Eine Bombe auf Kyoto, die tausend Jahre alte hölzerne Buddhastatuen in Brand steckte, ein Schiff ohne Besatzung, das auf dem Gateway-Asteroiden im Heimathafen lag und eine Wolke Anthrax-Sporen freisetzte, als es geöffnet wurde, eine Schießerei in Los Angeles und Plutoniumstaub im Staines-Reservoir von London – das waren Ereignisse, die uns alle in Atem hielten. Terrorismus. Sinnlose Gewalttaten. »Es geht schon seltsam auf der Welt zu«, bemerkte ich zu meiner lieben Frau Essie. »Einzelwesen verhalten sich besonnen und vernünftig. In Gruppen werden sie zu krakeelenden Jugendlichen – wie können Menschen nur so kindisch sein, sobald sie sich zu Gruppen zusammengeschlossen haben?«
»Stimmt«, nickte Essie. »Ist richtig. Aber sag mir, Robin, wie geht es deinem Bauch?«
»Den Umständen entsprechend«, antwortete ich bekümmert und fügte als Scherz hinzu: »Heutzutage bekommt man einfach keine guten Ersatzteile mehr.« Denn auch die Därme in meinem Bauch waren Transplantate, wie viele der Zubehörteile, die mein Körper brauchte, um weiterzumachen – das sind die Vorteile des medizinischen Vollschutzes. »Aber ich spreche nicht von meiner Krankheit. Ich spreche von der Krankheit der Welt.«
»Es ist richtig, dass du das tust«, pflichtete mir Essie bei. »Aber wenn du deinen Bauch reparieren ließest, würdest du nicht so oft von solchen Sachen reden.« Sie trat hinter mich und fühlte mit der Hand meine Stirn, wobei sie geistesabwesend auf den Tappan-See hinausschaute. Essie kennt sich mit Instrumenten aus wie nur wenige Leute und besitzt auch Auszeichnungen, die das beweisen. Aber wenn sie wissen will, ob ich Fieber habe, stellt sie das auf die gleiche Art fest wie die Kinderfrau, die sie in Leningrad gehabt hatte. »Ist nicht sehr heiß«, meinte sie zögernd. »Aber was sagt Albert?«
»Albert sagt, dass du deine Hamburger unter die Leute bringen solltest.« Ich drückte ihre Hand. »Ehrlich. Mir geht’s gut.«
»Frag doch Albert! Dann weißt du es sicher«, bat sie mich. Dabei war sie mehr als beschäftigt, ihre Ladenkette auszubauen.
Ich wusste das. »Werd’ ich«, versprach ich und tätschelte ihren hinreißenden Hintern, als sie in ihr Arbeitszimmer ging. Sobald sie weg war, rief ich: »Albert? Hast du gehört?«
Im Holorahmen über meinem Schreibtisch erschien das Bild meines Datenabrufprogramms. Er kratzte sich mit dem Pfeifenstiel an der Nase. »Ja, Robin«, meldete sich Albert Einstein. »Natürlich habe ich es mitbekommen. Wie du weißt, sind meine Rezeptoren immer in Betrieb, es sei denn, dass du mich ausdrücklich bittest, sie abzuschalten, oder wenn die Situation eindeutig privat ist.«
»So, so«, meinte ich und betrachtete ihn aufmerksam. Mein Albert ist mit seinem schmuddeligen Sweatshirt, das am Hals Falten wirft, und den bis auf die Knöchel heruntergerutschten Socken nicht gerade ein betörender Dressman. Essie würde ihn blitzschnell auf Vordermann bringen, wenn ich sie darum bäte. Aber ich mochte ihn so, wie er war. »Und woher weißt du, wann die Situation privat ist, wenn du nicht hinsiehst?«
Er bewegte den Stiel der Pfeife von der Nase zum Jochbein, immer noch kratzend, immer noch lächelnd. Diese Frage war so oft gestellt worden, dass keine Antwort nötig war.
Albert ist wirklich mehr ein Freund als ein Computerprogramm. Er weiß genau, wann er nicht antworten muss, weil ich eine rhetorische Frage gestellt habe. Früher hatte ich etwa ein Dutzend verschiedener Programme. Ich hatte für das Geschäft ein Managerprogramm, das mich über meine Investitionen auf dem Laufenden hielt, ein medizinisches Programm, das mir anzeigte, wann meine Organe ersetzt werden mussten (unter anderem – ich glaube, dass dieses mit meinem Küchenchefprogramm unter einer Decke steckte, um die komischsten Pharmaprodukte in mein Essen zu schmuggeln), ferner ein Rechtsanwaltprogramm, das mir sagte, wie ich mich aus einer misslichen Lage befreien konnte, und mein altes Psychiaterprogramm, das mir erklärte, warum ich den Mist gebaut hatte, wenn ich zu tief drinsteckte. Jedenfalls versuchte es dies. Ich habe ihm aber nicht immer geglaubt. Im Laufe der Zeit habe ich mich mehr und mehr auf meinen allgemein wissenschaftlichen Ratgeber und mein Mädchen für alles, Albert Einstein, beschränkt. »Robin«, sagte er mit leichtem Tadel. »Du hast mich doch nicht bloß gerufen, um herauszufinden, ob ich ein Spanner bin!«
»Du weißt ganz genau, warum ich dich gerufen habe«, entgegnete ich. Er nickte und deutete auf die gegenüberliegende Wand meines Büros über dem Tappan-See, wo mein Gegensprechanlagen-Bildschirm war – Albert kontrolliert ihn ebenso wie alles andere, das mir gehört. Dort erschien eine Art Röntgenbild.
»Während wir uns unterhalten haben«, gestand er, »habe ich mir die Freiheit genommen, Robin, dich mit Schallimpulsen abzutasten. Sieh mal! Das ist dein letztes Darmtransplantat. Wenn du genau hinschaust – warte, ich werde es vergrößern –, kannst du den gesamten Entzündungsbereich erkennen. Ich befürchte, dass du es abstößt. Leider.«
»Um das zu wissen, hätte ich dich nicht gebraucht«, fuhr ich ihn an. »Wie lange?«
»Ehe es kritisch wird, willst du wissen? Ja, Robin«, erklärte er mit großem Ernst. »Das ist schwierig zu sagen. Medizin ist schließlich keine exakte Wissenschaft …«
»Wie lange?«
Er seufzte. »Ich kann dir eine Schätzung für Minimum und Maximum geben. Katastrophales Versagen ist für die nächsten vierundzwanzig Stunden so gut wie ausgeschlossen, aber in sechzig Tagen so gut wie sicher.«
Ich entspannte mich.
Das war nicht so schlimm, wie es hätte sein können. »Dann habe ich also noch etwas Zeit, ehe es ernst wird.«
»Nein, Robin«, widersprach er. »Es ist bereits ernst. Das Unbehagen, das du spürst, wird sich noch verstärken. Du solltest auf alle Fälle mit der medizinischen Behandlung anfangen. Aber trotz aller Medikamente lautet die Prognose: heftige Schmerzen, und zwar bald.« Er machte eine Pause und beobachtete mich. »Aus deinem Gesichtsausdruck schließe ich, dass du den Eingriff aus einer Marotte heraus so lange wie möglich aufschieben willst.«
»Ich möchte die Terroristen aufhalten!«
»Ja, sicher!«, stimmte er mir zu. »Ich weiß, dass du das willst. Es ist ja auch ein triftiger Grund, wenn ich mein Werturteil abgeben darf. Und gerade deshalb willst du auch nach Brasilien, um bei der Gateway-Kommission zu intervenieren.« – Das wollte ich wirklich. Die schlimmsten Verbrechen der Terroristen wurden von einem Raumschiff aus begangen, das bisher keiner erwischen konnte. – »Ferner willst du sie dazu bringen, ihre Daten auszutauschen, damit sie die Terroristen ernsthaft bekämpfen können. Ja, und von mir willst du die Zusicherung, dass der Aufschub der Behandlung dich nicht umbringen wird.«
»Ganz genau, mein lieber Albert!« Ich lächelte.
»Diese Zusicherung kann ich dir geben«, sagte er mit großem Ernst. »Zumindest kann ich deinen Zustand überwachen, bis die Sache akut wird. Dann aber musst du dich sofort einer neuen Operation unterziehen.«
»Einverstanden, mein lieber Albert.« Ich lächelte erneut, doch er erwiderte mein Lächeln nicht.
»Aber trotzdem glaube ich nicht, dass du nur einzig und allein deshalb den Austausch aufschieben willst«, vermutete er. »Du hast doch noch etwas anderes im Sinn.«
»Ach, Albert«, stöhnte ich. »Wenn du Sigfrid Seelenklempner spielst, gehst du mir auf den Wecker. Sei lieb und schalte dich ab!«
Mit sorgenvoller Miene tat er es. Er hatte auch allen Grund, so bekümmert dreinzuschauen. Schließlich hatte er Recht.
Und tief in meinem Innern, an dieser nicht lokalisierbaren Stelle, an der die unausrottbaren Schuldgefühle lauern, die auch Sigfrid Seelenklempner nicht beseitigen konnte, hegte ich die Überzeugung, dass die Terroristen im Recht waren. Natürlich nicht in dem Sinne, Leute umzubringen, sie in die Luft zu jagen oder in den Wahnsinn zu treiben. Das bleibt immer Unrecht. Ich meine, dass sie einen berechtigten Grund zur Klage zu haben glaubten, einen sündhaften, ungerechten Hass auf die restliche Menschheit. Deshalb hatten sie das Recht, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ich wollte den Terroristen nicht Einhalt gebieten. Ich wollte sie heilen.
Oder wenigstens nicht noch kränker machen, als sie ohnehin schon waren. Damit sind wir bei dem moralischen Kern der Angelegenheit. Wie viel darf man von einer anderen Person stehlen, ehe man zum Dieb wird?
Dieses Problem beschäftigte mich ungeheuer, und ich hatte niemand, der mir die Lösung hätte anbieten können. Essie nicht, denn mit Essie kam das Gespräch immer wieder auf meinen Bauch zurück. Auch nicht mein altes psychoanalytisches Programm, weil dies immer von der Frage »Was trage ich dazu bei, die Dinge zu verbessern?« auf »Warum, Robin, hast du das Gefühl, dass du die Dinge verbessern musst?« überging. Nicht einmal Albert. Ich konnte mich mit Albert über alles unterhalten. Wenn ich ihm aber Fragen dieser Art stelle, wirft er mir einen Blick zu, als hätte ich ihn aufgefordert, mir die physikalischen Eigenschaften von Phlogiston zu definieren – oder die Gottes. Albert ist nur eine holographische Projektion; aber er blendet sich in seine Umgebung so hervorragend ein, als ob er wirklich anwesend wäre. Er schaut sich immer nachdenklich alles an, ganz gleich, wo wir uns gerade befinden – zum Beispiel das Haus am Tappan-See, das wirklich sehr komfortabel eingerichtet ist, wie ich selbst zugeben muss. Meist macht er dann eine Bemerkung wie: »Warum stellst du bloß so metaphysische Fragen, Robin?« Ich weiß, dass er damit eigentlich sagen will: »Du lieber Himmel, Junge! Wann wirst du endlich kapieren, dass du es geschafft hast?«
Zugegeben. Ich habe es geschafft, bis zu einem gewissen Punkt. Ein gütiges Schicksal hat mir einen Haufen Geld in den Schoß geworfen, als ich es am wenigsten erwartet hatte. Und viel Geld bekommt Junge. Jetzt kann ich alles kaufen, was für Geld zu haben ist. Sogar einige Dinge, die nicht verkauft werden. Ich besitze schon eine Menge Dinge, die es wert sind. Ich habe mächtige Freunde. Ich bin jemand, mit dem man rechnen muss. Ich werde geliebt, wirklich geliebt, von meiner lieben Frau Essie – und das sogar ziemlich oft, wenn man bedenkt, dass wir nicht mehr die Jüngsten sind. Ich lache also etwas gequält und wechsele das Thema … Aber ich habe nie eine Antwort erhalten. Ich habe nicht einmal jetzt eine Antwort erhalten, obwohl die Fragen noch viel schwieriger sind.
Außerdem habe ich schwere Gewissensbisse, dass ich den armen Audee Walthers so lange Trübsal blasen lasse, während ich abschweife. Lassen Sie mich daher meinen Gedankengang abschließen.
Der Grund für mein schlechtes Gewissen bezüglich der Terroristen liegt darin, dass sie arm sind und ich reich bin. Da draußen gab es eine für sie hervorragend geeignete, großartige Galaxis. Aber wir hatten keine praktikable Möglichkeit, sie dorthin zu bringen, auf alle Fälle nicht schnell genug. Dabei schrien sie laut und kamen fast um vor Hunger. Auf den PV-Bildschirmen sahen sie, wie herrlich das Leben für einige von uns sein konnte. Wenn sie sich aber ihre armseligen Hütten und Lehmbehausungen betrachteten, wurde ihnen ihre verzweifelte Situation vor Augen geführt: dass sie fast keine Chance hatten, all die großartigen Dinge zu bekommen, ehe sie starben. Albert nennt das die Revolution der steigenden Erwartungen. Man hätte Abhilfe schaffen müssen – aber ich wusste nicht, wie. Jetzt lag mir die Frage auf der Seele, ob ich ein Recht hatte, alles noch schlimmer zu machen. Hatte ich das Recht, die Organe, die Haut und die Arterien eines anderen zu kaufen, wenn meine verschlissen waren?
Ich fand keine Antwort. Ich weiß sie auch jetzt noch nicht. Aber die Schmerzen in meinem Bauch waren geringer als die, wenn ich darüber nachdachte, das Leben eines anderen Menschen zu stehlen, nur weil ich dafür bezahlen konnte und er nicht.
Und während ich hier saß und meinen Bauch hielt und mir darüber Gedanken machte, was ich einmal werden würde, wenn ich erwachsen wäre, nahm alles im riesigen Universum seinen gewohnten Lauf.
Das meiste an diesem Lauf war sehr quälend. Da war diese Machs-Prinzip-Sache, die Albert immer wieder versucht hatte, mir zu erklären. Nach dieser Theorie versuchte jemand – vielleicht die Hitschi –, das Universum zu einem kleinen Ball zusammenzupressen und die physikalischen Gesetze neu zu schreiben. Unglaublich. Wirklich unglaublich beängstigend, wenn man darüber nachdachte … Allerdings würde das erst in Millionen oder Milliarden von Jahren eintreten. Daher würde ich diese Sorge nicht als ausgesprochen dringlich bezeichnen. Die Terroristen und die wachsenden Armeen waren sehr viel akuter. Die Terroristen hatten eine Schlaufenkapsel, die das Hohe Pentagon angesteuert hatte, entführt. Sie rekrutierten neuen Nachwuchs aus der Sahelzone, wo es wieder einmal eine Missernte gegeben hatte. Unterdessen versuchte Audee Walthers, sich ein neues Leben aufzubauen, ohne seine herumstreunende Frau. Unterdessen zog seine Frau mit diesem widerlichen Kerl, Wan, herum. Ferner begann in der Nähe des Kerns der Hitschi-Kapitän hinsichtlich seines Zweiten Offiziers, die Twice hieß, erotische Phantasien zu entwickeln. Und unterdessen war meine Frau, trotz ihrer Ängste um meinen Bauch, glücklich, dass sie ihre Schnellrestaurantkette auf Papua, Neu-Guinea und die Andamanen ausdehnen konnte. Und unterdessen – ja, unterdessen! So viel geschah unterdessen!
Machs Prinzip, von dem Robin hier spricht, war damals noch reine Spekulation, allerdings, wie Robin richtig feststellt, eine sehr beängstigende. Die Sache ist sehr kompliziert. Lassen Sie mich für den Augenblick nur so viel sagen: Es gab Anzeichen, dass die Expansion des Universums zum Stillstand gekommen war und eine Kontraktion eingesetzt hatte – ferner noch eine Andeutung in alten, bruchstückhaften Aufzeichnungen der Hitschi, dass dieser Vorgang nicht natürlich zustande gekommen war.
Das ist immer so, aber für gewöhnlich wissen wir nichts davon.