1908 Lichtjahre von der Erde entfernt erinnerte sich mein Freund – mein früherer Freund, und bald wieder mein Freund – Audee Walthers an meinen Namen, allerdings nicht in einem freundlichen Zusammenhang.

Er verstieß gegen eine Vorschrift, die ich erlassen hatte.

Ich habe bereits erwähnt, dass ich sehr viele Dinge besaß, unter anderem auch Anteile an dem größten Raumschiff, das die Menschheit kannte. Es gehörte zu den technischen Spielereien, welche die Hitschi im Sonnensystem zurückgelassen hatten. Es schwebte über die Oort’sche Wolke hinaus, ehe es entdeckt wurde. Entdeckt von menschlichen Wesen, will sagen – Hitschi und Australopithekus-Vormenschen zählen nicht.

Wir nannten das Schiff »Hitschi-Himmel«. Als mir aber der Gedanke kam, dass es sich ausgezeichnet als Transporter verwenden ließe, um einige dieser armen Teufel, die sich hier nicht ernähren konnten, von der Erde zu einem gastfreundlicheren Planeten zu bringen, überredete ich die anderen Aktionäre, das Schiff umzutaufen. Es wurde nach meiner Frau S. Ya. Broadhead genannt. Ich steckte das Geld hinein, um es für den Transport von Siedlern umzurüsten. Dann begannen wir den Pendelverkehr mit dem besten und nächstgelegenen Planeten – Peggys Planet.

Dieses Unternehmen brachte mich wieder in eine Situation, in der mein Gewissen und der gesunde Menschenverstand einander bekämpften. Eigentlich wollte ich alle an einen Ort bringen, wo sie glücklich sein konnten. Aber um dies zu ermöglichen, musste ich einen Gewinn erwirtschaften. So kam es zu Broadheads Vorschriften. Diese entsprachen weitgehend den früheren Verfügungen auf dem Gateway-Asteroiden. Für den Hinflug musste bezahlt werden. Man konnte ihn auch auf Kredit bekommen, wenn man das Glück hatte, dass man ein Freilos zog. Die Rückfahrt zur Erde war aber nur gegen bar möglich. Als Siedler mit Landanspruch konnte man die sechzig Hektar wieder der Gesellschaft überschreiben, die dafür eine Rückfahrkarte ausgab. Wenn man kein Land mehr besaß, weil man es verkauft, eingetauscht oder beim Würfeln verloren hatte, blieben nur zwei Möglichkeiten: Das Geld für den Rückflug bar auf den Tisch zu legen, oder man blieb, wo man war.

Es sei denn, man war ein qualifizierter Pilot, und einer der Schiffsoffiziere entschied sich, auf Peggys Planet zu bleiben. Dann konnte man den Rückflug abarbeiten. Walthers hatte sich für diese Lösung entschieden. Er hatte keine blasse Ahnung, was er tun würde, wenn er wieder auf der Erde war. Er wusste nur, dass er unter keinen Umständen in dem leeren Appartement bleiben konnte, nachdem Dolly ihn verlassen hatte. Er verkaufte sämtliche Möbel und einigte sich in den paar Minuten zwischen den Transportflügen mit dem Kapitän der S. Ya. Dann ging es los. Eigentlich fand er es merkwürdig, ja unangenehm, dass dieser Rückflug, der ihm als völlig unmöglich erschienen war, als Dolly ihn darum gebeten hatte, nun die einzige Alternative darbot, nachdem er von ihr verlassen worden war. Aber, wie er schon festgestellt hatte, war das Leben oft merkwürdig und unangenehm.

Er ging also in der letzten Minute an Bord der S. Ya. Vor Erschöpfung zitterte er. Da ihm noch zehn Stunden bis zum Dienstantritt blieben, schlief er erst einmal. Trotzdem war er noch ganz kaputt und vielleicht auch durch die seelische Erschütterung wie betäubt, als ihm ein fünfzehnjähriger gescheiterter Kolonist eine Tasse Kaffee brachte und ihn in den Kontrollraum des interstellaren Transportschiffes S. Ya. Broadhead, vormals Hitschi-Himmel, führte.

Wie riesig dieses verdammte Ding war! Von außen sah es gar nicht so aus, aber diese langen Korridore, diese Abteile mit zehn Etagenbetten übereinander, die jetzt leer standen, diese bewachten Laufgänge und Hallen mit unbekannten Maschinen oder Sockeln, von denen man die Maschinen abmontiert hatte – solche Weiträumigkeit hatte Walthers noch nie bei einem Raumschiff erlebt! Sogar der Kontrollraum war riesig. Alle Steuervorrichtungen waren doppelt vorhanden. Walthers hatte schon Hitschi-Schiffe geflogen – so war er zu Peggys Planet gelangt, als Pilot eines umgebauten Fünfers. Hier waren die Geräte fast die gleichen, nur gab es sie in zweifacher Ausführung. Wenn nicht beide Plätze bemannt waren, konnte der Transporter nicht fliegen. »Willkommen an Bord, Siebter!« Die zierliche, asiatisch aussehende Frau lächelte ihm vom linken Sitz aus zu. »Ich bin Janie Yee-xing, Dritter Offizier. Sie sind meine Ablösung. Kapitän Amheiro muss jeden Augenblick kommen.« Sie bot ihm keine Hand zum Gruß. Walthers hatte das erwartet. Ständig zwei Piloten im Einsatz hieß, dass diese ihre Hände auch ständig an den Instrumenten hatten. Sonst flog der Vogel nicht. Er wäre zwar nicht abgestürzt, aber er würde nicht auf dem richtigen Kurs mit der nötigen Beschleunigung bleiben.

Ludolfo Amheiro kam herein. Er war ein untersetzter, nicht sehr großer Mann mit grauen Koteletten und neun blauen Armspangen über dem linken Handgelenk – nur wenige Leute trugen diese heutzutage noch. Walthers wusste, dass jede von ihnen einen Flug an Bord eines Hitschi-Schiffes bedeutete, und zwar zu der Zeit, als man nie wusste, wohin einen das Schiff führen würde. Hier war ein Mann mit Erfahrung! »Freu’ mich, Sie an Bord zu haben, Walthers«, sagte er von oben herab. »Kennen Sie sich mit der Wachablösung aus? Ist ziemlich einfach. Wenn Sie Ihre Hände auf die Yee-xings auf dem Steuer legen …« Walthers nickte und tat, was er ihm auftrug. Ihre Hände fühlten sich warm und weich an, als sie sie vorsichtig unter seinen herauszog. Dann rutschte sie mit ihrem niedlichen Hintern vom Pilotensitz, um Walthers Platz zu machen. »Das wär’s, Walthers!«, meinte der Kapitän zufrieden. »Der Erste Offizier, Madjhour, wird das Schiff fliegen.« Er winkte dem dunklen, lächelnden Mann zu, der sich gerade auf den rechten Sitz geschoben hatte. »Er wird Ihnen alles Nötige erklären. Jede Stunde haben Sie zehn Minuten Pinkelpause … Ja, das wär’s dann wohl. Essen Sie doch heute mit mir zu Abend, wenn Sie Lust haben.«

Diese Einladung wurde durch ein Lächeln des Dritten Offiziers Janie Yee-xing noch untermauert. Walthers war selbst erstaunt, während er den Erklärungen Ghazi Madjhours zuhörte, dass bereits zehn Minuten vergangen waren, seit er zum letzten Mal an die weggelaufene Dolly gedacht hatte.


Ganz so einfach war es aber nicht. Fliegen blieb Fliegen. Das verlernte man nicht. Aber mit der Navigation war das schon anders, besonders da eine Menge der alten Hitschi-Navigationskarten entschlüsselt worden waren – jedenfalls zum Teil –, während Walthers Schafhirten und Prospektoren auf Peggys Planet herumgeflogen hatte.

Die Sternkarten der S. Ya. waren weit komplizierter als die, welche Walthers auf dem Hinflug benutzt hatte. Es gab zwei Versionen. Die interessantere war die der Hitschi. Auf diesen Karten waren merkwürdige goldene und graugrüne Markierungen eingezeichnet, deren Bedeutung nur teilweise bekannt war. Aber es war wirklich alles eingetragen. Die andere wies sehr viel weniger Details auf, war aber für menschliche Wesen viel zweckdienlicher. Sie war von Menschen erstellt worden und trug englische Beschriftung. Außerdem musste das Schiffslog kontrolliert werden, das automatisch alles aufzeichnete, was das Schiff tat oder sah. Ferner gab es noch die vielen Anzeigen des ganzen internen Systems – die gingen zwar den Piloten nichts an. Wenn aber etwas schief ging, musste er das wissen. All das war natürlich für Audee neu.


Das Erlernen dieser neuen Fachkenntnisse hielt Walthers ganz schön in Trab, was ihm nur recht war. Janie Yee-xing war seine Lehrerin, was ihm auch sehr recht war, weil sie seine Gedanken in andere Bahnen lenkte … außer in den schlimmen Minuten, ehe er einschlief.

Da sich die S. Ya. auf der Heimreise befand, war sie beinahe leer. Über dreitausendachthundert Kolonisten waren zu Peggys Planet hinausgeflogen. Beim Rückflug waren da nur die drei Dutzend Menschen, aus denen die Mannschaft bestand, die militärischen Sonderkommandos, die von den vier leitenden Nationen der Gateway AG unterhalten wurden, und etwa sechzig gescheiterte Immigranten, die eigentliche Fracht. Sie hatten sich finanziell völlig entblößt, um hinauszufahren. Jetzt schufteten sie verdrossen und noch mehr pleite, um wieder in die Wüste oder den Slum zurückzukehren, vor dem sie geflohen waren. Als es hart auf hart ging, hatten sie das Pionierleben in einer neuen Welt einfach nicht gepackt. »Arme Schweine«, murmelte Walthers, als er einem Arbeitstrupp auswich, der mit dem apathischen Schneckentempo von Sklaven Luftfilter reinigte. Aber Yee-xing stimmte ihm keineswegs bei.

Die Entschlüsselung der Hitschi-Karten war äußerst schwierig, vor allem, da es Hinweise gab, dass sie absichtlich so verwirrend aufgezeichnet worden waren. Außerdem gab es nicht viel, woran man sich halten konnte. Zwei oder drei Fragmente, die auf Schiffen wie dem so genannten Hitschi-Himmel gefunden wurden, und ein fast vollständiges Exemplar in einem Artefakt, das einen gefrorenen Planeten um einen Stern im Bootes umkreist. Meiner ganz persönlichen Meinung nach, die allerdings von den offiziellen Berichten der Kartographischen Studienkommission nicht geteilt wurde, sollten viele der Halos, Kreuze und aufflackernden Zeichen als Warnsignale dienen. Robin hat mir damals nicht geglaubt. Er sagte, ich sei ein feiger Pudding aus herumgewirbelten Photonen. Als er mir dann zustimmen musste, war es nicht mehr wichtig, wie er mich nannte.

»Verschwenden Sie kein Mitleid an die, Walthers! Sie hatten ihre Chance. Sie haben sie aber nicht genutzt, sondern feige aufgegeben.« Auf kantonesisch fuhr sie die Arbeiter an, die daraufhin widerwillig einen Augenblick lang ihr Tempo um Bruchteile erhöhten.

»Sie können den Leuten doch keinen Vorwurf machen, wenn sie Heimweh haben.«

»Heimweh! Mein Gott, Walthers, Sie reden, als ob die je ein ›Heim‹ zurückgelassen hätten … Sie sind zu lange draußen im Busch gewesen.« Sie blieb bei der Gabelung zweier Korridore stehen. Der eine glänzte blau von den Spuren des Hitschi-Metalls, der andere golden. Sie winkte den bewaffneten Wachposten zu, welche die Uniformen Chinas, Brasiliens, der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion trugen. »Sehen Sie bei denen Verbrüderung?«, fragte sie. »Früher haben sie das nicht ernst genommen. Sie und die Mannschaft waren wie Kumpels. Sie trugen nie Waffen. Für sie war es nur eine kostenlose Kreuzfahrt durchs All. Aber jetzt!« Sie schüttelte den Kopf. Dann packte sie blitzschnell Walthers’ Arm, als er weiter auf die Wachen zugehen wollte. »Warum hören Sie mir nicht zu, Mann?«, fuhr sie ihn an. »Sie kommen in Teufels Küche, wenn Sie versuchen, da hineinzukommen!«

»Was ist da drin?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Das Hitschi-Zeug, das man beim Umbau des Schiffes nicht herausgenommen hat. Das ist eines der Dinge, die sie bewachen – obwohl«, fügte sie mit gedämpfter Stimme hinzu, »wenn sie das Schiff genauer kennen würden, könnten sie ihre Aufgabe noch besser erfüllen. Aber … kommen Sie! Wir gehen hier lang.«

Walthers folgte ihr bereitwillig. Er war ihr für die Besichtigungstour dankbar und freute sich schon auf das Ziel der Führung. Die S. Ya. war bei weitem das größte Schiff, das er oder irgendein menschliches Wesen je gesehen hatte. Gebaut von den Hitschi, sehr alt – und immer noch auf eine gewisse Art rätselhaft. Sie waren schon halb zu Hause, und Walthers hatte noch nicht einmal ein Viertel dieser schimmernden Labyrinthgänge erforscht. Vor allem hatte er noch keine Gelegenheit gehabt, Yee-xings Kabine zu erforschen. Und darauf freute er sich wie eine lüsterne Jungfrau. Es gab aber noch einige Ablenkungen. »Was ist das?«, fragte er und blieb vor einem grün schimmernden Metallgebilde in Pyramidenform in einer Nische stehen. Ein schweres Stahlgitter schirmte es vor neugierigen Händen ab.

»Keine Ahnung«, gab Yee-xing zu. »Das weiß niemand – deshalb hat man es auch hier gelassen. Einiges von dem Zeug kann man leicht abmontieren und wegbringen, manches geht auch dabei kaputt – ab und zu explodiert auch etwas beim Abbau. Hier entlang, den schmalen Gang! Da wohne ich.«

Ein ordentliches, schmales Bett, an der Wand Fotos eines alten Paares aus dem Fernen Osten – Janies Eltern? –, Blumengestecke auf der Wandkommode. Yee-xing hatte sich wohnlich eingerichtet. »Ich wohne hier nur auf dem Rückflug«, erklärte sie ihm. »Auf dem Hinflug ist das die Kapitänskabine. Wir anderen schlafen in Kojen in der Pilotenunterkunft.« Sie zupfte an der Bettdecke, die bereits völlig gerade war. »Auf den Fahrten nach draußen gibt es nicht viel Gelegenheiten, ein bisschen Spaß zu haben«, sagte sie. »Möchten Sie ein Glas Wein?«

»Sehr gerne«, antwortete Walthers. Er nahm Platz, trank Wein und teilte sich mit der hübschen Janie Yee-xing einen Joint. Dann genoss er auch die anderen Annehmlichkeiten, welche die kleine Kabine zu bieten hatte. Alle waren von ausgezeichneter Qualität und so recht nach seinem Geschmack.

Falls er überhaupt während der nächsten halben Stunde an Dolly dachte, geschah das nicht mit Eifersucht oder Wut, sondern beinahe mit Mitleid.


Wie sich herausstellte, boten die Rückflüge nicht nur Gelegenheit, sondern auch genügend Platz für Spaß – selbst in einer Kabine, nicht größer als die von Horatio Hornblower einige Jahrhunderte früher. Der Wein war von der besten Sorte, der auf Peggys Planet wuchs. Als sie die Flasche geleert hatten, schien die Kabine viel enger als vorher, und es blieb ihnen noch eine Stunde oder länger, bis ihr Dienst begann. »Ich habe Hunger«, verkündete Yee-xing. »Ich hab’ noch etwas Reis und anderes Zeug hier. Aber vielleicht …«

Es war nicht der richtige Zeitpunkt, das Glück überzustrapazieren, obwohl ein selbst gekochtes Essen verlockend klang. Sogar Reis und Zeug. »Lass uns zur Kombüse gehen«, schlug Walthers vor. Hand in Hand schlenderten sie gemütlich zurück zu dem Teil des Schiffes, wo gearbeitet wurde. Bei einer Gabelung der Korridore blieben sie stehen. Dort hatten die längst verschwundenen Hitschi aus Gründen, die nur ihnen bekannt waren, kleine Gruppen von Büschen und Sträuchern angepflanzt – natürlich nicht die, welche jetzt dort wuchsen. Yee-xing blieb stehen, um eine leuchtend blaue Beere zu kosten.

»Sieh dir das an«, sagte sie. »Die sind alle reif, und diese Tagediebe pflücken sie nicht.«

»Du meinst die heimreisenden Kolonisten? Aber sie bezahlen doch …«

»Na klar!«, unterbrach sie ihn verächtlich. »Kein Geld, kein Flug! Aber wenn sie zurück sind, leben sie sofort wieder von der Unterstützung. Was sollen sie sonst machen?«

Walthers probierte eine der saftigen, dünnhäutigen Früchte. »Du magst die Heimkehrer nicht besonders.«

Yee-xing lächelte. »Ich mache aus meiner Meinung wohl kaum ein Geheimnis, oder?« Dann verschwand ihr Lächeln. »Erstens existiert dort nichts, wo sie hergekommen sind – wenn sie ein ordentliches Leben gehabt hätten, wären sie nie ausgewandert. Zweitens hat sich die Lage noch verschlechtert, seit sie weggegangen sind. Mehr Ärger mit Terroristen. Mehr internationale Spannungen – ja, es gibt sogar wieder Länder, die ihre Armeen vergrößern und aufrüsten! Und drittens müssen sie nicht nur unter alldem leiden. Sie sind auch teilweise der Anlass. Die Hälfte der Schwachköpfe, die du hier siehst, werden sich innerhalb eines Monats irgendeiner Terrorgruppe anschließen – oder sie wenigstens unterstützen.«

Sie schlenderten weiter. Walthers gab kleinlaut zu: »Stimmt schon. Ich bin lange weg gewesen; aber ich habe auch gehört, dass die Lage ziemlich schlimm geworden ist – Bomben und Schießereien.«

»Bomben! Wenn das alles wäre! Sie haben jetzt einen TPSE! Du kommst zurück ins Erdsystem und hast nicht den leisesten Schimmer, wann du ohne Warnung plötzlich durchdrehst.«

»Einen TPSE? Was ist ein TPSE?«

»Mein Gott, Walthers!«, wunderte sie sich. »Du warst wirklich lange weg. Was man früher den Wahnsinn nannte. Erinnerst du dich nicht? Es ist ein telempathisch-psychokinetischer Sender-Empfänger, eines der alten Hitschi-Dinger. Davon schwirren etwa ein Dutzend herum, und die Terroristen besitzen eins.«

»Der Wahnsinn«, wiederholte Walthers und runzelte die Stirn, als sich die Erinnerung aus seinem Unterbewusstsein heraufarbeitete.

»Genau! Der Wahnsinn!«, sagte Yee-xing mit trauriger Genugtuung. »Ich entsinne mich. Ich war damals noch ein Kind, in Kanchow. Da kam mein Vater mit blutigem Kopf nach Hause, weil jemand aus dem obersten Stock der Glasfabrik gesprungen war. Genau auf meinen Vater drauf! Total übergeschnappt! Und alles vom TPSE.«

Walthers nickte, ohne zu antworten. Seine Züge waren angespannt. Yee-xing blickte ihn erstaunt an. Dann zeigte sie auf die Wachposten vor ihnen. »Das ist es, was sie hauptsächlich bewachen«, erklärte sie. »Da ist nämlich immer noch einer auf der S. Ya. Gibt viel zu viele davon! Es ist ihnen auch viel zu spät eingefallen, die Dinger abzuschirmen. Jetzt verfügt ein Haufen Terroristen über einen Hitschi-Fünfer mit einem TPSE, und da ist noch jemand, der wirklich verrückt ist. Ich meine, richtig wahnsinnig! Wenn er das Ding einschaltet, und du spürst ihn in deinem Kopf, ist das so unheimlich und grauenvoll – Walthers, fehlt dir etwas?«

Es war natürlich der ausgesetzte Junge, Wan, der das Fieber verursachte. Dabei wollte er lediglich irgendeine Form menschlichen Kontakts, weil er so einsam war. Er hatte gar nicht die Absicht, die Mehrzahl der menschlichen Rasse mit seinen verrückten und besessenen Gedanken in den Wahnsinn zu treiben. Die Terroristen dagegen wussten ganz genau, was sie taten.

Er blieb am Eingang zu dem golden glitzernden Korridor stehen. Die Wachposten schauten ihm neugierig entgegen. »Der Wahnsinn«, überlegte er. »Wan! Das war doch früher sein Schiff!«

»Ja, sicher«, bestätigte die junge Frau und verzog das Gesicht. »Hör mal, wir wollten doch was essen gehen. Es wird langsam Zeit.« Sie machte sich Sorgen. Walthers’ Kiefer waren fest zusammengepresst, die Gesichtsmuskeln angespannt. Er sah aus wie jemand, der erwartete, einen Schlag ins Gesicht zu bekommen. Auch die Wachen wurden unruhig. »Komm doch, Audee!«, bat sie ihn.

Walthers bewegte sich und schaute sie an. »Geh schon vor!«, sagte er. »Ich habe keinen Hunger mehr.«


Wans Schiff! Wie merkwürdig, dachte Walthers, dass ihm der Zusammenhang nicht schon früher aufgefallen war. Natürlich, das war es!

Wan war auf diesem Schiff geboren worden. Lange, ehe man es in S. Ya. Broadhead umbenannt hatte, lange, ehe die menschliche Rasse wusste, dass es existierte … es sei denn, man rechnete die paar Dutzend entfernte Verwandte des Australopithecus afarensis zu den Menschen. Wan war von einer schwangeren Gateway-Prospektorin geboren worden. Ihr Mann war auf einer Mission verloren gegangen, sie auf einer anderen gestrandet. Sie blieb noch einige Jahre am Leben, dann ließ sie ihn als Waisen zurück. Walthers konnte sich Wans Kinderjahre nur mit Mühe vorstellen – ein winziges Kind in diesem riesigen, beinahe leeren Schiff, keine Gesellschaft außer Wilden und den computergespeicherten Analoga toter Raumprospektoren, von denen eine zweifellos seine Mutter gewesen war. Man musste Mitleid haben …

Walthers hatte aber kein Mitleid. Nicht mit Wan, der sich seine Frau ausgeliehen hatte; und auch nicht mit dem Mann, der diese Maschine entdeckt hatte, den TPSE – die Abkürzung für »Telempathisch-Psychokinetischer Sender-Empfänger«, wie er in der schwerfälligen Bürokratensprache hieß. Wan hatte ihn nur eine Traumcouch genannt. Der Rest der Menschheit hatte ihn als »Fieber« bezeichnet, diese grauenvolle, undefinierbare Besessenheit, die jeden lebenden Menschen befallen hatte, als der dämliche junge Wan diese Couch entdeckte und herausfand, dass er dadurch eine Art Kontakt mit lebenden Wesen herstellen konnte. Er wusste aber nicht, dass dadurch die Menschheit auch eine Art von Kontakt mit ihm herstellte. Und so drangen seine pubertären Träume, Ängste und sexuellen Phantasien in zehn Milliarden menschliche Gehirne … Walthers erinnerte sich daran, und es gab ihm einen weiteren Grund, Wan zu hassen.

Er konnte sich an diesen wiederholt auftretenden, weltweiten Wahnsinn nicht mehr in allen Einzelheiten erinnern, konnte sich auch nicht mehr vorstellen, wie verheerend die Wirkung gewesen war. Er versuchte gar nicht erst, sich Wans einsame, leere Kindheit hier vorzustellen, sondern dachte lieber an den jetzigen Wan, der auf seinen geheimnisvollen Fahrten die Sterne umkreiste, seine einzige Gefährtin dabei Walthers’ flüchtige Ehefrau – das, und zwar mit allem Drum und Dran, konnte er sich sehr wohl vorstellen.

Und das tat er auch. Er verbrachte fast die ganze Stunde, die ihm bis zum Dienstantritt blieb, mit diesen Vorstellungen. Bis er erkannte, dass er sich in Selbstmitleid wälzte und sich freiwillig so erniedrigte, wie es für einen erwachsenen Menschen unwürdig war.


Er war pünktlich. Yee-xing war vor ihm in der Pilotenkanzel. Sie sagte nichts, blickte ihn nur überrascht an. Er lächelte ihr zu und ging an die Arbeit.

Obwohl der Pilot des Raumschiffes im Grunde nicht viel mehr zu tun hatte, als das Steuer zu halten und das Schiff sich selbst fliegen zu lassen, wurde es Walthers nicht langweilig. Seine Stimmung war umgeschlagen. Die ungeheure Größe des Schiffes, das er unter seinen Fingerspitzen hatte, bedeutete eine Herausforderung. Er beobachtete Janie Yee-xing, wie sie mit Knien, Zehenspitzen und Ellenbogen die Instrumente bediente, die den Kurs, die Position, den Zustand des Schiffes und all die anderen Daten anzeigten, die ein Pilot nicht wirklich brauchte, um den Pott zu fliegen, die er aber kennen sollte, wenn er sich Pilot nennen wollte. Walthers rief den Kurs ab und überprüfte die Position der S. Ya., einen winzigen, leuchtenden Goldpunkt an einer dünnen, blauen Linie, neunzehnhundert Lichtjahre lang. Er verifizierte, dass die Position auch stimmte, indem er die Winkel zu den rot leuchtenden Markierungssternen auf der Route berechnete. Stirnrunzelnd warf er einen Blick auf die Hand voll »Bleib-weg!«-Markierungen, wo Schwarze Löcher und Gaswolken eine Bedrohung darstellten – keine davon war in der Nähe ihres Kurses, wie es schien. Er rief sogar die große Hitschi-Himmelskarte auf, welche die gesamte Galaxis zeigte, wobei andere Mitglieder der Örtlichen Gruppe am Rande hingen. Mehrere hundert sehr gescheite Menschen und tausende von Arbeitsstunden maschineller Intelligenz hatten den Kode der Hitschi-Karten zu entschlüsseln versucht. Immer noch gab es Teile, über die man nicht Bescheid wusste. Mit gerunzelter Stirn betrachtete Walthers die einzelnen Stellen im gesamten Gebiet, wo die bunt aufleuchtenden Punkte doppelt und dreifach auftraten, von denen jeder »Gefahr« signalisierte. Was konnte so gefährlich sein, dass die Hitschi-Karten vor Panik fast aufschrien?

Es gab noch eine Menge zu lernen! Und wo konnte man das besser tun als hier auf dem Schiff, dachte Walthers. Natürlich war seine Arbeit zeitlich genau begrenzt. Aber wenn er seinen Dienst gut versah … wenn er Bereitwilligkeit und Talent zeigte … wenn er den Kapitän für sich einnahm … wenn der Kapitän nach Erreichen der Erde einen neuen Siebten Offizier anheuern musste, hatte er doch keinen besseren Kandidaten als Walthers. Das waren so seine Gedanken.

Als die Schicht vorbei war, kam Yee-xing herüber. Zwischen den beiden Pilotensitzen lagen etwa zehn Meter. »Als Pilot machst du dich wirklich gut, Walthers«, lobte sie. »Ich hatte anfangs so meine Bedenken.«

Die Hitschi-Systeme für Navigation und Kartierung waren nicht leicht zu entschlüsseln. Bei der Navigation geht das System von zwei Punkten aus – Start und Ziel der Fahrt. Dann sucht es alle dazwischen liegenden Hindernisse heraus. Das können Staub- oder Gaswolken sein, störende Strahlung, Gravitationsfelder und vieles mehr. Danach werden die Punkte ausgewählt – dazwischen oder außen herum –, an denen eine sichere Durchfahrt möglich ist. Man konstruiert eine Kurvenlinie, um die Punkte miteinander zu verbinden. Auf diesem Kurs wird das Schiff dann hinausgeschickt.


Viele Objekte und Punkte auf den Karten waren besonders gekennzeichnet, um die Aufmerksamkeit darauf zu lenken – flackernde Aurae, Kreuze und so weiter. Die Schwierigkeit lag aber darin, dass wir nicht wussten, welche Zeichen Warnsignale waren oder wovor sie warnten.

Er nahm ihre Hand, und sie gingen zur Tür. »Ich hatte vorhin wohl schlechte Laune«, entschuldigte er sich. Yee-xing zuckte mit den Achseln.

»Die erste Freundin nach einer Scheidung bekommt immer den ganzen Mist ab«, bemerkte sie. »Was hast du gemacht? Hast du eines deiner Seelenklempnerprogramme aktiviert?«

»War nicht nötig. Ich habe nur …« Walthers zögerte und versuchte sich zu erinnern, was er getan hatte. »Ich habe nur ein kurzes Selbstgespräch geführt. Wenn einem die Frau einfach abhaut«, erklärte er, »kommt man sich vor allem so beschämt vor. Ich meine, außer der Eifersucht und der Wut und allem anderen. Aber nachdem ich mich eine Zeit lang hatte hängen lassen, wurde mir plötzlich klar, dass ich nichts getan hatte, wofür ich mich schämen müsste. Dieses Gefühl war unberechtigt. Verstehst du mich?«

»Und das hat geholfen?«, fragte sie.

»Ja. Nach einer Weile.« Und nachdem er das unfehlbare Gegenmittel auf durch Frauen verursachte Schmerzen – eine andere Frau – eingenommen hatte. Aber das wollte er dem Gegenmittel nicht erzählen.

»Das muss ich mir merken, wenn mich wieder mal einer sitzen lässt. Aber jetzt ist es, glaube ich, Zeit ins Bett zu gehen …«

Er schüttelte den Kopf. »Es ist noch früh. Ich bin noch so aufgedreht. Was ist mit dem alten Hitschi-Zeug? Du hast doch behauptet, du wüsstest, wie man an den Wachposten vorbeikommt.«

Sie blieb abrupt stehen und schaute ihn an. »Du hältst einen ganz schön auf Trab, Audee. Mal so, mal so«, beklagte sie sich. »Aber was soll’s!«


Die S. Ya. hatte einen doppelten Rumpf. Der Zwischenraum war eng und dunkel. Man konnte ihn aber betreten. Yee-xing führte Walthers durch den engen Gang an der Außenhaut des riesigen Raumschiffes, dann durch das Labyrinth der leeren Siedlerbetten, vorbei an der primitiven, großen Küche, die sie ernährte, an einen Ort, der nach uraltem Abfall und Fäulnis roch – in eine geräumige, schummrige Kammer. »Hier ist es«, sagte sie. Sie flüsterte, obwohl sie ihm versichert hatte, sie wären von den Wachen so weit entfernt, dass diese sie nicht hören konnten. »Bring deinen Kopf nahe an das Ding, das wie ein silbernes Körbchen aussieht – siehst du, wo ich hinzeige? Aber ja nicht berühren! Das ist wichtig!«

»Warum ist das wichtig?« Walthers schaute sich in dem Raum um, der so etwas wie der Dachboden der Hitschi gewesen sein könnte. Da gab es mindestens vierzig Geräte, kleine und große, die alle fest mit dem Schiff verbunden waren. Manche waren groß, manche klein, manche rund mit gespreiztem Sockel auf dem Deck, manche eckig, die metallisch blau und grün schimmerten. Von den geflochtenen Metallhüllen, auf die Yee-xing zeigte, gab es drei, die alle gleich aussahen.

»Es ist wichtig, weil ich nicht von Bord dieses Schiffes gejagt werden will, Audee. Pass also auf!«

»Ich pass’ schon auf. Warum gibt es drei davon?«

»Warum haben die Hitschi überhaupt etwas so oder so gemacht? Vielleicht waren alle drei Reservestücke. Und jetzt hör mir ganz genau zu! Bring deinen Kopf nahe an das Metall heran, aber nicht zu nahe. Sobald du etwas spürst, das nicht aus dir selbst herauskommt, bist du nahe genug. Du wirst wissen, wann es so weit ist. Geh dann nicht näher heran, und vor allem, berühre es auf keinen Fall! Das Ding funktioniert nämlich in beide Richtungen. Solange du mit einem allgemeinen Gefühl zufrieden bist, bemerkt keiner etwas. Jedenfalls wahrscheinlich nicht. Wenn sie aber etwas mitbekommen, jagt uns der Kapitän alle beide zum Teufel. Hast du das kapiert?«

»Natürlich!«, erwiderte Walthers etwas verärgert und schob seinen Kopf etwa zehn Zentimeter an das silbrige Drahtgeflecht heran. Dann wandte er sich wieder Yee-xing zu. »Nichts«, bemerkte er.

»Versuch es ein bisschen näher.«

Es war nicht leicht, den Kopf Zentimeter um Zentimeter vorzuschieben, wenn er in so merkwürdig schiefer Stellung gehalten werden musste und es nichts zum Festhalten gab. Aber Walthers folgte ihren Anweisungen …

»Das reicht!«, rief Yee-xing, die sein Gesicht beobachtet hatte. »Nicht näher!«

Er antwortete nicht. Sein Kopf war voll kaum wahrnehmbarer Empfindungen – ein wirres Durcheinander von Empfindungen. Da waren Träume und Tagträume und jemand in höchster Atemnot. Da lachte jemand, und jemand anderer, der eigentlich drei Paare zu sein schien, betätigte sich auf sexuellem Gebiet. Er drehte sich, um Janie zuzulächeln, und wollte etwas sagen …

Und dann war da ganz plötzlich noch etwas anderes.

Walthers erstarrte. Aufgrund Yee-xings Beschreibung hatte er irgendein Gefühl von Gesellschaft erwartet. Die Gegenwart anderer Leute. Deren Ängste, Freuden, Sehnsüchte und Vergnügungen – aber diese »anderen« waren immer menschlich.

Dieses neue Ding war es nicht.

Walthers wand sich in Krämpfen. Sein Kopf berührte das Geflecht. Alle Empfindungen wurden tausendfach deutlicher, wie beim Scharfstellen einer Linse, und er spürte die neue und distanzierte Anwesenheit – oder Anwesenheiten? – auf eine ganz andere und unmittelbare Art und Weise. Es war ein entferntes, rutschiges, frostiges Gefühl, das nicht von etwas Menschlichem ausging. Falls die Urheber dieser Empfindungen Depressionen oder Phantasievorstellungen hatten, war Walthers nicht imstande, diese zu erfassen. Er konnte nur spüren, dass sie anwesend waren, dass sie existierten. Sie gaben keine Antwort. Sie veränderten sich nicht.

Genauso müsste das Gefühl sein, wenn man sich in das Bewusstsein einer Leiche versetzen könnte, dachte Walthers mit Panik und Abscheu …

All dies spielte sich in einem Bruchteil einer Sekunde ab. Dann bemerkte er, dass Yee-xing ihn am Arm zog und in sein Ohr brüllte. »Walthers, du verdammter Idiot! Ich habe es gespürt! Und der Kapitän auch und jeder auf diesem verdammten Schiff! Jetzt kriegen wir Ärger!«

Sobald er seinen Kopf von dem silbrigen Geflecht wegzog, waren die Empfindungen verschwunden. Die schimmernden Wände und schemenhaften Maschinen waren wieder Wirklichkeit. Mitten darin Janie Yee-xings wütendes Gesicht. Ärger? Walthers musste lachen. Nach der Eiseskälte, der langsamen Hölle, auf die er soeben einen Blick geworfen hatte, konnte ihn nichts Menschliches mehr erschüttern oder schrecken. Als die vier Wachposten mit Waffen im Anschlag hereingestürmt kamen und sie in vier Sprachen anbrüllten, hätte Walthers sie beinahe freudig begrüßt.

Sie waren wenigstens menschlich und am Leben.

In seinem Gehirn bohrte sich eine Frage tiefer und tiefer: War er mit den rätselhaften, verborgenen Hitschi in Kontakt gekommen?

Wenn dem so war, sagte er schaudernd zu sich selbst, möge der Himmel der menschlichen Rasse beistehen.

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