Ehe sie mich erweiterten, verspürte ich ein Bedürfnis, das ich schon dreißig Jahre oder länger nicht mehr gehabt hatte. Deshalb tat ich etwas, von dem ich nicht erwartet hätte, dass ich es noch einmal tun würde. Ich frönte einem einsamen Laster. Ich schickte meine Frau Essie in die Stadt, um überraschend bei einigen ihrer Geschäfte nach dem Rechten zu sehen. Zuerst schaltete ich alle Kommunikationssysteme im Haus mit einem »Bitte nicht stören«-Befehl aus. Dann rief ich mein Datenbeschaffungssystem (und meinen Freund) Albert Einstein und gab ihm Anweisung, das Gesicht zu verziehen und finster Pfeife zu rauchen. Und erst jetzt – als das Haus ganz still war und Albert widerstrebend, aber gehorsam sich ausgeschaltet hatte, als ich gemütlich auf der Couch in meinem Arbeitszimmer lag, aus dem Nebenzimmer leise Mozartmusik ertönte, ein Hauch von Mimosenduft aus der Klimaanlage strömte und die Lichter gedämpft waren –, erst jetzt sprach ich den Namen aus, den ich schon Jahrzehnte nicht mehr ausgesprochen hatte. »Sigfrid Seelenklempner, bitte, ich möchte mit dir reden.«
Einen Augenblick lang dachte ich, er käme nicht. Aber dann tauchte in der Ecke bei der Bar plötzlich ein Lichtnebel auf, dann ein Aufblitzen, und da saß er.
Er hatte sich in den dreißig Jahren nicht verändert. Immer noch trug er einen dunklen Anzug vom gleichen Schnitt, wie man ihn von Sigmund Freuds Porträts her kennt. In seinem nicht mehr jungen, ausdruckslosen Gesicht war kein Fältchen hinzugekommen, und seine Augen funkelten wie eh und je. In einer Hand hielt er als Requisite einen Block, in der anderen einen Bleistift – als ob er es nötig gehabt hätte, sich Notizen zu machen!
Höflich begrüßte er mich. »Guten Morgen, Rob. Offensichtlich scheint es dir gut zu gehen.«
»Du hast immer mit dem Versuch begonnen, mich aufzubauen«, sagte ich. Er lächelte ein wenig.
Sigfrid Seelenklempner gibt es nicht wirklich. Er ist nichts anderes als ein psychoanalytisches Computerprogramm. Physisch existiert er nicht. Was ich sah, war lediglich ein Hologramm, und was ich hörte, waren Worte aus einem Synthesizer. Er trägt nicht mal einen Namen. Ich nenne ihn nur »Sigfrid Seelenklempner«, weil ich damals, vor Jahrzehnten, nicht mit einer namenlosen Maschine über die Dinge reden konnte, die mich in Angst versetzten. »Ich nehme an«, vermutete er nachdenklich, »du hast mich gerufen, weil dir etwas Kummer bereitet.«
»Das stimmt.«
Mit geduldiger Neugier schaute er mich an. Darin hatte er sich auch nicht verändert. Mir standen damals schon sehr viel bessere Programme zur Verfügung – vor allem eines, Albert Einstein, sodass ich mich mit den anderen kaum noch abgab –, aber Sigfrid war immer noch ziemlich gut. Er hatte die Ruhe weg. Er weiß, dass das, was mir im Kopf herumschwirrt, Zeit braucht, bis es sich in Worte fassen lässt; deshalb hetzt er mich auch nicht.
Andererseits lässt er mich aber auch nicht in den Tag hineinträumen. »Kannst du mir sagen, was dich in eben diesem Augenblick bedrückt?«
»Eine Menge. Verschiedene Dinge«, antwortete ich.
»Wähle eines«, schlug er geduldig vor. Ich zuckte mit den Achseln.
»Man hat’s nicht leicht in dieser Welt, Sigfrid. So viel hat sich zum Guten verändert. Trotzdem sind die Leute … Scheiße! Ich mache es schon wieder, nicht wahr?«
Verschmitzt lächelte er mich an. »Was machst du denn?«, ermutigte er mich.
»Sagen, dass mich eine Sache beunruhigt, aber nicht was. Dem wahren Grund versuche ich auszuweichen.«
»Das scheint mir eine kluge Erkenntnis zu sein, Robin. Willst du jetzt versuchen, mir den wahren Grund zu nennen?«
»Ich möchte«, sagte ich. »Ich möchte es so sehr, dass ich beinahe anfange zu weinen. Das habe ich schon eine Ewigkeit nicht mehr gemacht.«
»Du hattest ja auch sehr lange nicht das Bedürfnis, mich zu sehen«, erklärte er. Ich nickte.
»Ja. Stimmt genau.«
Wieder wartete er eine Zeit lang, drehte nur ab und zu den Bleistift zwischen den Fingern. Auf seinem Gesicht lag der Ausdruck freundlichen und höflichen Interesses. Zwischen den Sitzungen konnte ich mich hauptsächlich an diesen urteilsfreien Gesichtsausdruck erinnern. Dann sagte er: »Die Dinge, Robin, die dich tief im Innern belasten, sind nicht leicht zu definieren. Du weißt das. Wir haben das schon vor Zeiten gemeinsam herausgefunden. Es ist nicht so überraschend, dass du mich all die Jahre nicht aufsuchen musstest. Offensichtlich ist dein Leben gut verlaufen.«
»Ja, wirklich sehr gut«, stimmte ich zu. »Wahrscheinlich zehnmal besser, als ich es verdient habe … Moment mal! Drücke ich damit eine verdrängte Schuld aus? Minderwertigkeitsgefühle?«
Er seufzte, lächelte aber immer noch. »Du weißt ganz genau, Robin, dass es mir lieber wäre, wenn du nicht wie ein Analytiker reden würdest.« Ich lächelte zurück. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Lass uns mal die gegenwärtige Situation ganz objektiv betrachten! Du hast alle Vorkehrungen getroffen, dass uns niemand stören kann – oder belauschen? Dass jemand etwas hört, was du nicht einmal deinem engsten und liebsten Freund anvertrauen könntest. Du hast sogar Albert Einstein, deinem Datenbeschaffungssystem, den Auftrag gegeben, sich zurückzuziehen und dieses Gespräch von allen Datenspeichern abzuschirmen. Es muss also etwas sehr Privates sein, das du mir zu berichten hast. Vielleicht ist es etwas, das du fühlst, dich aber schämst, es in Worte zu kleiden? Hilft dir das irgendwie weiter, Robin?«
Ich räusperte mich. »Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, Sigfrid.«
»Und? Das, was du sagen willst? Kannst du es jetzt aussprechen?«
Ich wagte den Sprung ins kalte Wasser. »Gottverdammt noch mal! Natürlich kann ich! Ganz einfach! Sieht doch jeder! Ich werde gottverdammt beschissen alt!«
So ist es am besten. Wenn einem etwas nicht leicht über die Lippen geht, einfach ausspucken! Das war eine der Erfahrungen, die ich in längst vergangenen Zeiten gemacht hatte, als ich Sigfrid dreimal die Woche meine Seelenschmerzen vortrug. Es klappt immer. Sobald ich es ausgesprochen hatte, fühlte ich mich entschlackt – nicht wohl, nicht glücklich, nicht so, als ob das Problem gelöst wäre; aber dieser Klumpen von miesem Gefühl war ausgeschieden. Sigfrid nickte. Er betrachtete den Stift zwischen seinen Fingern und wartete, dass ich weitermachte. Ich wusste jetzt, dass ich es schaffen würde. Das Schlimmste lag hinter mir. Das Gefühl kannte ich. Ich erinnerte mich sehr gut daran aus früheren und stürmischen Sitzungen.
Nun bin ich nicht mehr die Person, die ich damals war. Der damalige Robin Broadhead war von Schuldgefühlen zerfressen, weil er eine Frau, die er liebte, sterbend zurückließ. Jetzt waren diese Schuldgefühle längst gemildert – weil Sigfrid mir geholfen hatte, sie zu überwinden. Der damalige Robin Broadhead hielt von sich selbst so wenig, dass er nicht glauben konnte, irgendjemand anders könnte eine gute Meinung von ihm haben. Daher hatte er auch wenig Freunde. Ich aber habe jetzt – genau weiß ich es nicht – Dutzende. Hunderte! (Von einigen werde ich Ihnen berichten.) Der damalige Robin Broadhead konnte keine Liebe akzeptieren. Seither habe ich ein Vierteljahrhundert die beste Ehe geführt, die man sich nur vorstellen kann. Ich war damals ein ganz anderer Robin Broadhead.
Aber einige Dinge hatten sich ganz und gar nicht verändert. »Sigfrid«, gestand ich. »Ich bin alt. Ich werde eines Tages sterben. Weißt du, was mir den Korken raushaut?«
Er schaute von seinem Stift auf. »Was ist das, Robin?«
»Ich bin noch nicht erwachsen genug, um so alt zu sein.«
Er spitzte die Lippen. »Würdest du mir das näher erklären, Robin?«
»Ja«, erwiderte ich. »Werde ich.« Und wirklich ging der nächste Akt ganz leicht über die Bühne. Schließlich hatte ich – da kann man sicher sein – sehr viel über diese Sache nachgedacht, ehe ich Sigfrid aufrief. »Ich glaube, dass es mit den Hitschi zu tun hat«, sagte ich. »Lass mich ausreden, ehe du mir vorhältst, dass ich verrückt bin. Wie du dich erinnerst, war ich einer aus der Hitschi-Generation. Als Kinder hörten wir dauernd von den Hitschi, die alles hatten, was menschlichen Wesen fehlte, die alles wussten, was menschliche Wesen nicht wussten …«
»Die Hitschi waren nicht ganz so überlegen, Robin.«
»Ich rede davon, wie es uns Kindern vorgekommen ist. Sie waren Furcht einflößend, weil wir uns gegenseitig damit drohten, dass sie zurückkommen und uns holen würden, und weil sie uns in allen Dingen so weit voraus waren, dass wir gegen sie keine Chance hatten. Ein bisschen wie der Nikolaus. Ein bisschen wie diese irren perversen Sittenstrolche, vor denen uns unsere Mütter immer warnten. Ein bisschen wie Gott. Verstehst du, was ich sagen will, Sigfrid?«
Seine Antwort kam vorsichtig. »Ich kann diese Gefühle erkennen. Ja. Solche Empfindungen sind in der Analyse bei vielen Leuten deiner Generation und auch noch später festgestellt worden.«
»Genau! Und ich erinnere mich an etwas, das du einmal von Freud erzählt hast. Er behauptete, dass kein Mann wirklich erwachsen werden könne, solange sein Vater noch lebt.«
Hier ist wieder Albert Einstein. Ich halte es für besser, richtig zu stellen, was Robin über Gelle-Klara Moynlin sagt. Sie war zusammen mit ihm Prospektor auf Gateway, und er liebte sie. Gemeinsam mit anderen Prospektoren wurden die beiden in einem Schwarzen Loch eingeschlossen. Es war möglich, einige auf Kosten der anderen zu befreien. Robin kam heraus. Klara und die anderen nicht. Dies mag ein glücklicher Zufall gewesen sein. Vielleicht hatte sich auch Klara selbstlos geopfert, um ihn zu retten. Vielleicht war aber auch Robin in Panik geraten und hatte sich zum Nachteil der anderen in Sicherheit gebracht. Selbst jetzt gibt es keine Möglichkeit, das zu entscheiden. Aber Robin war »schuld-süchtig«. Jahrelang belastete ihn das Bild Klaras in dem Schwarzen Loch, wo die Zeit beinahe stehen blieb, wo sie ständig in demselben Augenblick des Schocks und Schreckens leben musste – und ständig ihm die Schuld dafür gab (dachte er). Nur Sigfrid half ihm da heraus.
Man mag sich vielleicht wundern, woher ich das weiß, da doch das Gespräch mit Sigfrid geheim war. Das ist leicht. Ich weiß es jetzt auf die gleiche Art, auf die Robin so viel über so viele Leute weiß und was diese tun, obwohl er nicht dabei war.
»Nun, im Grunde …«
Ich fuhr ihm über den Mund. »Und ich habe dir damals erklärt, dass das Bockmist sei. Schließlich war mein Vater nett genug zu sterben, als ich noch ein kleines Kind war.«
»O Robin!« Er seufzte.
»Nein! Jetzt höre mir zu! Was ist denn mit der größten Vaterfigur, die es gibt? Wie kann jemand erwachsen werden, solange Unser Vater, Der Du Bist Im Kern immer noch da draußen herumhängt, wo wir ihn nicht mal erreichen können, gar nicht zu reden, wie wir den alten Bastard beseitigen können?«
Traurig schüttelte er den Kopf. »›Vaterfiguren‹. Freudzitate.«
»Nein! Ich mein’ es genau so! Kapierst du das denn nicht?«
Er war sehr ernst. »Ja, Robin. Ich verstehe, was du von den Hitschi gesagt hast. Das stimmt. Das ist ein Problem für die menschliche Rasse. Da stimme ich dir zu. Unglücklicherweise hat Dr. Freud niemals eine solche Situation bedacht. Aber wir sprechen hier nicht über die menschliche Rasse. Wir sprechen über dich! Du hast mich doch nicht gerufen, um abstrakt mit mir zu diskutieren. Du hast mich gerufen, weil du unglücklich bist. Du hast bereits zugegeben, dass es der unaufhaltsame Alterungsprozess ist, der dir zu schaffen macht. Also lass uns doch bei diesem Thema bleiben. Bitte, ergeh dich nicht in irgendwelchen Theorien, sondern sag mir, was du empfindest!«
»Was ich empfinde?«, brüllte ich. »Ich komme mir verdammt alt vor. Du kannst das nicht verstehen, weil du eine Maschine bist. Du weißt nicht, wie das ist, wenn man nicht mehr richtig sehen kann, wenn auf dem Handrücken diese rostigen Altersflecken auftauchen und die Haut ums Kinn schlabbert. Wenn man sich hinsetzen muss, nur um Socken anzuziehen, weil man nämlich auf einem Fuß umfallen würde. Wenn man bei jedem vergessenen Geburtsdatum glaubt, man hätte Alzheimer. Und man nicht mal pinkeln kann, wenn man will! Wenn …« Hier brach ich ab. Er war mir nicht ins Wort gefallen, sondern hörte nur geduldig zu und schaute mich an, als würde er noch ewig zuhören. Wozu das ganze Gerede? Er ließ mir noch einen Augenblick Zeit, um sicherzugehen, dass ich wirklich fertig war. Dann begann er geduldig:
»Deiner Krankheitsgeschichte nach wurde deine Prostata vor achtzehn Monaten ausgewechselt, Robin. Die Störung im Mittelohr kann leicht …«
»Das reicht!«, schrie ich. »Was weißt du von meiner Krankheitsgeschichte, Sigfrid? Ich habe ausdrücklich angeordnet, dass diese Untersuchungen unter Verschluss gehalten werden!«
»Ist doch auch geschehen, Robin. Glaub mir, kein Wort wird einem anderen deiner Programme zur Verfügung stehen oder irgendjemandem außer dir selbst. Allerdings bin ich sehr wohl in der Lage, alle deine Datenspeicher, darunter auch deine Krankengeschichte, abzurufen. Darf ich jetzt fortfahren? Steigbügel und Amboss in deinem Ohr können leicht ersetzt werden. Das löst das Gleichgewichtsproblem. Hornhautverpflanzungen beseitigen den drohenden Star. Die anderen Punkte sind rein kosmetischer Natur. Es ist doch überhaupt kein Problem, gutes, junges Gewebe für dich zu beschaffen. Dann bleibt nur die Alzheimer’sche Krankheit. Ehrlich, Robin, da kann ich bei dir keinerlei Anzeichen entdecken.«
Ich zuckte mit den Achseln. Er wartete einen Augenblick, ehe er weitersprach. »Du siehst, alle Probleme, die du aufgezählt hast – dazu noch die lange Liste von anderen, die du nicht erwähnt hast, die aber in deiner Krankengeschichte stehen –, können jederzeit behoben werden oder sind es bereits. Vielleicht hast du dir die Frage falsch gestellt, Robin. Vielleicht liegt die Schwierigkeit nicht darin, dass du alt wirst, sondern darin, dass du nicht bereit bist, die notwendigen Schritte zu unternehmen, diesen Prozess umzupolen.«
»Warum, zum Teufel, sollte ich?«
Er nickte. »Ja, warum wohl, Robin? Kannst du diese Frage beantworten?«
»Nein! Kann ich nicht! Wenn ich das könnte, würde ich dich doch nicht fragen!«
Er spitzte die Lippen und wartete.
»Vielleicht will ich eben so sein!«
Er wartete.
»Also wirklich, Sigfrid!«, schmeichelte ich. »Schon gut! Ich gebe zu, du hast Recht. Ich habe medizinischen Vollschutz und kann mir so viele fremde Organe besorgen, wie ich will. Der Grund für meine Weigerung, dies zu tun, liegt irgendwo in meinem Kopf. Ich weiß, wie du das nennst: Endogene Depression. Aber das hilft mir auch nicht weiter!«
»Ach, Robin!« Er seufzte. »Wieder dieses psychoanalytische Kauderwelsch. Und dann noch falsch! ›Endogen‹ bedeutet lediglich ›von innen kommend‹. Das heißt doch nicht, dass es keine Ursache gibt.«
»Und was ist die Ursache?«
Nachdenklich sprach er weiter. »Wir wollen ein Spiel spielen. Neben deiner linken Hand ist ein Knopf …«
Ich sah nach. Tatsächlich! Auf der Lehne des Ledersessels befand sich ein Knopf. »Der ist nur da, damit sich der Lederbezug nicht verzieht«, sagte ich.
»Sicherlich! Aber in diesem Spiel wird der Knopf, sobald du ihn drückst, bewirken, dass sofort jede Verpflanzung, die du brauchst oder haben willst, ausgeführt ist. Augenblicklich! Lege den Finger auf den Knopf, Robin! Jetzt! Willst du ihn drücken?«
»Nein!«
»Gut! Kannst du mir erklären, warum nicht?«
»Weil ich es nicht verdiene, Körperteile von jemand anderem zu nehmen!« Das hatte ich nicht sagen wollen. Das hatte ich nicht einmal gewusst. Nachdem ich es ausgesprochen hatte, konnte ich nur noch dasitzen und dem Echo meiner Worte lauschen. Auch Sigfrid schwieg lange.
Schließlich nahm er seinen Stift, steckte ihn in die Tasche, rollte den Block zusammen, verstaute ihn in einer anderen Tasche und beugte sich vor. »Robin«, bedeutete er mir. »Ich glaube nicht, dass ich dir helfen kann. Da ist ein Schuldgefühl, bei dem ich keine Möglichkeit sehe, es zu beseitigen.«
»Aber du hast mir doch früher so geholfen!«, schluchzte ich.
»Früher«, warf er ernst ein, »hast du dir selbst Schmerz zugefügt, weil du dich wegen einer Sache schuldig fühltest, für die du wahrscheinlich gar nichts konntest, die auf alle Fälle weit in der Vergangenheit lag. Jetzt liegt der Fall ganz anders. Du kannst vielleicht noch fünfzig Jahre leben, wenn du deine kranken Organe durch gesunde ersetzen lässt. Aber du hast Recht, dass diese Organe von jemand anderem kommen und gewissermaßen ein anderes Leben verkürzen, damit du länger leben kannst. Diese Wahrheit zu erkennen, Robin, ist kein neurotisches Schuldgefühl. Es ist nur das Eingeständnis einer moralischen Wahrheit.«
Das war alles, was er sagte. Lediglich noch »Leb wohl!« mit einem Lächeln, traurig und zugleich liebevoll.
Ich hasse es, wenn meine Computerprogramme mit mir über Moral sprechen. Vor allem, wenn sie Recht haben.
Man darf nun aber keineswegs vergessen, dass die Depression, die ich gerade durchmachte, nicht das Einzige war, was passierte. Lieber Himmel, nein! Viele Dinge passierten vielen Leuten auf der Welt – auf allen Welten und in den Zwischenräumen –, die nicht nur viel interessanter, sondern auch viel wichtiger waren, auch für mich. Ich habe damals nur nichts davon gewusst, obwohl sie Leute betrafen (oder auch Nicht-Leute), die ich kannte (oder später kennen lernte oder gekannt, aber vergessen hatte). Lassen Sie mich Ihnen ein paar Beispiele aufzählen. Mein Noch-nicht-Freund Kapitän, der einer dieser Irren-Sittenstrolch-Nikolaus-Hitschi war, die in meinen Kinderträumen herumgespukt hatten, sollte noch viel mehr Angst bekommen, als ich je bei dem Gedanken an die Hitschi empfunden hatte. Mein früherer (und bald wieder) Freund Audee Walthers Jr. stand kurz davor, zu seinem Schaden, meinen früheren Freund (oder Nicht-Freund) Wan zu treffen. Und mein allerbester Freund (unter Berücksichtigung der Tatsache, dass er nicht »wirklich« war), das Computerprogramm Albert Einstein, war dabei, mich zu überraschen … Wie verzwickt diese Aufzählung ist! Ich kann es nicht ändern. Ich habe in einer komplizierten Zeit gelebt, auf sehr komplizierte Art und Weise. Jetzt, nachdem ich erweitert worden bin, passen alle Teile sehr gut zusammen, wie Sie sehen werden. Aber damals wusste ich nicht einmal, was die einzelnen Teile zu bedeuten hatten. Ich war nur ein alternder Mann, zu Boden gedrückt von dem Bewusstsein der Sterblichkeit und der Sünde. Als meine Frau nach Hause kam und mich auf dem Sofa liegend fand, mit stierem Blick auf den Tappan-See, rief sie sofort: »Na so was, Robin? Was, zum Teufel, ist denn los mit dir?«
Ich lächelte ihr zu und ließ mich von ihr küssen. Essie schimpft sehr viel. Aber Essie liebt auch vieles, und sie ist ein Prachtstück von einer Frau. Hoch gewachsen. Schlank. Langes, goldblondes Haar, das sie in einem strengen, sowjetischen Knoten trägt, wenn sie Professorin oder Geschäftsfrau ist; das sie bis zur Taille fallen lässt, wenn sie ins Bett kommt. Ehe ich richtig nachgedacht hatte, was ich wohl vorbringen könnte, das unverfänglich wäre, platzte ich schon heraus: »Ich habe mit Sigfrid Seelenklempner gesprochen.«
»Ach«, sagte Essie und richtete sich auf. »Oh!«
Während sie nachdachte, zog sie die Nadeln aus dem Knoten. Wenn man mit jemandem einige Jahrzehnte zusammengelebt hat, fängt man an, den anderen zu kennen. Ich konnte ihrem inneren Gedankengang ebenso gut folgen, als hätte sie laut gesprochen. Sie machte sich natürlich Sorgen, weil ich das Bedürfnis gehabt hatte, mit einem Psychoanalytiker zu reden. Aber sie hatte auch großes Vertrauen in Sigfrid. Essie fühlte sich immer in Sigfrids Schuld, da sie wusste, dass ich es nur mit Sigfrids Hilfe geschafft hatte, vor langer Zeit zuzugeben, dass ich sie liebte. (Außerdem liebte ich noch Gelle-Klara Moynlin. Das war das Problem gewesen.) »Möchtest du mir darüber mehr erzählen?«, fragte sie höflich.
Ich antwortete: »Alter und Depression, Liebes. Nichts Ernstes. Nur hoffnungslos! Und wie war dein Tag?«
Sie betrachtete mich mit ihren alles sehenden, diagnostischen Augen und löste mit den Händen das lange, blonde Haar, bis es frei hinunterfiel. Dann passte sie ihre Antwort der Diagnose an. »Grauenvoll aufreibend«, sagte sie, »bis zu dem Punkt, wo ich jetzt unbedingt einen Drink brauche – du auch, wie es scheint.«
Wir schlürften unsere Drinks. Auf dem Sofa war Platz für uns beide. Wir schauten zu, wie der Mond am Strand von Jersey unterging. Essie berichtete mir von ihrem Tagesablauf, ohne in mich zu dringen.
Essie lebt ihr eigenes Leben. Es ist ziemlich anstrengend – ich wundere mich, dass sie immer so viel Zeit für mich erübrigen kann. Außer ihre Geschäfte zu kontrollieren, musste sie auch noch eine zermürbende Stunde im Forschungslabor verbringen, das wir eingerichtet hatten, um Hitschi-Technologie in unsere eigenen Computer zu integrieren. Die Hitschi schienen keine Computer zu benutzen, abgesehen von primitiven Dingen wie Navigationssteuerung auf ihren Schiffen. Aber sie hatten in angrenzenden Bereichen ziemlich raffinierte Ideen. Das war Essies Spezialität. Darin hatte sie auch ihren Doktor gemacht. Als sie über ihre Forschungsprogramme sprach, konnte ich ihren Verstand arbeiten sehen: Nicht nötig, den alten Robin auszufragen. Kann mir alles durch einen Befehl aus Sigfrids Programm abrufen. Dann habe ich sofort Zugang zum ganzen Gespräch. Liebevoll meinte ich: »Du bist nicht so gescheit, wie du denkst.« Sie brach mitten im Satz ab. »Der Inhalt meines Gesprächs mit Sigfrid ist unter Verschluss«, erklärte ich.
»Ha!« Selbstgefällig.
»Nichts ha!«, gab ich ebenso selbstgefällig zurück. »Weil ich Alberts Versprechen habe. Es ist so gespeichert, dass nicht einmal du es herausholen kannst, ohne das ganze System zu ruinieren.«
»Ha!«, sagte sie noch einmal und drehte sich um, damit sie mir in die Augen schauen konnte. Diesmal war das »Ha!« lauter und hatte eine gewisse Schärfe, die man so auslegen konnte: Darüber werde ich Albert aber in ein Gespräch verwickeln!
Ich ziehe Essie gern auf, aber ich liebe Essie. Ich ließ sie nicht länger zappeln. »Ich will wirklich nicht das Siegel aufbrechen«, erklärte ich. »Es ist … na ja, Eitelkeit. Ich klinge wie ein Klageweib, wenn ich mit Sigfrid rede. Aber ich erzähle dir alles ganz genau.«
Befriedigt ließ sie sich zurücksinken und hörte mir zu. Als ich fertig war, dachte sie einen Augenblick lang nach. »Deshalb bist du also deprimiert? Weil du nicht mehr viel zu erwarten hast?«
Ich nickte.
»Aber Robin! Vielleicht hast du nur eine begrenzte Zukunft, aber, mein Gott, dafür eine so herrliche Gegenwart! Galaktischer Reisender! Stinkreicher Nabob! Unwiderstehliches Sexobjekt für eine liebende und auch sehr attraktive Frau!«
Ich lächelte und zuckte mit den Achseln. Gedankenvolles Schweigen. »Das ist eine moralische Frage«, meinte sie schließlich. »Nicht unvernünftig. Es ehrt dich, über solche Probleme zu grübeln. Ich hatte auch Bedenken. Erinnerst du dich, als vor kurzem unappetitliche weibliche Teile in mich eingesetzt wurden, um die kaputten zu ersetzen?«
»Dann verstehst du mich?«
»Versteh’ dich vollkommen! Ich verstehe auch, lieber Robin, dass die Tatsache, eine moralische Entscheidung gefällt zu haben, kein Grund zur Beunruhigung ist. Depression ist dumm! Glücklicherweise«, sagte sie und stand auf, wobei sie meine Hand festhielt, »gibt es ein ausgezeichnetes Antidepressivum. Willst du mit ins Schlafzimmer kommen?«
Natürlich wollte ich. Tat es auch. Ich stellte fest, dass meine Depression langsam verging. Kein Wunder! Wenn es etwas gibt, das mir Freude macht, dann ist es, das Bett mit S. Ya. Lawarowna-Broadhead zu teilen. Ich hätte es noch mehr genossen, wenn ich damals gewusst hätte, dass mir bis zu dem Tod, der mich so deprimiert hatte, weniger als drei Monate blieben.