfe.

Wir schliefen und aßen und wanderten, wie es schien, ewig in der Fabrik herum, während wir uns wünschten, dass es die Verzögerung von 25 Tagen nicht gab. Vera nützte nicht viel.

»Vollständige Telemetrie übermitteln«, sagte sie, und: »Weitere Anweisungen abwarten.«

Das taten wir ohnehin.

Nach ein, zwei Tagen holte ich den Champagner trotzdem heraus, und wir tranken alle. Bei 0,01 g hatte die Kohlensäure mehr Kraft als die Gravitation, und ich musste meinen Daumen auf die Flasche und die Handfläche auf jedes Glas pressen, um den spritzenden Champagner auszugießen und einzufangen. Aber es gelang uns eine Art Zuprosten.

»Gar nicht schlecht«, sagte Peter, als er seinen Sekt hinuntergeschüttet hatte. »Wenigstens bekommt jeder ein paar Millionen.«

»Falls wir das je erleben«, fauchte Janine.

»Verdirb einem doch nicht alles, Janine. Wir wussten schon beim Abflug, dass die Sache schief gehen könnte.«

Das traf auch zu; das Schiff war so konstruiert, dass wir mit unserem Grundtreibstoff losfliegen und die Photonen-Triebwerke umrüsten konnten, damit wir heimgelangten – in gut vier Jahren oder so.

»Und was dann, Lurvy? Dann bin ich eine achtzehnjährige Jungfrau. Und eine Versagerin.«

»Ach Gott, Janine, lauf eine Weile herum, ja? Ich kann dich nicht mehr sehen.«

Wir waren jetzt unduldsamer miteinander, als wir es die ganze Zeit über im engen Raumschiff gewesen waren. Jetzt, da wir mehr Platz hatten, um uns voneinander zu entfernen – bis zu einem Viertelkilometer –, fielen wir einander mehr auf die Nerven als je zuvor. Ungefähr alle zwanzig Stunden stolperte Veras kleines, dumpfes Gehirn durch seine Zufallsprogramme und präsentierte irgendein neues Experiment: Schubversuche bei ein Prozent Energie, bei dreißig Prozent, sogar voller Schub. Und wir taten uns lange genug zusammen, um die Raumanzüge anzulegen und das auszuführen. Das Ergebnis blieb aber stets dasselbe. Gleichgültig, wie stark wir gegen die Nahrungsfabrik drückten, das Gebilde spürte das und drückte genau mit der richtigen Kraft und genau in der Richtung dagegen, um die gleichmäßige Beschleunigung zu dem Ziel, das sie im Sinn hatte, beizubehalten. Das einzig Nützliche, das Vera lieferte, war eine Theorie: Die Fabrik hatte den Kometen aufgebraucht, den sie ausschlachtete, und zog weiter zu einem neuen. Aber das war nur vom Verstand her interessant. Praktisch half es überhaupt nichts. So wanderte ich herum, meistens allein, und schleppte die Kameras in jeden Raum und jeden Korridor, den wir betreten konnten. Die Aufzeichnungen wurden zur Erde übertragen, doch das alles brachte nichts ein.

Peter fand mühelos die Stelle, an der Trish Bover in die Fabrik gelangt war, und rief uns alle herbei. Wir versammelten uns stumm und besichtigten die Überreste eines längst zerfallenen Essens, die weggeworfene Strumpfhose und die an die Wände gekratzten Inschriften:

TRISH BOVER WAR HIER

und

GOTT SEI MIR GNÄDIG!

»Vielleicht wird Gott es sein«, meinte Lurvy nach einer Weile, »aber ich wüsste nicht, wie jemand anderer es sein könnte.«

»Sie muss hier länger geblieben sein, als ich dachte«, erklärte Peter. »In einigen Räumen liegt alles mögliche Zeug verstreut.«

»Was für Zeug?«

»Meistens alte, verdorbene Nahrung. Auf der anderen Seite, weißt du, wo die Lichter sind.«

Ich wusste es, und Janine und ich gingen hin, um uns das anzusehen. Es war ihre Idee, mir Gesellschaft zu leisten, und ich war zunächst nicht begeistert davon. Aber vielleicht mäßigten die Temperatur von 12° Celsius und der Mangel an etwas Bettähnlichem ihr Interesse, oder vielleicht war sie zu bedrückt und enttäuscht, um sich ihrem Ehrgeiz, die Jungfräulichkeit zu verlieren, zu überlassen. Wir fanden das weggeworfene Essen ohne Mühe. Es sah mir nicht nach Gateway-Rationen aus; zwei waren ungeöffnet, drei größere, vom Umfang einer Scheibe Brot, in etwas Grellrotes gewickelt – es fühlte sich an wie Seide. Von den zwei kleineren war eines grün, das andere so rot wie die übrigen, aber mit rosaroten Pünktchen übersät. Versuchsweise öffneten wir dieses. Es stank nach verfaultem Fisch und war offenkundig nicht mehr genießbar.

Ich ließ Janine dort zurück und suchte die anderen. Sie öffneten das kleine grüne Päckchen. Es roch nicht verdorben, war aber steinhart. Peter schnupperte, leckte daran, brach ein Bröckchen ab und kaute es nachdenklich.

»Überhaupt kein Geschmack«, teilte er uns mit, sah zu uns auf, wirkte erstaunt und grinste plötzlich. »Wartet ihr darauf, dass ich tot umfalle?«, fragte er. »Das glaube ich nicht. Wenn man eine Weile kaut, wird es weich. Wie alte Kekse vielleicht.«

Lurvy zog die Brauen zusammen.

»Wenn es wirklich Nahrung ist …« Sie verstummte und dachte nach. »Wenn das wirklich Nahrung ist und Trish sie hier hat liegenlassen, warum ist sie nicht einfach geblieben? Oder warum hat sie nichts davon erwähnt?«

»Sie war vor Angst völlig durcheinander«, meinte ich.

»Sicher. Aber sie hat einen Bericht aufgezeichnet. Von Nahrung sagte sie kein Wort. Die Gateway-Techniker waren diejenigen, die entschieden, dass das eine Nahrungsfabrik ist, nicht? Und alles, was sie zum Vergleich hatten, war die demolierte Fabrik, die man in der Nähe von Phyllis’ Welt gefunden hat.«

»Vielleicht hat sie es bloß vergessen.«

»Ich glaube nicht, dass sie es vergessen hat«, sagte Lurvy langsam, aber mehr sagte sie nicht. Es gab auch nichts mehr zu sagen. Trotzdem gingen wir an den nächsten Tagen allein kaum durch die Fabrik.


Tag 1311. Vera nahm die Information über die Nahrungspäckchen stumm auf. Nach einiger Zeit zeigte sie auf dem Bildschirm eine Anweisung, den Inhalt der Päckchen zur chemischen und biologischen Überprüfung vorzulegen. Das hatten wir schon von selbst getan, und wenn Vera Schlussfolgerungen zog, gab sie diese nicht bekannt.

Wir übrigens auch nicht. Bei den Gelegenheiten, zu denen wir alle gemeinsam wach waren, unterhielten wir uns hauptsächlich darüber, was wir tun sollten, wenn die Erde für uns keine Möglichkeit finden würde, die Nahrungsfabrik in Bewegung zu setzen. Vera hatte bereits vorgeschlagen, wir sollten die fünf anderen Triebwerke montieren, sie alle gleichzeitig auf vollen Schub bringen und feststellen, ob die Fabrik gegen sechs Triebwerke auf einmal ankam. Veras Vorschläge waren keine Befehle, und Lurvy sprach für uns alle, als sie sagte: »Wenn wir vollen Schub geben und es nicht klappt, besteht die Gefahr, sie zu überdrehen. Sie könnten kaputtgehen. Und wir sitzen fest.«

»Was tun wir, wenn wir genau diesen Befehl von der Erde bekommen?«, fragte ich.

»Wir verhandeln«, sagte Peter, weise nickend. »Wenn sie wollen, dass wir zusätzliche Risiken eingehen, müssen sie extra bezahlen.«

»Übernimmst du das, Pa?«

»Darauf kannst du dich verlassen. Und hört zu. Angenommen, es klappt nicht. Angenommen, wir müssen zurückfliegen. Wisst ihr, was wir dann tun?« Er nickte uns wieder zu. »Wir beladen das Schiff mit allem, was wir tragen können. Wir finden kleine Maschinen, die man abmontieren kann, versteht ihr? Vielleicht stellen wir fest, ob sie funktionieren. Wir stopfen das Schiff mit allem voll, was hineingeht, werfen alles weg, was wir erübrigen können. Lassen die zusätzlichen Triebwerke hier und bringen die großen Maschinen außen an, nicht wahr? Wir könnten zurückkommen mit, mein Gott, ich weiß nicht, Gegenständen im Wert von noch einmal zwanzig, dreißig Millionen Dollar.«

»Und die Gebetsfächer!«, rief Janine und klatschte in die Hände. In dem Raum, in dem Peter die Nahrung gefunden hatte, lagen sie stapelweise. Dort gab es auch noch andere Dinge, eine Art Liege aus Metallgeflecht, tulpenförmige Gebilde an den Wänden, die aussahen wie Kerzenhalter. Aber hunderte von Gebetsfächern. Nach meiner Überschlagsrechnung befanden sich, bei tausend Dollar pro Stück, allein in dem Raum Gebetsfächer im Gesamtwert von einer halben Million Dollar … falls wir am Leben blieben und sie liefern konnten. Nicht mitgerechnet alle anderen Dinge, von denen ich wusste und über die ich im Stillen Inventur machte. Ich war da nicht der Einzige.

»Gebetsfächer sind das wenigste«, meinte Lurvy nachdenklich. »Aber das steht nicht in unserem Vertrag, Pa.«

»Vertrag! Was sollen sie denn mit uns anfangen, uns erschießen? Uns betrügen? Nachdem wir acht Jahre unseres Lebens geopfert haben? Nein. Sie werden uns die Prämien geben.«

Je mehr wie darüber nachdachten, desto besser klang es. Ich schlief mit dem Gedanken ein, welche von den Geräten, die ich gesehen hatte, zurückgebracht werden konnten und was darunter das Wertvollste sein mochte; und ich hatte meine ersten angenehmen Träume, seitdem wir das Triebwerk hatten laufen lassen.

Und ich erwachte mit dem Gezischel von Janines Stimme an meinem Ohr.

»Paps? Paul? Lurvy? Könnt ihr mich hören?«

Ich tauchte hoch, setzte mich auf und schaute mich um. Sie sprach nicht in mein Ohr; es war mein Kommunikator. Lurvy neben mir war wach, und Peter kam um eine Ecke zu uns geeilt. Auch ihre Kommunikatoren waren in Betrieb.

Ich sagte: »Wir hören dich, Janine. Was …«

»Still!«, kam ihr Flüstern, das in weißem Rauschen verzischte, so, als presse sie die Lippen ans Mikrofon. »Nicht antworten, nur zuhören. Hier ist jemand.«

Wir starrten einander an. Lurvy flüsterte: »Wo bist du?«

»Still, sag’ ich! Ich bin draußen am anderen Andockbereich, verstehst du? Wo wir die Nahrung gefunden haben. Ich suchte nach Dingen, die wir mit heimnehmen können, wie Paps gesagt hat, nur … Na ja, ich sah etwas auf dem Boden liegen. Wie ein Apfel, außen rotbraun, innen grün, nur war es keiner … Und das Ding roch wie … ich weiß nicht, wie es gerochen hat. Nach Erdbeeren. Und es war auch keine hunderttausend Jahre alt. Es war frisch. Und ich hörte … wartet mal.«

Wir wagten nicht zu antworten und lauschten kurze Zeit nur ihren Atemzügen. Als sie weitersprach, klang ihr Geflüster angstvoll.

»Es kommt hierher. Es ist zwischen mir und euch, und ich sitze fest. Ich … muss immer wieder denken, dass es ein Hitschi ist, und er wird …«

Ihre Stimme verstummte. Wir hörten sie aufstöhnen, dann rief sie laut: »Komm ja nicht näher!«

Ich hatte genug gehört.

»Los«, sagte ich und sprang zum Korridor.

Peter und Lurvy waren mir auf den Fersen, als wir in weiten Schwimmsprüngen den Tunnel mit seinen blauen Wänden durcheilten. Als wir in die Nähe der Docks gelangten, blieben wir stehen und schauten uns unentschlossen um.

Bevor wir entscheiden konnten, in welcher Richtung wir suchen sollten, wurde Janines Stimme erneut hörbar. Es war weder ein Flüstern noch angstvolles Aufschreien.

»Er … er ist stehen geblieben, als ich es verlangte«, sagte sie ungläubig. »Und ich glaube nicht, dass er ein Hitschi ist. Er sieht mir ganz wie eine normale Person aus – na, irgendwie abgerissen. Er steht nur da, gafft mich an und schnuppert.«

»Janine!«, schrie ich ins Gerät. »Wir sind bei den Docks – welche Richtung von hier aus?«

Pause, dann seltsamerweise eine Art erschrockenes Kichern.

»Nur geradeaus«, sagte sie mit schwankender Stimme. »Aber macht schnell. Ihr … ihr werdet nicht glauben, was er jetzt macht.«

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