Ich sage zu Sigfrid: »Ich fürchte, das wird keine sehr ergiebige Sitzung. Ich bin völlig ausgelaugt. Sexuell, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Gewiss verstehe ich, was du meinst, Bob.«
»Ich habe also nicht viel zu sagen.«
»Erinnerst du dich an einen Traum?«
Ich winde mich auf der Liege. Zufällig erinnere ich mich an einen oder zwei. Ich sage: »Nein.« Sigfrid ist immer dahinter her, dass ich ihm meine Träume erzähle. Das gefällt mir nicht.
Als er das erste Mal damit anfing, sagte ich, ich träume nicht sehr oft. Er sagte geduldig: »Ich glaube, du weißt, dass alle Menschen träumen, Bob. Du erinnerst dich vielleicht nicht an den Traum, wenn du wach bist. Aber wenn du dir Mühe gibst, fällt er dir ein.«
»Nein, ich kann nicht. Du kannst das vielleicht. Du bist eine Maschine.«
»Ich weiß, dass ich eine Maschine bin, Bob, aber wir sprechen von dir. Willst du ein Experiment versuchen?«
»Vielleicht.«
»Es ist nicht schwer. Leg dir Bleistift und Block ans Bett. Sobald du aufwachst, schreibst du auf, woran du dich erinnerst.«
»Aber ich erinnere mich an meine Träume überhaupt nicht.«
»Ich glaube, der Versuch lohnt sich, Bob.«
Nun, ich tat es. Und tatsächlich fing ich an, mich an meine Träume zu erinnern. Zuerst an kleine, winzige Bruchstücke. Ich schrieb sie auf, und manchmal gab ich sie an Sigfrid weiter, was ihn ganz glücklich machte. Er liebte Träume. Ich selbst sah nicht viel Sinn darin … Nun, jedenfalls nicht zu Beginn. Aber dann passierte etwas, das einen Gläubigen aus mir machte.
Eines Morgens erwachte ich aus einem Traum, der so unerfreulich und so wirklich war, dass ich ein paar Augenblicke lang nicht wusste, ob er nicht Realität war, und so grässlich, dass ich mich nicht glauben lassen wollte, es könnte nur ein Traum gewesen sein. Das erschütterte mich dermaßen, dass ich alles, woran ich mich erinnern konnte, so schnell wie möglich aufschrieb. Dann kam ein P-Phon-Anruf. Ich meldete mich, und ob man es glaubt oder nicht, während ich telefonierte, vergaß ich das Ganze. Ich konnte mich anschließend an gar nichts mehr erinnern. Bis ich mir ansah, was ich aufgeschrieben hatte, und dann fiel mir alles wieder ein.
Nun, als ich Sigfrid ein, zwei Tage später wieder besuchte, hatte ich es wieder vergessen. So, als wäre nie etwas gewesen. Aber ich hatte mir das Blatt Papier aufgehoben, und ich musste ihm alles vorlesen. Das war einer der Augenblicke, wo er mit sich und mit mir sehr zufrieden zu sein schien. Er beschäftigte sich während der ganzen Stunde mit dem Traum. Er fand in allem Symbole und Bedeutungen. Ich weiß nicht mehr, was, aber ich erinnere mich noch, dass es für mich ganz und gar nicht angenehm war.
Wissen Sie, was wirklich merkwürdig ist? Ich habe das Blatt Papier weggeworfen, als ich den Raum verließ. Und jetzt könnte ich Ihnen nicht sagen, was das für ein Traum war, selbst wenn mein Leben davon abhinge.
»Ich sehe, du willst nicht über Träume sprechen«, sagt Sigfrid. »Gibt es irgendetwas anderes, worüber du sprechen möchtest?«
»Eigentlich nicht.«
Er antwortet nicht gleich darauf, und ich weiß, dass er nur abwartet, bis ich etwas sage. Also sage ich: »Kann ich dich etwas fragen, Sigfrid?«
»Kannst du das nicht immer, Rob?«
Manchmal habe ich wirklich das Gefühl, dass er zu lächeln versucht. Richtig zu lächeln, meine ich. So klingt seine Stimme.
»Tja, was ich wissen möchte, ist, was machst du mit all den Dingen, die ich dir erzähle?«
»Ich bin nicht sicher, dass ich die Frage verstehe, Robbie. Wenn du fragst, worin das Informationsspeicherprogramm besteht, fällt die Antwort sehr technisch aus.«
»Nein, das meine ich nicht.« Ich zögere, versuche mich zu vergewissern, worin die Frage besteht, und forsche nach, warum ich sie stellen will. Das hängt wohl alles mit Sylvia zusammen, die aus der katholischen Kirche ausgetreten war. Ich beneidete sie wirklich um ihre Kirche und machte ihr klar, dass es eine Dummheit gewesen sei auszutreten, weil ich sie um die Beichte beneidete. Mein Inneres war angefüllt mit Zweifeln und Ängsten, die ich nicht loswerden konnte. Es wäre wunderbar für mich gewesen, sie dem Geistlichen aufzuhalsen, der es dann dem Diözesan-Monsignore weitergegeben hätte (oder wem immer; ich habe nicht viel Ahnung), bis am Ende alles beim Papst gelandet wäre, dem Sammelbehälter für alles Elend, allen Schmerz, alle Schuld dieser Welt, bis der zuletzt alles weiterreicht an Gott. (Ich meine, vorausgesetzt, dass es einen Gott gibt, oder wenigstens vorausgesetzt, dass es eine Adresse namens ›Gott‹ gibt, an die man den ganzen Dreck schicken kann.)
1316 ,V, Es ist sehr gesund, dass du 115,215 deine Trennung von 115,220 Drusilla als ein lehrreiches 115,225 Erlebnis betrachtest, Bob. 115,230 1318 ,C, Ich bin eine sehr gesunde 115,235 Person, Sigfrid, deshalb 115,240 bin ich hier. 115,245 1319 THEMA (DE) = THEMA (DF) 115,250 1320 ,C, Jedenfalls ist das Leben, 115,255 ein lehrreiches Erlebnis 115,260 nach dem anderen, 115,270 und wenn du fertig bist 115,275 mit all den lehrreichen 115,280 Erlebnissen, bestehst du die Prüfung, 115,285 und was du als Lohn für dein Diplom erhältst, ist der Tod. 115,290
Der springende Punkt ist jedenfalls der, dass ich eine Art Vision des gleichen Systems in der Psychotherapie hatte: örtliche Abwässerkanäle führen zu Versitzgruben und von dort zu Gemeinschaftsleitungen, die sich zu Fleisch-und-Blut-Psychiatern verzweigten, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wenn Sigfrid eine richtige Person gewesen wäre, hätte er das ganze Elend, das in ihn hineingeschüttet wurde, nicht aushalten können. Erstens einmal hätte er schon seine eigenen Probleme gehabt. Dazu die meinen, weil ich sie auf diese Weise losgeworden wäre, indem ich sie ihm aufhalste. Außerdem hätte er auch die von allen anderen bekommen, die sich auf der Liege niederließen; und das alles hätte er an den Nächsten weitergegeben, der an seiner Seele herumklempnerte, und so weiter und so fort, bis sie … bei wem angelangt waren? Beim Geist von Sigmund Freud?
Aber Sigfrid ist kein Mensch. Er ist eine Maschine. Er kann keinen Schmerz empfinden. Wohin geht dann das ganze schlammige Zeug?
Ich versuche ihm das alles zu erklären und schließe: »Verstehst du denn nicht, Sigfrid? Wenn ich dir meinen Schmerz weiterreiche und du ihn einem anderen weitergibst, muss er doch irgendwo landen. Ich empfinde es einfach nicht als wirklich, dass daraus am Ende Magnetbläschen in einem Quarzklumpen werden, die nie jemand fühlt.«
»Ich glaube nicht, dass es Gewinn bringt, mit dir über das Wesen des Schmerzes zu reden, Rob.«
»Ist es Gewinn bringend, darüber zu reden, ob du wirklich bist oder nicht?«
Er seufzt beinahe.
»Bob«, sagt er, »ich glaube auch nicht, dass es Gewinn bringend ist, mit dir über das Wesen der Wirklichkeit zu reden. Ich weiß, dass ich eine Maschine bin. Du weißt, dass ich eine Maschine bin. Was ist der Sinn unseres Hierseins? Sind wir hier, um mir zu helfen?«
»Manchmal frage ich mich das«, antworte ich mürrisch.
»Ich glaube nicht, dass du dich das fragst. Ich glaube, du weißt, dass du hier bist, um dir zu helfen; und wenn man das erreichen will, muss man versuchen, in dir etwas auszulösen. Was ich mit der Information anfange, mag für deine Neugier interessant sein, und es könnte dir auch eine Ausrede bieten, diese Sitzungen mit intellektueller Unterhaltung zu verbringen, statt mit Therapie …«
»Touché, Sigfrid«, unterbreche ich.
»Ja. Aber was du damit anfängst, macht den Unterschied in deinen Empfindungen aus, und ob du in Situationen, die für dich wichtig sind, etwas besser oder etwas schlechter funktionierst. Bitte, befass dich mit deinem eigenen Inneren, nicht mit dem meinen, Bob.«
Ich sage bewundernd: »Du bist wirklich eine verdammt intelligente Maschine, Sigfrid.«
Er erwidert: »Ich habe den Eindruck, dass du damit in Wirklichkeit sagst: ›Ich hasse dich, Sigfrid‹.«
Ich habe ihn so etwas noch nie sagen hören, und das bestürzt mich, bis mir einfällt, dass ich ihm genau das gesagt habe, nicht nur einmal, sondern ziemlich oft. Und dass es wahr ist.
Ich hasse ihn wirklich.
Er versucht mir zu helfen, und ich hasse ihn deswegen. Ich denke an die süße, wilde S. Ya. und daran, wie bereitwillig sie alles tut, was ich möchte, oder fast alles. Ich möchte Sigfrid sehr wehtun.