Als sie lernte, mit den Alten zu sprechen, erschienen sie ihr eher als Einzelpersonen. Sie waren im Grunde auch gar nicht alt. Oder jedenfalls nicht die drei, die sie am häufigsten bewachten und ihr Essen brachten und sie zu ihren Sitzungen in der langen Nacht der Träume führten. Sie lernten, sie Janine zu nennen oder jedenfalls so, dass es ähnlich klang. Ihre eigenen Namen waren kompliziert, aber jeder Name besaß auch eine Kurzform – Tar oder Tor oder Huai –, und sie hörten darauf, wenn sie etwas brauchte oder auch während ihrer Spiele. Sie waren verspielt wie kleine Hündchen und ebenso besorgt. Wenn sie zermartert und schwitzend aus einem anderen Leben und einem neuen Tod aus dem grellblauen Kokon kam – aus einer anderen Lektion in diesem Lehrgang, den der Älteste ihr verordnet hatte –, war immer einer von ihnen da, um tröstend zu murmeln und sie zu streicheln.

Aber es war nicht genug! Es gab nicht Trost genug, um gutzumachen, was immer und immer wieder in den Träumen geschah.

Jeder Tag war gleich. Ein paar Stunden unruhiger Schlaf, der nicht erfrischte. Eine Gelegenheit zum Essen. Vielleicht ein Spielchen Fangen oder Kitzeln mit Huai oder Tor. Vielleicht eine Gelegenheit, im Himmel herumzugehen, stets unter Bewachung. Dann zogen Tar oder Huai oder einer der anderen sie sanft zum Kokon zurück und steckten sie hinein, und stundenlang, manchmal, so schien es, für ein ganzes Leben, war Janine jemand anderer. Und was das für seltsame Wesen waren! Männlich. Weiblich. Jung. Alt. Wahnsinnig. Verkrüppelt – sie waren alle verschieden. Keiner von ihnen war ganz menschlich. Die meisten waren es überhaupt nicht, vor allem die ersten, ältesten Wesen.

Die Leben, die sie »träumte«, die zeitlich am nächsten waren, glichen dem ihren am meisten. Jedenfalls waren sie die Leben von Wesen nicht unähnlich Tor oder Tar oder Huai. Sie waren in der Regel nicht erschreckend, obwohl sie alle mit dem Tod endeten. In ihnen erlebte sie willkürliche und chaotische Fetzen der gespeicherten Erinnerungen an das kurze und gefahrenreiche oder langweilige und getriebene Leben, das diese Wesen gekannt hatten. Als sie die Sprache ihrer Bewacher zu verstehen begann, kam sie dahinter, dass die Lebenszeiten, die sie durchmachte, jene waren, die man eigens (nach welchen Kriterien?) für die Speicherung ausgewählt hatte. So besaß jede eine eigene Lektion. Alle Träume waren natürlich Lernerfahrungen für sie, und natürlich lernte sie. Sie lernte zu sprechen wie die Lebenden; ihre überschatteten Existenzen zu verstehen; ihr besessenes Bedürfnis des Gehorchens zu begreifen. Sie waren Sklaven! Oder Haustiere? Wenn sie taten, was der Älteste von ihnen verlangte, waren sie gehorsam und damit gut. Wenn sie, was selten vorkam, es nicht taten, wurden sie bestraft.

Dazwischen sah sie ab und zu Wan und von Zeit zu Zeit ihre Schwester. Sie wurden bewusst von ihr ferngehalten. Zunächst begriff sie nicht, warum, dann ging ihr ein Licht auf, und sie lachte im Stillen über den Witz, der zu geheim war, als dass sie ihn selbst mit dem lustigen Tor hätte teilen dürfen. Lurvy und Wan lernten auch und nahmen es nicht besser auf als sie.

Nach dem Ende der ersten sechs »Träume« konnte sie mit den Alten sprechen. Ihre Lippen und die Kehle vermochten ihre zirpenden, gemurmelten Vokale nicht ganz nachzubilden, aber sie konnte sich verständlich machen. Wichtiger noch, sie konnte ihren Befehlen folgen. Das ersparte Ärger. Wenn sie in ihre Zelle zurückkehren sollte, musste man sie nicht stoßen, und wenn sie baden sollte, brauchte man sie nicht auszuziehen. Nach der zehnten Lektion verkehrten sie beinahe freundschaftlich miteinander. Nach der fünfzehnten wusste sie (ebenso Lurvy und Wan) alles, was sie je über den Hitschi-Himmel erfahren konnte, einschließlich der Tatsache, dass die Alten weder jetzt noch früher Hitschi gewesen waren.

Nicht einmal der Älteste.

Und wer war der Älteste? Ihre Lektionen hatten sie das nicht gelehrt. Tar und Huai erklärten, so gut es ihnen gelang, dass der Älteste Gott sei. Das war keine befriedigende Antwort. Er war ein seinen Gläubigen zu ähnlicher Gott, um den Hitschi-Himmel oder irgendeinen Teil davon gebaut zu haben, seinen eigenen Körper eingeschlossen. Nein. Der Himmel war von den Hitschi erbaut, zu welchem Zweck, wussten nur die Hitschi, und der Älteste war kein Hitschi.

Während dieser ganzen Zeit war die riesengroße Maschine wieder bewegungslos, stillgelegt, beinahe tot, ihren schrumpfenden Lebensrest bewahrend. Wenn Janine durch die Mittelspindel ging, sah sie sie dort, still wie eine Statue. Ab und zu huschte um die Außensensoren ein träges Flackern blassen Lichts, so, als stehe sie im Begriff, aufzuwachen und sie vielleicht mit halb geschlossenen Augen zu beobachten. Wenn das geschah, beschleunigten Huai und Tar ihre Schritte. Dann gab es kein Kitzeln oder Fangen. Die meiste Zeit blieb die Maschine aber völlig regungslos. Janine kam eines Tages in ihrem Schatten an Wan vorbei – sie auf dem Weg zum Kokon, er auf dem Rückweg davon – und Huai wagte es, sie kurz miteinander sprechen zu lassen.

»Sie sieht erschreckend aus«, sagte Janine.

»Ich könnte sie für dich zerstören, wenn du willst«, prahlte Wan und blickte nervös über die Schulter auf die Maschine. Aber er hatte es auf Englisch gesagt und war klug genug, nicht für ihre Bewacher zu übersetzen. Doch selbst sein Tonfall beunruhigte Huai, und er trieb Janine weiter.

Janine gewann ihre Bewacher beinahe gern, wie das bei einem großen, sanften Eskimohund der Fall gewesen wäre, der sprechen konnte. Sie brauchte lange Zeit, um eine junge Frau wie Tar als jung oder weiblich anzusehen. Sie hatten alle das gleiche schüttere Gesichtshaar und die dicken Wülste über den Augenhöhlen, wie sie für den reifen männlichen Primaten typisch waren. Aber sie wurden mit der Zeit Einzelpersonen statt Exemplare der Gattung »Gefängniswärter«. Der breitere und dunkelhäutigere der beiden männlichen Wesen wurde »Tor« gerufen, aber das war nur eine Silbe eines langen und verwickelten Namens, von dem Janine lediglich das Wort »dunkel« verstand. Es bezog sich nicht auf seine Hautfärbung. Tor stutzte seinen Bart, sodass er in zwei nach innen gerollten Schnecken von seinem Kinn ragte. Tor machte die meisten Späße und versuchte seine Gefangenen daran teilhaben zu lassen. Tor war derjenige, welcher mit Janine Scherze machte und erklärte, wenn ihr männlicher Begleiter Wan so unfruchtbar sei, wie es den Anschein habe, solange man ihn mit Lurvy zusammensperre, werde er den Ältesten um Erlaubnis bitten, sie selbst befruchten zu dürfen. Janine behielt ihr Wissen über die Ursachen dieser Unfruchtbarkeit für sich; sie verspürte keine Angst. Sie fühlte sich auch nicht abgestoßen, weil Tor ein freundlicher Satyr war, und sie glaubte, den Scherz verstehen zu können. Trotzdem fing sie an, sich nicht länger als rotznäsiges Kind zu betrachten. Jeder lange Traum ließ sie altern. In ihnen erlebte sie den Geschlechtsverkehr, den sie im Leben nie gekannt hatte – manchmal als Frau, manchmal nicht –, und oft Schmerz und am Ende stets den Tod. Die Aufzeichnungen konnten nicht von lebenden Personen stammen, erklärte Huai in einem unverspielten Augenblick, und seine Art war durchaus nicht verspielt, als er beschrieb, auf welche Weise das Gehirn geöffnet und in die Maschine eingegeben wurde, die alle Aufzeichnungen vornahm. Sie wurde noch ein wenig älter, während er ihr das erzählte.

Als die Träume weitergingen, wurden sie fremdartiger und stammten aus ferneren Zeiten.

»Du gehst in sehr alte Zeiten«, sagte Tor zu ihr. »Der hier« – er führte sie zum Kokon – »ist der älteste und damit der letzte Traum. Vielleicht.«

Sie blieb vor der gleißenden Liege stehen.

»Ist das wieder ein Scherz, Tor, oder ein Rätsel?«

»Nein.« Er zupfte mit beiden Händen an seinem Doppelbart. »Dieser wird dir nicht gefallen, Janine.«

»Danke.«

Er grinste, und die Winkel seiner traurigen, sanften Augen zeigten Fältchen.

»Aber es ist der letzte, den ich dir geben kann. Vielleicht … vielleicht wird der Älteste dir dann einen Traum von seinen eigenen geben. Es heißt, dass er das manchmal getan hat, aber ich weiß nicht, wann. Nicht in der Erinnerung von irgendjemandem hier.«

Janine schluckte.

»Das klingt furchterregend«, meinte sie.

Er sagte gütig: »Dieses Erlebnis hat mich sehr erschreckt, Janine, aber denk daran, dass es für dich nur ein Traum ist.« Und er klappte den Kokon über ihr zu, und Janine kämpfte kurz gegen den Schlaf an und scheiterte wie immer … und war jemand anderer.


Es war einmal ein Wesen. Es war weiblich, aber kein »Es«, wenn man Descartes glauben darf, weil es sich seines eigenen Daseins bewusst war, und deshalb eine »Sie«.

Sie hatte keinen Namen. Aber unter ihren Gefährten war sie gezeichnet durch eine große Narbe vom Ohr bis zur Nase, wo der Huf einer sterbenden Beute-Bestie sie beinahe getötet hätte. Das Auge auf dieser Seite war durch die Verletzung beeinträchtigt, und so mochte man sie »Schielauge« nennen.

Schielauge hatte ein Zuhause. Es war nichts Besonderes, nicht mehr als ein gestampftes Nest in einem hohen Büschel wie Papyrus, zum Teil geschützt durch einen Erdhügel. Aber Schielauge und ihre Verwandten kehrten jeden Tag in diese Behausungen zurück, und darin waren sie anders als alle anderen lebenden Wesen, die ihnen glichen. In noch einer anderen Beziehung waren sie ganz unähnlich allem anderen, mit dem zusammen sie aufwuchsen, und das war die Tatsache, dass sie Gegenstände brauchten, die nicht Teil ihrer Körper waren, um Arbeiten damit zu verrichten. Schielauge war nicht schön. Sie war kaum über einen Meter groß. Sie hatte keine Augenbrauen – das Haar auf ihrem Schädel wuchs mit ihnen zusammen, nur Nase und Backenknochen waren frei –, und sie hatte praktisch kein Kinn. Ihre Hände besaßen Finger, aber sie waren gewöhnlich geballt, sodass die Handrücken zernarbt und voller Schwielen waren und sich die Finger nicht gut spreizen ließen – nicht viel besser als die Finger ihrer Füße, mit denen sie beinahe ebenso gut greifen konnte und besser imstande war, die verwundbaren Teile eines Tieres herauszureißen, das ihre Arme umklammerten. Schielauge war schwanger, obwohl sie nichts davon wusste. Schielauge war nach ihrer fünften Regenzeit erwachsen und fruchtbar. In den dreizehn Jahren ihres Lebens war sie neun- oder zehnmal schwanger gewesen; und sie hatte es nie gewusst, bis sie davon Kenntnis nehmen musste, dass sie nicht mehr so schnell laufen konnte, dass die Wölbung ihres Bauches das Ausweiden eines Beute-Tiers erschwerte und dass ihre Zitzen wieder anzuschwellen begannen. Von den fünfzig Angehörigen ihrer Gemeinschaft waren mindestens vier ihre Kinder. Über ein Dutzend der männlichen Wesen waren die Väter der Kinder oder hätten es sein können. Mindestens einer der jungen Männer, die sie als ihre Kinder kannte, mochte durchaus der Vater eines anderen sein – eine Vorstellung, die Schielauge nicht beunruhigt hätte, selbst wenn sie imstande gewesen wäre, solch einen Zusammenhang herzustellen. Was sie mit den Männern tat, wenn das Fleisch unter ihren mageren Gesäßbacken anschwoll und sich rötete, hing für sie nicht mit dem Gebären zusammen. Es hatte auch nichts mit Lust zu tun. Es war ein Jucken, das sie kratzen ließ, sobald es auftrat. Schielauge hatte keine Möglichkeit, »Lust« zu definieren, außer vielleicht als Fehlen von Schmerz. Selbst in diesen Begriffen lernte sie in ihrem Leben wenig davon kennen.

Als die Hitschi-Landefähre über den Wolken brüllte und Feuer ausstieß, rannten Schielauge und ihre ganze Gemeinde davon, um sich zu verbergen. Niemand von ihnen sah sie zu Boden sinken.

Wenn ein Schleppfischer einen Seestern vom Meeresboden schaufelt, hebt ein Spaten ihn aus dem Eimer Schlamm und in einen Behälter, ein Biologe fixiert ihn und seziert sein Nervensystem – weiß der Seestern, was mit ihm geschieht?

Schielauge besaß mehr Bewusstsein als ein Seestern. Aber sie hatte wenig mehr an Erfahrung, um zu verstehen. Nichts, was mit ihr von dem Augenblick an geschah, als ein grelles Licht ihr in die Augen stach, ergab Sinn. Sie spürte nicht die Spitze der Narkosenadel, die sie in Schlaf versetzte. Sie wusste nicht, dass sie in die Landefähre getragen und zusammen mit zwölf ihrer Genossen in eine Kammer gekippt wurde. Sie spürte nicht die erdrückende Beschleunigung, als die Fähre startete, empfand auch nicht die Schwerelosigkeit während der langen Zeit, als sie im Raum schwebten. Sie wusste gar nichts, bis man sie wieder aufwachen ließ, und begriff nicht, was sie dann erlebte.

Nichts war mehr vertraut.

Wasser. Das Wasser, das Schielauge trank, stammte nicht mehr aus dem schlammigen Uferbereich des Flusses. Es befand sich in einem schimmernden, harten Trog. Wenn sie sich bückte, um davon zu trinken, lauerte nichts unter der Oberfläche, um sie anzuspringen.

Sonne und Himmel. Es gab keine Sonne! Es gab keine Wolken und keinen Regen. Es gab harte, blau leuchtende Wände und über dem Kopf ein blau leuchtendes Dach.

Nahrung. Es gab nichts Lebendiges, das man fangen und zerreißen konnte. Es gab flache, harte, geschmacklose Klumpen von Kaubarem. Sie füllten ihren Magen und standen immer zur Verfügung. Gleichgültig, wie viel sie und ihre Genossen aßen, es gab immer noch mehr davon.

Sehen und Hören und Riechen – alles, was sie wahrnahm, war erschreckend! Es gab einen Gestank, den sie nie zuvor gerochen hatte, scharf in ihrer Nase und Angst erregend. Es war der Geruch von Lebendigem, aber sie sah das Wesen nie, zu dem er gehörte. Es gab ein Fehlen normaler Gerüche, das beinahe ebenso schlimm war. Kein Geruch nach Rehwild. Kein Geruch nach Antilope. Kein Geruch nach Katze (was diesmal ein Segen war). Kein Geruch auch nach ihrem eigenen Kot, oder kein sehr starker, weil sie keine Binsen hatten, in denen sie sich ein Nest einrichten konnten, und die Orte, wo sie sich zusammendrängten, um zu schlafen, wurden jedes Mal, wenn sie diese verließen, sauber gespült. Ihr Kind wurde dort geboren, während der Rest des Stammes sich über ihre Grunzlaute beklagte, weil man schlafen wollte. Als sie wach wurde und es hochheben wollte, um den heißen Druck in ihren Zitzen zu mindern, war es fort. Sie sah es nie wieder.

Schielauges Neugeborenes war das erste, das unmittelbar nach der Geburt verschwand. Es war nicht das letzte. Fünfzehn Jahre lang fuhr die kleine Australopithekinenfamilie fort, zu essen und sich zu paaren, Kinder zu gebären und alt zu werden, und ihre Zahl schrumpfte, weil die Kinder sofort nach der Geburt weggenommen wurden. Eines der Weibchen kauerte sich nieder und presste und wimmerte und gebar. Dann schliefen sie alle ein und erwachten, um festzustellen, dass das Kleine verschwunden war. Von Zeit zu Zeit starb ein Erwachsenes oder war dem Ende so nah, dass es zusammengerollt und stöhnend am Boden lag, sodass sie wussten, es würde sich nie mehr erheben. Auch dann schliefen sie wieder alle, und dieses Erwachsene oder die Leiche davon war verschwunden, sobald sie wach wurden. Sie waren dreißig, dann zwanzig, dann zehn – dann nur noch eines. Schielauge war das letzte Wesen, mit neunundzwanzig Jahren eine uralte Frau. Sie wusste, dass sie alt war. Sie wusste nicht, dass sie starb, nur, dass sich in ihrem Bauch ein grauenhafter, vernichtender Schmerz breit machte, der sie ächzen und schluchzen ließ. Sie wusste es nicht, als sie tot war. Sie wusste nur, dass dieser Schmerz aufhörte, dann war sie sich eines anderen Schmerzens bewusst. Nicht eigentlich Schmerzen. Fremdartigkeit. Gefühllosigkeit. Sie sah, aber sie sah seltsam flach, seltsam flackernd, in einem sonderbar verzerrten Farbenbereich. Sie war das neue Sehen nicht gewohnt und erkannte nicht, was sie sah. Sie versuchte die Augen zu bewegen, und das ging nicht. Sie versuchte Kopf oder Arme oder Beine zu bewegen und konnte es nicht, weil sie das alles nicht hatte. Sie blieb beträchtliche Zeit in diesem Zustand.

Schielauge war kein Präparat in dem Sinn, wie das lebendige, aber freigelegte Nervensystem des spröden Seesterns eines Biologen ein Präparat ist. Sie war ein Versuch.

Einen großen Erfolg stellte sie nicht dar. Der Versuch, ihre Persönlichkeit maschinell zu speichern, scheiterte nicht aus den Gründen, die frühere Experimente beendet hatten, durchgeführt an den anderen Angehörigen ihres Stammes: schlechte Anpassung der Chemie an Rezeptoren; unvollständige Informationsübertragung; falsche Verschlüsselung. Die Hitschi-Experimentatoren setzten sich der Reihe nach mit allen diesen Problemen auseinander und lösten sie. Ihr Versuch scheiterte oder gelang nur zum Teil aus einem anderen Grund. Es gab in dem Wesen, das als »Schielauge« erkennbar war, nicht genug Persönlichkeit, um diese zu erhalten. Es war keine Biographie, nicht einmal ein Tagebuch. Es war eher so etwas wie das Einzelergebnis einer Volkszählung, begleitet von Schmerz und illustriert von Angst.

Aber das war nicht das einzige Experiment, das die Hitschi betrieben.

In einem anderen Teil der ungeheuren Maschine, die in einer Entfernung von einem halben Lichtjahr die Erdsonne umkreiste, begannen die gestohlenen Säuglinge zu gedeihen. Sie führten ein Leben, das von dem Schielauges völlig verschieden war – ein Leben, gezeichnet von automatischer Pflege, heuristischen Versuchen und programmierten Herausforderungen. Die Hitschi erkannten, dass diese Australopithekinen zwar weit davon entfernt waren, intelligent zu sein, aber den Samen weiserer Nachkommen in sich trugen. Sie beschlossen, den Prozess zu beschleunigen.

In den fünfzehn Jahren zwischen dem Herausschälen der Kolonie aus ihrer prähistorischen afrikanischen Heimat und dem Tod Schielauges gab es nicht viel an Entwicklung. Die Hitschi waren nicht entmutigt. In fünfzehn Jahren erwarteten sie nicht viel. Sie hegten viel weitreichendere Pläne.

Da ihre Pläne von ihnen auch verlangten – und zwar von allen –, dass sie anderswo sein sollten, lange bevor aus den Augen eines der Nachkommen Schielauges wahre Intelligenz strahlte, trafen sie entsprechende Vorbereitungen. Sie konstruierten und programmierten das künstliche Gebilde so, dass es ewig halten würde. Sie sorgten dafür, dass es aus einem passenden Verarbeiter von Kometenmaterial mit CHON-Nahrung versorgt wurde. Diesen hatten sie schon in Betrieb genommen, um andere ihrer Einrichtungen zu versorgen, und vom Potenzial her war er langlebig. Sie konstruierten Maschinen, um die Begabungen von Nachkommen der Neugeborenen von Zeit zu Zeit zu prüfen und so oft wie nötig den Versuch zu wiederholen, ihre Persönlichkeiten zur späteren Betrachtung maschinell zu speichern – falls irgendwann jemand von ihnen zurückkommen sollte, um zu erfahren, wie das Experiment ausgegangen war. Sie hätten das angesichts ihrer anderen Pläne als höchst unwahrscheinlich eingeschätzt.

Immerhin umfassten ihre Pläne sehr viele Alternativen, die allesamt zur gleichen Zeit bestanden; denn das Ziel ihrer Pläne war ihnen sehr wichtig. Niemand von ihnen mochte jemals zurückkommen, aber vielleicht kam irgendjemand.

Da Schielauge auf keine nutzbringende Weise sich verständigen oder handeln konnte, löschten die Hitschi-Experimentatoren sparsam die affektiven Teile ihrer Speicherung und behielten sie nur als eine Art Nachschlagewerk in einem Fach, damit spätere Beobachter, welcher Art sie auch sein mochten, es zu Rate ziehen konnten. (Es war das, was Janine zu benutzen gezwungen wurde, indem sie noch einmal durchlebte, was Schielauge vor so vielen hunderttausend Jahren erlebt hatte.) Sie hinterließen bestimmte Hinweise und Daten für den Gebrauch späterer Generationen, die sie eines Tages verstehen mochten. Sie machten hinter sich Ordnung, wie sie das immer taten. Dann entfernten sie sich und überließen es dem Rest jenes Experiments, neben all ihren anderen Experimenten, weiter abzulaufen.

Achthunderttausend Jahre lang.


»Janine«, stöhnte Huai, »Janine, bist du tot?«

Sie blickte zu seinem Gesicht hinauf, zunächst unfähig, die Augen scharfzustellen, sodass er aussah wie ein verschwommener, breiter Mond, unter dem ein doppelter Kometenschweif wackelte.

»Hilf mir hoch, Huai«, schluchzte sie. »Bring mich zurück.« Von allen Träumen war das der schlimmste gewesen. Sie fühlte sich vergewaltigt, geschändet, verändert. Ihre Welt würde nie mehr dieselbe sein. Janine kannte das Wort »Australopithekin« nicht, aber sie wusste, dass das Leben, das sie eben geteilt hatte, ein tierisches gewesen war. Schlimmer als das eines Tieres, weil irgendwo in Schielauge der Funke für die Erfindung des Denkens geschwelt hatte, und damit die unerwünschte Fähigkeit, sich zu fürchten.

Janine war erschöpft und kam sich älter vor als der Älteste. Gerade erst fünfzehn geworden, war sie kein Kind mehr. Dieses Konto war überzogen. Für sie war keine Kindheit mehr übrig. An der Kammer mit den schrägen Wänden, ihrer Zelle, blieb sie stehen.

Huai sagte angstvoll: »Janine? Was ist denn?«

»Es gibt einen Witz, den ich dir erzählen muss«, sagte sie.

»Du magst doch keine Witze«, gab er zurück.

»Es ist aber ein komischer. Hör zu. Der Älteste hat Wan mit meiner Schwester zusammengesperrt, damit sie sich fortpflanzen. Aber bei meiner Schwester geht das nicht. Sie hat eine Operation gehabt, damit sie nie mehr Kinder bekommen kann.«

»Das ist kein guter Witz«, protestierte er. »Niemand würde so etwas tun!«

»Sie hat es getan, Huai.« Sie fügte rasch hinzu: »Hab keine Angst. Du wirst nicht bestraft. Aber bring den Jungen jetzt zu mir.«

Seine sanften Augen schwammen in Tränen.

»Wie soll ich keine Angst haben? Vielleicht sollte ich den Ältesten wecken und ihm sagen …« Dann flossen die Tränen; er war außer sich vor Angst.

Sie tröstete ihn und redete ihm gut zu, bis andere Alte kamen und er ihnen den schrecklichen Witz erzählte. Janine legte sich auf ihr Polster und verschloss die Ohren vor ihrem erregten, angstvollen Geschnatter. Sie schlief nicht, lag aber mit geschlossenen Augen da, als sie Wan und Tor an die Tür kommen hörte. Als der Junge hereingeschoben wurde, stand sie auf und trat ihm entgegen.

»Wan«, sagte sie, »ich möchte, dass du deine Arme um mich legst.«

Er sah sie mürrisch an. Niemand hatte ihm erklärt, worum es hier ging, und auch Wan hatte seine Stunde in der Liege zusammen mit Schielauge hinter sich. Er sah schrecklich aus. Er hatte nie richtig Gelegenheit gehabt, sich von der Grippe zu erholen, er war nicht ausgeruht, hatte sich nicht an die großen Veränderungen in seinem Leben gewöhnt, seitdem er den Herter-Halls begegnet war. Er hatte Ringe unter den Augen und aufgesprungene Lippen. Seine Füße waren schmutzig, ebenso seine zerfetzte Kleidung.

»Hast du Angst, dass du hinfällst?«, fragte er schrill.

»Ich habe keine Angst, dass ich hinfalle, und ich möchte, dass du richtig mit mir redest. Quietsch nicht.«

Er wirkte verblüfft, aber seine Stimme sank zu der tieferen Lage herab, die sie ihm beizubringen versucht hatte.

»Warum denn?«

»Ach, Wan.« Sie schüttelte ungeduldig den Kopf und trat nach vorn. Es wäre nicht nötig gewesen, ihm zu sagen, was er tun sollte. Seine Arme schlossen sich automatisch um sie – beide in derselben Höhe, als wäre sie ein hochzuhebendes Fass, die Handflächen auf ihre Schulterblätter gepresst. Sie drückte ihre Lippen auf die seinen, hart, trocken und geschlossen, dann löste sie sich von ihm. »Weißt du noch, was das ist, Wan?«

»Natürlich! Das ist ›küssen‹.«

»Aber wir machen es falsch, Wan. Warte. Mach es noch einmal, während ich das tue.« Sie schob ihre Zungenspitze zwischen ihre fast geschlossenen Lippen und fuhr damit über seine geschlossenen. »Ich glaube, das ist besser, findest du nicht?«, sagte sie, als sie den Kopf zurückbog. »Ich habe dabei das Gefühl … ich habe das Gefühl … ein bisschen so, als würde ich mich übergeben.«

Erschrocken wollte er zurücktreten, aber sie folgte ihm.

»Nicht wirklich übergeben, aber ganz merkwürdig.«

Er blieb verkrampft bei ihr, das Gesicht abgewandt, aber seine Miene wirkte bedrückt. Sorgfältig mit tieferer Stimme sprechend, sagte er: »Tiny Jim sagt, die Leute tun das vor dem Paaren. Oder eine Person tut es manchmal, um zu erkennen, ob eine andere Person brünstig ist.«

»Brünstig, Wan! Das ist abscheulich. Sag ›verliebt‹.«

»Ich glaube, ›verliebt‹ ist anders«, meinte er störrisch, »aber auf jeden Fall gehört Küssen zum Paaren. Tiny Jim sagt …«

Sie legte ihre Hände auf seine Schultern.

»Tiny Jim ist nicht hier.«

»Nein, aber Paul will nicht, dass wir …«

»Paul ist nicht hier«, sagte sie und streichelte seinen schlanken Hals mit den Fingerspitzen, um zu sehen, wie sich das anfühlte. »Lurvy ist auch nicht da. Außerdem spielt es keine Rolle, was sie denken.« Es fühlte sich ganz seltsam an, fand sie. Es war nicht wirklich so, als müsste sie sich übergeben, sondern als fände in ihrem Bauch eine Art flüssiger Umstellung statt, eine Empfindung, mit nichts zu vergleichen, was sie jemals erlebt hatte. Nicht alles daran war unangenehm. »Lass mich deine Sachen ausziehen, Wan, dann kannst du mich ausziehen.«

Nachdem sie das Küssen wieder geübt hatten, sagte sie: »Ich glaube, wir sollten jetzt nicht mehr stehen.« Und einige Zeit später, als sie lagen, öffnete sie ihre Augen und starrte in seine weit aufgerissenen.

Als er sich hochschob, um besser Halt zu finden, zögerte er.

»Wenn ich das mache«, sagte er, »wirst du vielleicht schwanger.«

»Wenn du das nicht machst«, gab sie zurück, »glaube ich, dass ich sterbe.«

Als Janine Stunden später erwachte, war Wan schon wach und angezogen, saß an der Seite und lehnte sich an die goldgeäderte Wand. Janines Herz weitete sich. Er sah aus, als wäre er um fünfzig Jahre gealtert. Das jugendliche Gesicht schien Furchen zu besitzen, die von jahrzehntelangen Sorgen und Schmerzen eingegraben worden waren.

»Ich liebe dich, Wan«, sagte sie.

Er regte sich und sagte schrill: »O ja …« Dann fasste er sich und senkte die Stimme zu einem Knurren. »O ja, Janine. Und ich liebe dich. Aber ich weiß nicht, was sie tun werden.«

»Vielleicht tun sie dir nichts, Wan.«

»Mir?«, sagte er verächtlich. »Du bist es, um die ich mir Sorgen mache, Janine. Ich habe hier mein ganzes Leben verbracht, und früher oder später wäre das doch geschehen. Aber du … ich mache mir Sorgen um dich.« Bedrückt fügte er hinzu: »Sie sind draußen auch sehr laut. Es ist etwas im Gange.«

»Ich glaube nicht, dass sie uns etwas tun werden – jetzt nicht mehr, meine ich«, verbesserte sich Janine, als sie an die Traumliege dachte. Die fernen, zirpenden Rufe kamen näher. Sie zog sich rasch an und schaute sich um, als Tors Stimme vor der Tür Huai ansprach.

Nichts verriet, was geschehen war. Nicht einmal ein Tropfen Blut. Aber als Tor die Tür öffnete, zerzaust und verwirrt aussehend, blieb er stehen und starrte sie argwöhnisch an, dann schnupperte er.

»Vielleicht brauche ich dich doch nicht zu befruchten, Janine«, sagte er freundlich, jedoch angstvoll. »Aber es ist etwas Schreckliches passiert. Tar ist eingeschlafen, und die alte Frau ist davongelaufen.«

Wan und Janine wurden zur Spindel geschleppt, wo sich fast alle Alten versammelt hatten. Sie wimmelten in panischer Angst durcheinander. Drei von ihnen lagen schnarchend am Boden – Tar und zwei andere von Lurvys Bewachern, Versager allesamt, fest im Schlaf ertappt und in Angst und Schande zur Aburteilung durch den Ältesten zurückgebracht. Der Älteste lag regungslos, aber wach auf seinem Sockel, während Lichtkaskaden ihn umfluteten.

Den Kreaturen aus Fleisch und Blut zeigte der Älteste nichts von seinen Gedanken. Er war Metall. Er war Furcht erregend. Man konnte ihn weder verstehen noch herausfordern. Weder Wan noch Janine noch irgendeines seiner fast hundert bebenden Kinder konnte die Angst und den Zorn erkennen, die durch seine Zirkularerinnerungen rasten. Angst, dass seine Pläne in Gefahr schwebten. Zorn, weil seine Kinder es versäumt hatten, seine Befehle auszuführen.

Die drei, die versagt hatten, würden bestraft werden müssen, damit ein Exempel statuiert wurde. Die knapp hundert anderen würden ebenfalls bestraft werden müssen – etwas leichter, damit die Rasse nicht ausstarb –, weil sie es versäumt hatten, die drei anzuhalten, ihre Pflicht zu erfüllen. Was die Eindringlinge anging – es gab keine Strafe, die schwer genug für sie gewesen wäre. Vielleicht sollten sie beseitigt werden wie jeder andere herausfordernde Organismus, der seinen Wirt zu schädigen drohte.

Vielleicht sollte noch Schlimmeres mit ihnen geschehen. Vielleicht war nichts streng genug, was in seiner Macht stand.

Aber was stand noch in seiner Macht? Er zwang sich aufzustehen. Janine sah die Lichtwellen flackern und zu einem Muster erstarren, als der Älteste sich zu seiner vollen Größe aufrichtete und zu sprechen begann.

»Die Frau ist wieder einzufangen und aufzubewahren«, sagte er. »Das hat sofort zu geschehen.«

Er stand da und wankte unsicher; die Nervenendorgane für seine Gliedmaßen arbeiteten unvollkommen. Er ließ sich wieder auf die Knie nieder, während er über seine Wahlmöglichkeiten nachdachte. Die Anstrengung, in den Kontrollraum zu gehen und Kurs zu setzen – der Tumult in seinem Inneren, der ihn dazu veranlasst hatte –, eine halbe Million Jahre Dasein, alles hatte seinen Tribut gefordert. Er brauchte Zeit, um zu »ruhen« – Zeit, dass seine unabhängigen Systeme alle Schäden aufspüren und sie beheben konnten, so gut es ging, und vielleicht würde Zeit allein nicht mehr reichen.

»Weckt mich nicht wieder, bis das geschehen ist«, sagte er; die Lichter begannen abermals wahllos zu flackern und erloschen langsam.

Janine, umfasst von Wans Armen – er hatte den Körper halb zum Ältesten gerichtet, um sie zu schützen, während er vor Angst zitterte –, wusste, ohne es gesagt zu bekommen, dass »aufbewahrt« getötet werden hieß. Auch sie fürchtete sich.

Aber sie rätselte auch.

Die Alten, die während Prozess und Urteil weitergeschnarcht hatten, waren nicht zufällig eingeschlafen. Janine erkannte die Folgen einer Schlafpistole. Janine wusste auch, dass niemand von ihrer Gruppe eine solche besaß.

Aus diesem Grund war Janine nicht völlig überrascht, als sie eine Stunde später, nachdem sie wieder eingesperrt worden waren, draußen ein unterdrücktes Knurren hörten.

Sie war nicht erstaunt, ihre Schwester hereinstürzen zu sehen, die eine Schusswaffe schwang und sie rief, war nicht erstaunt, dass hinter Lurvy ein zerschlissen aussehender Paul über den am Boden schlafenden Tor stieg. Sie wunderte sich nicht einmal oder doch nur wenig darüber, dass sie neben ihm einen anderen bewaffneten Mann sah, den sie beinahe erkannte. Sicher war sie ihrer Sache nicht. Sie war ihm als Kind einmal begegnet. Aber er sah aus wie die Person, die sie auf den PV-Sendungen von der Erde gesehen hatte: Robin Broadhead.

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