Da stand er nun, dieser Kerl mit einem wettergegerbten Gesicht wie ein Trapper, und versperrte mir den Weg. Ich erkannte den Gesichtsausdruck eher als den Mann. Dieser Ausdruck zeigte Halsstarrigkeit, Verärgerung und Erschöpfung. Das Gesicht, auf dem diese Gefühle sichtbar waren, gehörte Audee Walthers Jr., der (mein Sekretärinnenprogramm hatte mich selbstverständlich informiert) seit einigen Tagen versuchte, mich zu erreichen. »Hallo, Audee!«, begrüßte ich ihn herzlich und schüttelte ihm die Hand. Der hübschen Asiatin neben ihm nickte ich freundlich zu. »Wie schön, dich wieder zu sehen! Wohnst du im Hotel? Großartig. Hör zu, ich hab’ es eilig, aber lass uns doch heute Abend zusammen essen – besprich das mit der Concierge, bitte! Ich bin in ein paar Stunden wieder da.« Ich lächelte ihm und der jungen Frau zu, ließ sie stehen und ging weg.
Ich gebe gern zu, dass das nicht die feine Art war. Aber ich war tatsächlich in Eile. Außerdem machte mir mein Bauch ziemlich zu schaffen. Ich setzte Essie in ein Taxi, das sie in die gewünschte Richtung brachte, und nahm mir ein anderes, das mich zum Gericht brachte. Hätte ich natürlich gewusst, was er mir erzählen wollte, wäre ich Walthers gegenüber viel zuvorkommender gewesen. Aber ich wusste ja nicht, wovon ich wegging.
Oder worauf ich zuging.
Das letzte Stückchen habe ich wirklich zu Fuß zurückgelegt, weil alle Straßen mehr als gewöhnlich verstopft waren. Eine Parade machte sich gerade abmarschbereit, und das in dem Gewühl, das auch sonst in der Umgebung des Internationalen Gerichtshofes herrschte. Der Gerichtspalast ist ein vierzig Stock hoher Wolkenkratzer, der auf Senkkästen im schlammigen Boden von Rotterdam steht. Seine Fassade beherrscht die halbe Stadt. Innen gibt es überall scharlachrote Drapierungen und Einwegglas. Er ist ein Modell für ein internationales Tribunal. Er ist nicht der Ort, an dem man sich wegen eines Strafzettels für falsches Parken beschweren würde.
Er ist auch nicht der Ort, wo ein einzelner Bürger sehr viel gilt. Um ehrlich zu sein, wenn ich eitel wäre – was ich bin –, würde ich mir sehr viel darauf einbilden, dass an dem Prozess, in dem ich theoretisch einer der Angeklagten war, vierzehn Parteien beteiligt waren, von denen es sich bei vier um souveräne Staaten handelte. Für mich war eine Bürosuite im Justizpalast reserviert, wie für alle anderen beteiligten Parteien auch. Ich ging aber nicht gleich dorthin. Es war beinahe elf Uhr. Da standen die Chancen nicht schlecht, dass der Gerichtshof bereits mit der Verhandlung begonnen hatte. Ich lächelte und schob mich in den Gerichtssaal. Er war sehr voll. Er war immer voll, weil man bei diesen Verhandlungen Berühmtheiten sehen konnte. In meiner Eitelkeit hatte ich mich auch für eine gehalten und erwartet, dass sich bei meinem Eintritt die Köpfe wenden würden. Kein Mensch drehte sich nach mir um. Alle schauten nur auf ein halbes Dutzend dürrer, bärtiger Typen in Burnussen und Sandalen, die in einem Pferch auf der Seite des Anklägers saßen, Coca-Cola tranken und miteinander kicherten. Die Alten. Man sah sie nicht jeden Tag. Ich starrte sie an, wie alle anderen auch. Dann zog mich jemand am Ärmel. Ich blickte mich um. Es war mein Anwalt aus Fleisch und Blut, Maitre Ijsinger, der missbilligend bemerkte: »Sie haben sich verspätet, Mijnheer Broadhead«, flüsterte er mir zu. »Dem Gericht ist sicher Ihre Abwesenheit aufgefallen.«
Da die Richter gerade damit beschäftigt waren, sich zuzuwispern und miteinander zu streiten, nahm ich an, dass es um das Tagebuch des ersten Prospektors ging, der einen Tunnel auf der Venus gefunden hatte. Man war sich offensichtlich nicht einig, ob dieses Tagebuch als Beweisstück zugelassen war oder nicht. Ich bezweifelte es. Aber man zahlte einem Anwalt nicht so viel, wie ich Maitre Ijsinger, um sich mit ihm zu streiten.
Selbstverständlich wäre ich nicht von Gesetzes wegen verpflichtet gewesen, ihm irgendetwas zu zahlen. Schließlich ging es bei unserem Fall darum, dass das Kaiserreich Japan den Antrag gestellt hatte, die Gateway AG aufzulösen. Als Hauptaktionär beim S. Ya.- Chartergeschäft war ich beteiligt, weil die Bolivianer die Forderung erhoben hatten, dass diese Charterflüge aufhören müssten, weil die Finanzierung von Siedlern »eine Rückkehr in die Sklaverei« bedeutete. Die Siedler wurden »vertraglich ausgebeutete Bedienstete« genannt, und ich – neben anderen – »ein übler Ausbeuter menschlichen Elends«. Was die Alten hier zu suchen hatten? Nun, sie stellten ebenfalls eine Interessengruppe in dieser Angelegenheit dar, weil sie behaupteten, die S. Ya. sei ihr Eigentum – sie und ihre Vorfahren hätten dort mehrere hunderttausend Jahre lang gelebt. Das Gericht war in einer verzwickten Lage. Die Alten unterstanden als Schützlinge der Regierung von Tansania, weil man übereingekommen war, dass dies wohl die Heimat ihrer Vorfahren auf der Erde gewesen war. Nun war aber Tansania im Gerichtssaal gar nicht vertreten. Tansania boykottierte den Justizpalast wegen einer Entscheidung zu seinen Ungunsten über die Flugkörper auf dem Meeresgrund im vorigen Jahr. Aus diesem Grund ließ es seine Interessen durch Paraguay vertreten – das aber hauptsächlich an seinen Grenzstreitigkeiten mit Brasilien interessiert war. Brasilien war aber gerade Sitz des Hauptquartiers der Gateway AG. Wissen Sie jetzt Bescheid? Ich nicht. Deshalb habe ich auch Maitre Ijsinger engagiert.
Die Hitschi dachten, die Australopithekus-Gruppe, die sie bei ihrem ersten Besuch auf der Erde entdeckt hatten, würde schließlich eine technologische Zivilisation entfalten. Deshalb beschlossen sie, eine Kolonie dieser Spezies in einer Art Zoo zu erhalten. Die Nachkommen dieser Kolonie waren die »Uralten«. Natürlich stellte sich diese Vermutung der Hitschi als falsch heraus. Der Australopithekus erreichte niemals Intelligenz, sondern starb aus. Es war ein sehr ernüchternder Gedanke für die menschlichen Wesen, als ihnen klar wurde, dass der so genannte Hitschi-Himmel, der später in S. Ya. Broadhead umgetauft wurde – das bei weitem größte und technisch höchst entwickelte Raumschiff, das die menschliche Rasse je gesehen hatte –, dass dieses Schiff in Wirklichkeit nur eine Art Affenkäfig war.
Wenn ich mich persönlich um jeden lausigen Multimillionen-Dollar-Prozess kümmern würde, verbrächte ich alle meine Tage im Gerichtssaal. Ich habe aber für den Rest meines Lebens noch viel zu viel zu tun. Normalerweise hätte ich die Anwälte die Sache austragen lassen und meine Zeit sinnvoller verbracht. Ich hätte mit Albert Einstein ein Schwätzchen halten oder mit meiner Frau am Tappan-See spazieren gehen können. Es gab aber gewichtige Gründe für meine Anwesenheit in Rotterdam. Ich sah einen davon, halb eingeschlafen, in einem Ledersessel in der Nähe der Alten.
»Ich glaube, ich werde mal sehen, ob Joe Kwiatkowski eine Tasse Kaffee will«, sagte ich zu Ijsinger.
Kwiatkowski war Pole. Er vertrat die Osteuropäische Wirtschaftsgemeinschaft und war einer der Kläger in diesem Fall. Ijsinger wurde blass. »Aber er ist ein Gegner!«, zischte er.
»Und ein alter Freund«, entgegnete ich ihm, wobei ich die Tatsachen nur leicht übertrieb – er war ein Gateway-Prospektor gewesen wie ich, und wir hatten früher mal der alten Zeiten wegen einen gehoben.
»In einem Prozess von diesen Ausmaßen gibt es keine Freunde«, informierte mich Ijsinger. Ich lächelte ihn nur an und beugte mich vor zu Kwiatkowski. Ich flüsterte ihm etwas zu, und er kam bereitwillig mit, nachdem er aufgewacht war.
»Ich sollte wirklich nicht mit dir hier sein, Robin«, raunzte er, als wir in meinem Büro im fünfzehnten Stock waren. »Vor allem nicht auf einen Kaffee! Hast du nicht irgendetwas, das man hineintun kann?«
Hatte ich – Sliwowitz, sogar aus seiner Lieblingsbrennerei in Krakau. Dazu noch die Sorte Zigarren aus Kamputschea, die er mochte, sowie Salzheringe und Kekse, um das Ganze abzurunden.
Der Gerichtshof war über einem kleinen Seitenkanal der Maas erbaut. Man konnte das Wasser riechen. Da es mir gelungen war, ein Fenster zu öffnen, konnte man die Boote hören, die unter dem Bogen des Gebäudes hindurchfuhren, und auch den Verkehr vom zweihundertfünfzig Meter entfernten Tunnel unter der Maas. Ich machte das Fenster wegen Kwiatkowskis Zigarrenrauch noch etwas weiter auf und sah die Fahnen und Musikkapellen auf den Seitenstraßen. »Warum paradieren sie heute eigentlich?«, fragte ich.
Er hatte aber keine Lust, auf meine Frage einzugehen. »Weil Armeen Paraden mögen«, meinte er nur. »Aber jetzt mal zur Sache, Robin. Ich weiß, was du willst, und es ist unmöglich.«
»Ich will, dass die OEWG mithilft, die Terroristen mit dem Raumschiff auszulöschen. Schließlich ist das im Interesse von allen«, argumentierte ich. »Du sagst, dass das unmöglich ist. Schön, ich akzeptiere das, aber warum ist es unmöglich?«
»Weil du nichts von Politik verstehst. Du glaubst, die OEWG kann zu den Paraguayanern hingehen und sie auffordern: ›Hört mal zu, einigt euch mit Brasilien, sagt denen doch, dass ihr wegen der Grenzstreitigkeiten mit euch reden lasst, wenn sie ihre Informationen an die Amerikaner weitergeben, damit das Raumschiff der Terroristen erwischt werden kann.‹«
»Ja«, gab ich zu. »Genau so waren meine Vorstellungen.«
»Und da irrst du dich. Sie werden nicht zuhören.«
»Die OEWG«, führte ich geduldig weiter aus, nachdem mich Albert, mein Datensystem, auf diese Gelegenheit sorgfältig vorbereitet hatte, »ist der größte Handelspartner Paraguays. Wenn du pfeifst, müssen sie tanzen.«
»In den meisten Fällen, ja. In diesem Fall, nein! Der Schlüssel in dieser Situation ist die Republik Kamputschea. Sie hat mit Paraguay private Abkommen. Darüber kann ich nichts sagen, außer dass sie auf höchster Ebene gebilligt wurden. Noch’n Kaffee?«, bat er und hielt mir die Tasse hin. »Aber diesmal nicht so viel.«
Ich fragte Kwiatkowski nicht nach diesen »Privatabkommen«. Wenn er mir darüber etwas hätte mitteilen wollen, hätte er sie nicht privat genannt. Außerdem war mir klar, dass es sich um militärische Fragen handelte. Alle »Privatabkommen«, die zurzeit von Regierungen getroffen wurden, betrafen das Militär. Wenn ich mir nicht wegen der Terroristen solche Sorgen machen würde, hätte mir die wahnwitzige Art, wie sich die rechtmäßigen Regierungen der Welt benahmen, ebenso viele schlaflose Nächte bereitet. Aber eines nach dem anderen.
Auf Alberts Rat hin holte ich mir zunächst eine Anwältin aus Malaysia in mein Privatbüro, dann einen Missionar aus Kanada und danach einen General der albanischen Luftwaffe. Für jeden hatte ich einen eigenen Köder. Albert riet mir, welchen Hebel ich drücken und welche Glasperlen ich den Eingeborenen anbieten sollte – eine Extra-Quote für die Fahrten der Auswanderer hier, eine »milde« Spende dort. Manchmal musste man auch nur lächeln. Rotterdam war genau der richtige Ort dafür, seit der Gerichtshof aus Den Haag hierher verlegt worden war. Den Haag hatte bei dem Wirbel schwer gelitten, der entstanden war, als beim letzten Mal so ein Witzbold mit einem TPSE gespielt hatte. Jetzt konnte man hier in Rotterdam alle Arten von Leuten finden. Alle Hautfarben und Geschlechter, in allen möglichen Kostümen, von Rechtsanwälten aus Ekuador in Miniröcken bis zu den Magnaten der Thermalenergie von den Marshallinseln in ihren Sarongs, mit Halsketten aus Haifischzähnen.
Es war schwer zu sagen, ob ich Fortschritte erzielte. Um halb eins meldete sich jedoch mein Bauch und machte mir klar, dass er sehr unangenehm würde, falls ich nicht schleunigst etwas Nahrung in ihn stopfte. Also ließ ich es für heute gut sein. Sehnsüchtig dachte ich an unsere hübsche, ruhige Hotelsuite mit einem zarten Steak vom Zimmerservice, wo ich meine Schuhe hätte ausziehen können. Aber ich hatte Essie versprochen, sie in ihrer Geschäftsstelle zu treffen. Ich bat Albert zu überschlagen, was ich erreicht hatte, und Empfehlungen für die nächsten Schritte auszuarbeiten. Dann kämpfte ich mich zu einem Taxi durch.
Essies Schnellrestaurants sind nicht zu übersehen. Die leuchtenden blauen Bogen aus Hitschi-Metall stehen in fast jedem Land der Welt. Als Chefin hatte sie für uns auf einem Balkon eine mit Seilen abgesperrte Ecke reservieren lassen.
Als ich die Treppe hinaufging, kam sie mir mit einem Kuss, gerunzelter Stirn und einem Problem entgegen. »Robin! Stell dir vor! Die wollen hier Mayonnaise zu den Pommes frites servieren. Soll ich das erlauben?«
Ich erwiderte ihren Kuss, schaute dabei aber über ihre Schulter, um zu sehen, welch schauderhaften Fraß man uns serviert hatte. »Das musst du wissen«, entgegnete ich.
»Ja, natürlich, es muss meine Entscheidung sein. Aber es ist wichtig, Robin! Habe mir große Mühe gegeben, echte Pommes frites exakt zu kopieren, du weißt! Und jetzt Mayonnaise?« Dann trat sie einen Schritt zurück und musterte mich genauer. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. »So müde! So viele Falten im Gesicht, Robin! Wie fühlst du dich?«
Ich schenkte ihr mein bezauberndstes Lächeln. »Nur hungrig, Liebling«, rief ich und betrachtete mit falschem Entzücken die Teller vor mir. »Sag mal, das sieht gut aus! Was ist es, Tacos?«
»Das sind Chapatti2«, erklärte sie mir stolz. »Tacos sind hier drüben. Auch Blini. Versuche, ob du sie magst.« Ich musste natürlich alles probieren. Es war keineswegs das, wonach mein Bauch verlangt hatte. Die Tacos, die Chapatti, die Reisbällchen mit saurer Fischsauce und das Zeug, das so ähnlich wie gekochte Gerste schmeckte. Nichts davon war nach meinem Geschmack. Aber es war essbar.
Es handelte sich auch um Geschenke der Hitschi. Sie hatten uns die bedeutsame Einsicht hinterlassen, dass das meiste lebende Gewebe (auch meines und Ihres) nur aus vier Elementen besteht: Kohlenstoff (C), Wasserstoff (H), Sauerstoff (O) und Stickstoff (N) – CHON – CHON-Nahrung. Da auch der größte Teil der Kometen aus diesen Gasen besteht, bauten sie ihre Nahrungsfabriken draußen in der Oort’schen Wolke, wo die Kometen unserer Sonne hängen und darauf warten, dass sie ein Stern losschüttelt und als hübsches Naturschauspiel über unseren Himmel schickt.
CHON ist aber nicht alles. Man braucht noch weitere Elemente. Am wichtigsten ist Schwefel, dann Natrium, Magnesium, Phosphor, Chlor, Kalium, Kalzium – abgesehen von der Prise Kobalt, um Vitamin B-12 herzustellen, Chrom zur Glukosetoleranz, Jod für die Schilddrüse, Lithium, Fluor, Arsen, Selen, Molybdän, Kadmium und – weil es schon egal ist, auch Zinn. Man braucht Spuren der Elemente aus dem gesamten Periodensystem. Nur sind die Mengen der Elemente so winzig, dass man sie nicht eigens in die Suppe tun muss. Sie sind als Verunreinigungen von ganz allein vorhanden. Essies Nahrungschemiker kochten größere Mengen von leckerem Allerlei und produzierten so Nahrung für alle – nicht nur Speisen zum Überleben, sondern auch das, was die Leute gern aßen, daher die Chapatti und Reisbällchen also. Aus CHON-Nahrung kann man alles machen, man muss nur tüchtig umrühren. Essie machte unter anderem einen Haufen Geld damit. Wie sich herausstellte, war das ein Spiel, das ihr Spaß machte.
Endlich hatte ich etwas gefunden, dem sich mein Magen nicht widersetzte – es sah wie ein Hamburger aus und schmeckte wie Avocado-Salat mit Speckstückchen. Essie hatte es Big Chon genannt. Sie saß keine Minute lang still, sondern überprüfte die Temperatur der infraroten Wärmelampen, suchte nach Fett unter den Geschirrspülmaschinen, probierte die Nachtische und schlug einen Mordskrach, weil die Milch-Shakes zu dünn waren.
Essie hatte mir ehrenwörtlich versichert, dass keines ihrer Produkte jemandem schaden könnte. Mein Magen jedoch vertraute ihrem Wort weniger als ich. Mich störte der Lärm draußen auf der Straße – war das die Parade? –, aber sonst fühlte ich mich fast so wohl, wie es eben möglich war. Ich konnte es genießen, dass wir die Rollen getauscht hatten. Wenn Essie und ich uns in der Öffentlichkeit zeigen, bin ich es für gewöhnlich, den die Leute anstarren. Nicht hier. Nicht in Essies Restaurantkette. Hier war Essie der Star. Draußen stellten sich die Passanten auf, um die Parade anzuschauen. Drinnen warfen die Angestellten keinen Blick darauf. Sie gingen mit angespannten Rückenmuskeln ihrer Arbeit nach. Riskierte mal einer einen verstohlenen Blick, dann nur auf die mächtige Chefin, den Lady-Boss. Oft benahm sie sich nicht sehr ladylike. Essie hatte zwar ein Vierteljahrhundert lang Unterricht in Englisch bekommen, von einem Experten – von mir –, aber wenn sie sich aufregt, tönt es laut »Nekulturnyj« und »Chuligan!«3
Ich wechselte zum Fenster im ersten Stock, um mir die Parade anzusehen. In Zehnerreihen marschierten sie die Weena mit Musik und Plakaten hinunter. Lästig und störend! Vielleicht noch schlimmer. Auf der anderen Straßenseite kam es vor dem Bahnhof zu einem Zusammenstoß zwischen Polizisten und Demonstranten. Aufrüster und Pazifisten waren sich in die Haare geraten. Man konnte sie nur schlecht auseinander halten, weil sie mit ihren Plakaten aufeinander einschlugen. Essie setzte sich zu mir. Sie nahm ihren Big Chon, warf einen Blick hinaus und schüttelte den Kopf. »Wie ist das Sandwich?«, fragte sie.
»Gut«, lobte ich, den Mund voll von Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff und Spurenelementen. Sie warf mir einen Rede-lauter-Blick zu. »Ich sagte, gut!«, wiederholte ich lauter.
»Ich kann dich nicht verstehen bei dem Lärm«, beschwerte sie sich und leckte sich die Lippen – ihr schmeckte, was sie verkaufte.
Ich deutete mit dem Kopf zur Parade. »Ich weiß nicht, ob das gut ist«, bemerkte ich.
»Ich glaube nicht«, stimmte sie mir bei und blickte mit Abscheu auf eine Gruppe, die man, soviel ich wusste, Zuaven nennt – dunkelhäutige Marschierer in Uniform. Ich konnte die Nationalabzeichen nicht erkennen, aber jeder trug ein Schnellfeuergewehr und führte damit alle möglichen Kunststücke vor: wirbeln, mit dem Kolben auf das Pflaster schlagen, sodass das Gewehr wieder nach oben in die Hand zurückschnellte, und das alles, ohne aus dem Gleichschritt zu geraten.
»Vielleicht sollten wir uns lieber zurück ins Gericht begeben«, schlug ich vor.
Sie nahm noch die letzten Krümel meines Sandwichs auf. Manche russischen Frauen gehen auseinander und werden zu Fettkugeln, wenn sie über vierzig sind; manche trocknen ein. Nicht aber Essie. Sie hatte immer noch die schlanke Taille und den geraden Rücken, die meinen Blick beim ersten Mal gefesselt hatten. »Vielleicht sollten wir«, meinte sie und sammelte ihre Computerprogramme zusammen, jedes auf einem eigenen Datenfächer. »Habe als Kind genug Uniformen gesehen, bin nicht gerade scharf darauf, sie alle hier präsentiert zu bekommen.«
»Du kannst aber keine Parade ohne Uniformen abhalten.«
»Nicht nur bei der Parade. Schau! Auf den Bürgersteigen auch.« Es stimmte. Fast jede vierte Person trug eine Art Uniform. Das war für mich überraschend. Ich hatte es vorher nicht bemerkt. Natürlich hatte jedes Land schon seit eh und je Truppen unterhalten. Man hatte sie aber wie einen Feuerlöscher zu Hause in einem Wandschrank verstaut. Man sah sie eigentlich nie. Aber jetzt zeigten sie sich immer mehr.
»Schön«, sagte sie und wischte sorgfältig die CHON-Krümel vom Tisch auf einen Wegwerfteller. Dann sah sie sich nach dem Mülleimer um. »Du musst sein sehr müde. Wir gehen. Bitte, dein Abfall!«
Ich wartete auf sie an der Tür. Als sie kam, schaute sie finster drein. »Der Behälter war fast voll. Im Handbuch steht klar: Ausleeren, wenn sechzig Prozent voll … Oh, Teufel! Meine Programme!« Sie sauste die Treppe hinauf, wo sie ihre Datenfächer vergessen hatte.
Ich blieb bei der Tür stehen, wartete auf sie und betrachtete den Aufmarsch. Es war ekelhaft! Richtige Waffen zogen vorbei: Gepanzerte Fahrzeuge und Abschussrampen für Flugabwehrraketen. Dahinter kam eine Dudelsackpfeifergruppe mit den Maschinenpistolenwirblern. Ich spürte eine Bewegung in der Tür hinter mir und machte einen Schritt zur Seite, als Essie sie aufdrückte. »Ich habe gefunden, Robin«, sagte sie und hielt lächelnd einen dicken Stapel Fächer hoch, als ich mich umdrehte.
Da schwirrte etwas wie eine Wespe an meinem Ohr vorbei.
Es gibt keine Wespen in Rotterdam. Dann sah ich Essie nach hinten fallen. Dahinter schloss sich die Tür. Es war keine Wespe gewesen. Es war ein Schuss. Eines dieser wirbelnden Gewehre war scharf geladen gewesen und losgegangen.
Ich hatte Essie schon einmal beinahe verloren. Das war schon lange her. Aber ich hatte es nicht vergessen. Das ganze Leid von damals stieg von neuem in mir hoch, als ich die blöde Tür aufriss und mich über sie beugte. Sie lag auf dem Rücken, der zusammengebundene Stapel Datenfächer auf ihrem Gesicht. Als ich ihn wegnahm, sah ich, dass ihr Gesicht blutverschmiert war. Sie hatte die Augen offen und schaute mich an.
»He, Rob!«, sagte sie erstaunt. »Du stößt mich?«
»Nein, zum Teufel! Warum sollte ich dich stoßen?« Von der Theke rannte ein Mädchen mit einem Stapel Papierservietten herbei. Ich riss sie ihr aus der Hand und zeigte auf den rot-weiß gestreiften Elektrovan mit der Aufschrift Poliklinisches Zentrum, der wegen der Parade mit laufendem Motor an der Kreuzung stand. »Du! Hol die Ambulanz da drüben! Und ruf auch gleich die Polizei!«
Essie setzte sich auf und stieß meinen Arm beiseite, als die Polizisten und mehrere ihrer Angestellten uns umringten. »Warum Ambulanz, Robin?«, fragte sie. »Ist nur blutige Nase. Schau!« Und tatsächlich! Das war alles. Es war zwar eine Kugel gewesen; aber sie hatte den Stapel Datenfächer getroffen und war darin stecken geblieben. »Meine Programme!«, jammerte Essie und zerrte die Fächer dem Polizisten aus den Händen, der die Kugel als Beweisstück herausholen wollte. Aber die Programme waren auf alle Fälle ruiniert. Ebenso wie dieser Tag für mich.
Während Essie und mich der Hauch des Schicksals streifte, zeigte Audee Walthers seiner Freundin die Stadt Rotterdam. Er hatte geschwitzt, als er mich verließ. Die Präsenz von viel Geld bewirkt das bei vielen Leuten. Der Mangel an Geld minderte die Freude an Rotterdam für Walthers und Yee-xing beträchtlich. Da aber Walthers immer noch die Heublumen von Peggys Planet in den Haaren hingen und Yee-xing kaum etwas anderes als die S. Ya. und die nähere Umgebung der Landeschlaufe kannte, erschien den beiden Rotterdam als Metropole. Sie konnten es sich nicht leisten, etwas zu kaufen. Aber sie konnten doch die Schaufenster betrachten. Wenigstens hatte Broadhead zugestimmt, sie zu empfangen. Das hielt sich Walthers immer wieder vor Augen. Kaum hatte ihn dieser Gedanke beruhigt, brach die dunklere Seite in ihm durch und spottete: Broadhead hatte gesagt, dass er sie sehen wollte. Er schien es damit aber keineswegs eilig zu haben, verdammt noch mal …
»Warum schwitze ich eigentlich?«, fragte er laut.
Yee-xing hakte ihn zur moralischen Unterstützung unter. »Es wird schon alles gut werden«, antwortete sie ausweichend. »So oder so.« Dankbar schaute Audee Walthers zu ihr herunter. Er war nicht besonders groß, aber Janie Yee-xing war winzig. Alles an ihr war winzig, bis auf die strahlenden schwarzen Augen, und das kam von einem chirurgischen Eingriff aus der Zeit, als sie in einen schwedischen Bankier verliebt gewesen war. Sie hatte sich damals eingebildet, dass nur die Asiatenfalte ihn davon abhielt, sie ebenfalls zu lieben. »Na? Sollen wir reingehen?«
Walthers hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Er runzelte die Stirn. Yee-xing stieß ihn mit ihrem kleinen Kopf gegen die Schulter und schaute zu einem Ladenschild empor. In blassen Buchstaben stand dort, gleichsam in leerem ebenholzschwarzem Raum:
Jetzt – Später
Walters betrachtete das Schild und meinte dann zu Janie: »Ist wohl ein Beerdigungsinstitut.« Dann lachte er, weil er glaubte, ihren Scherz verstanden zu haben. »Aber so schlecht steht es noch nicht mit uns, Janie.«
»Ist es nicht«, sagte sie. »Jedenfalls kein richtiges Beerdigungsinstitut. Erinnerst du dich nicht an den Namen?« Da fiel es ihm wieder ein: Es war eines der vielen Unternehmen Broadheads auf der Liste.
Je mehr man über Broadhead erfuhr, desto leichter wurde es herauszufinden, welche Umstände ihn zu einem Handel bewegen konnten. Das leuchtete ein. »Warum nicht?«, antwortete Walthers zustimmend und führte sie durch den Luftvorhang in die kühle und dunkle Tiefe des Geschäfts. Wenn es kein Beerdigungsinstitut war, hatte es sich zumindest desselben Innenarchitekten bedient. Aus dem Hintergrund ertönte leise undefinierbare Musik. Hinzu kam der Duft von wilden Blumen, obwohl als einzige Dekoration ein Strauß weißer Rosen in einer Kristallvase zu sehen war. Ein großer, gut aussehender älterer Herr erhob sich. Walthers war sich nicht sicher, ob er aus einem Sessel aufgestanden war oder sich als Hologramm materialisiert hatte. Die Gestalt lächelte ihnen freundlich zu und versuchte, ihre Nationalität zu erraten, irrte sich aber. »Guten Tag«, begrüßte er Walthers; und dann Yee-xing mit »Gor ho oy-ney«.
»Wir sprechen beide Englisch«, erklärte Walthers. »Sie auch?«
Die Brauen des Weltmannes hoben sich. »Aber selbstverständlich. Willkommen bei ›Jetzt und Später‹. Nähert sich eine Ihnen nahe stehende Person der Schwelle des Todes?«
»Nicht dass ich wüsste«, entgegnete Walthers.
»Verstehe. Selbstverständlich können wir auch dann noch sehr viel tun, wenn die Person bereits metabolisch tot ist. Obwohl es besser ist, mit der Übertragung möglichst früh zu beginnen – oder machen Sie vielleicht für sich selbst weitsichtig Pläne?«
»Weder noch!«, beschied ihm Yee-xing. »Wir wollen uns nur über Ihr Angebot informieren.«
»Selbstverständlich.« Der Mann lächelte und bat sie zu einer bequemen Couch. Ohne dass er etwas dazu beizutragen schien, wurde das Licht etwas heller, und die Musik ging um einige Dezibel zurück. »Meine Karte«, sagte er und reichte sie Walthers. Das Stück Pappe beantwortete diesem eine Frage, die in ihm gebohrt hatte: Die Karte konnte man anfassen, ebenso wie die Finger, die sie ihm übergaben. »Darf ich Ihnen zuerst das Grundsätzliche erläutern? Wir sparen damit Zeit. Zunächst einmal: Jetzt und Später ist keine religiöse Organisation und erhebt keinen Anspruch, die Erlösung zu bringen. Was wir anbieten, ist eine Art Überleben. Ob Sie – das ›Sie‹, das sich in diesem Augenblick in diesem Raum befindet –, ob Sie sich dessen ›bewusst‹ sind oder nicht, ist eine Frage, über die sich die Metaphysiker immer noch streiten. Aber die Lagerung Ihrer Persönlichkeit – sollten Sie sich dazu entschließen – wird garantiert den Turing-Test bestehen. Vorausgesetzt, dass wir mit der Übertragung anfangen, solange das Gehirn noch in guter Verfassung ist. Die Umgebung kann sich der Kunde ganz nach Belieben aus unserer Liste aussuchen. Wir haben über zweihundert Vorschläge hierzu für die Überlebenden anzubieten. Da wäre …«
Yee-xing schnippte mit den Fingern. »Die Toten Menschen!«, warf sie ein. Jetzt hatte sie verstanden.
Der Verkäufer nickte. Allerdings wirkten seine Züge jetzt etwas angespannter. »So wurden die Originalstücke genannt. Ich sehe, dass Sie sich mit dem Artefakt, dem so genannten Hitschi-Himmel, auskennen, das jetzt als Transporter für Kolonisten benutzt wird …«
»Ich bin Dritter Offizier auf diesem Transporter«, unterbrach ihn Yee-xing. Bis auf das Präsens des Verbs sprach sie die Wahrheit. »Und mein Freund ist der Siebte.«
»Ich beneide Sie«, sagte der Verkäufer. Sein Gesichtsausdruck bestätigte seine Worte. Der Neid hielt ihn aber nicht davon ab, sein Verkaufsgespräch fortzusetzen. Walthers hörte aufmerksam zu. Janie Yee-xing hielt dabei seine Hand. Er schätzte diese Geste. Die Hand hielt ihn davon ab, an die Toten Menschen und ihren Schützling Wan zu denken – und daran, was Wan wohl in diesem Augenblick machte.
Die eigentlichen Toten Menschen – erklärte der Verkäufer – waren leider ziemlich ramponiert. Die Übertragung ihrer Erinnerungen und Persönlichkeiten aus dem nassen, grauen Behälter in ihren Schädeln in die kristallenen Datenspeicher, die sie nach ihrem Tode konservierten, war von Pfuschern durchgeführt worden, die keine Erfahrung besaßen und mit Geräten gearbeitet hatten, die für eine ganz andere Spezies entworfen worden waren. Daher war also die Lagerung nicht zufrieden stellend. Man könne sich das am besten so vorstellen, fuhr der Verkäufer fort, dass die Toten Menschen bei ihrer unsachgemäßen Übertragung so überbeansprucht worden waren, dass sie wahnsinnig wurden. Aber das passierte heute nicht mehr. Jetzt waren die Lagerbedingungen so verbessert worden, dass jeder Verstorbene mit seinen Hinterbliebenen Gespräche führen konnte, als wäre er eine lebende Person. Das war aber noch nicht alles! Der »Patient« führte in den Datenspeichern ein durchaus aktives Leben. Er konnte Erfahrungen im Himmel der Moslems sammeln oder in dem der Christen oder Scientologen. Je nachdem gab es bildschöne Knaben und Mädchen, wie Perlen im Gras verstreut, oder Engelschöre oder die Gesellschaft von L. Ron Hubbard persönlich. War er nicht so religiös eingestellt, konnte er sich sportlich betätigen oder Abenteuer erleben (Klettern, Tauchen, Skifahren, Drachenfliegen und Freifall-Tai-Chi wurden sehr gern gewählt). Er konnte aber auch jede Art von Musik hören, in Gesellschaft von Leuten, die er sich ausgesucht hatte … und, natürlich (Der Verkäufer war sich über die genaue Beziehung zwischen Walthers und Yee-xing nicht sicher; deshalb schmückte er diese Information nicht weiter aus.) auch Sex. Alle Arten von Sex. Und immer wieder.
Als die Programme und Datenbasen der so genannten Toten Menschen der Forschung zur Verfügung standen, war meine Schöpferin, S. Ya. Broadhead, natürlich sehr daran interessiert. Sie stellte sich die Aufgabe, dieses Werk der Hitschi zu wiederholen. Am schwierigsten war dabei natürlich die Übertragung der Datenbasis eines chemisch arbeitenden menschlichen Gehirns und Nervensystems auf die Hitschi-Datenfächer. Das gelang ihr recht gut. Sie konnte nicht nur ihre Jetzt-und-Später-Ladenkette ausbauen, sondern sogar – nun ja – mich schaffen. Die Jetzt-und-Später-Lagerung beruhte noch auf ihren ersten Forschungen. Später wurde sie besser – sogar besser als die der Hitschi –, da sie in lernte, nicht nur deren Techniken anzuwenden, sondern sie mit unabhängiger, menschlicher Technologie zu verbinden. Die Toten Menschen wären nie durch einen Turing-Test gekommen. Essie Broadheads Erzeugnisse konnten es nach einiger Zeit, wie sich zeigte.
»Wie langweilig«, bemerkte Walthers bei dieser Vorstellung.
»Für Sie und mich«, stimmte ihm der Verkäufer zu. »Aber nicht für die Patienten. Sehen Sie, sie erinnern sich an die programmierten Erfahrungen nicht sehr lange. Diese Datenspeicher sind einer beschleunigten Zerfallneigung ausgesetzt. Andere Erinnerungen sind davon nicht betroffen. Wenn Sie sich mit einem Ihrer Lieben heute unterhalten und im nächsten Jahr wiederkommen, erinnert er sich genau. Sie können mit der Unterhaltung am selben Punkt fortfahren. Aber die programmierten Erfahrungen schwinden sehr schnell in der Erinnerung – zurück bleibt lediglich ein vages Gefühl des Wohlbefindens. Deshalb wollen sie es immer wieder genießen.«
»Grauenvoll«, sagte Yee-xing. »Audee, es wird Zeit, dass wir zurück zum Hotel gehen.«
»Noch nicht, Janie. Wie war das mit den Gesprächen?«
Die Augen des Verkäufers funkelten. »Selbstverständlich geht das. Einige genießen diese Unterhaltungen. Sie sprechen sogar mit Fremden. Haben Sie einen Moment Zeit? Es ist wirklich ganz einfach.« Bei den letzten Worten führte er sie zu einer PV-Konsole. Dann blätterte er in einem Verzeichnis, das in Seide gebunden war, und tippte eine Reihe von Kodezahlen ein. »Mit einigen habe ich mich richtig angefreundet«, gab er leicht verlegen zu. »Wenn im Geschäft nichts los ist, ruf’ ich sie, und wir plaudern ein bisschen. – Ah, Rex! Wie geht’s?«
»Ausgezeichnet«, entgegnete der gut aussehende, gebräunte ältere Herr, der auf dem PV erschien. »Wie nett, Sie wieder zu sehen! Ich glaube nicht, dass ich Ihre Freunde kenne.« Freundlich betrachtete er Walthers und Yee-xing. Wenn es ein ideales Aussehen für einen Mann gab, der über ein gewisses Alter hinaus ist, dann seines. Er hatte volles Haar und schien auch noch alle Zähne zu besitzen. In den Augenwinkeln zeigten sich Lachfältchen, ansonsten aber war sein Gesicht glatt. Die Augen strahlten warm. Er nahm die Namen der beiden Besucher höflich zur Kenntnis. Auf die Frage, was er so mache, meinte er nur bescheiden: »Ich singe die Carmina Catulli mit der Wiener Staatsoper.« Er zwinkerte. »Die erste Sopranistin ist bildhübsch. Ich glaube, diese sinnlichen Texte sind ihr bei den Proben ganz schön unter die Haut gegangen.«
»Erstaunlich«, gab Walthers zu und starrte ihn an. Janie Yee-xing war weniger hingerissen.
»Wir wollen Sie wirklich nicht von Ihrer Musik abhalten«, versuchte sie höflich, die Unterhaltung zu beenden. »Und wir müssen auch wieder weiter.«
»Die warten auf mich«, erwiderte Rex. »Das tun sie immer.«
Walthers war fasziniert. »Sagen Sie mir doch bitte«, fragte er. »Wenn Sie von Gesellschaft in … hm, diesem Zustand, sprechen, kann man sich dann jeden aussuchen, den man um sich haben will? Auch wenn der Betreffende noch lebt?«
Die Frage richtete sich eigentlich an den Verkäufer, aber Rex antwortete zuerst. Verschmitzt schaute er Walthers verständnisvoll an. »Jeden«, gab er Bescheid und nickte ihm zu, als wolle er ihn ins Vertrauen ziehen. »Jeden, ganz gleich, ob er lebt, tot ist oder nur in der Einbildung existiert. Und, Mr. Walthers, die Person tut alles, was Sie wollen!« Er lachte leise in sich hinein. »Wie ich schon immer gesagt habe: Das, was Sie ›Leben‹ nennen, ist nur eine Art Vorspiel zur wirklichen Existenz, die Ihnen hier geboten wird. Ich verstehe nicht, warum die Leute so lange damit warten.«
Die »Jetzt und Späters« waren mir von all den kleinen Unternehmen die liebsten, und nicht, weil sie viel Geld einbrachten. Als wir entdeckten, dass die Hitschi tote Gehirne in Maschinen lagern konnten, ging mir ein Licht auf. Hör mal, sagte ich zu meiner lieben Frau, wenn die das können, warum wir nicht auch? Hör mal, sagte meine liebe Frau zu mir, kein Problem, Robin. Gib mir nur etwas Zeit, damit ich es entschlüsseln kann. Ich war noch nicht entschlossen, ob oder wann ich es bei mir selbst durchführen lassen würde. Ich wusste aber ganz genau, dass ich es nicht für Essie wollte, wenigstens damals noch nicht. Daher war ich froh, dass die Kugel ihr nur einen Nasenstüber versetzt hatte.
Naja, ganz war die Angelegenheit damit nicht erledigt. Wir kamen dadurch mit der Polizei von Rotterdam in Berührung. Der uniformierte Sergeant stellte uns dem Brigadier vor, der uns mit Blaulicht auf die Wache fuhr und Kaffee anbot. Dann brachte uns Brigadier Zuitz ins Büro von Inspektor Van Der Waal, einer großen, stattlichen Frau mit altmodischen Kontaktlinsen, die ihre Augen weit heraustreten ließen. Sie zeigte viel Mitgefühl. Das war ja schrecklich für Sie, Mijnheer, und ich hoffe, Ihre Wunde schmerzt nicht zu sehr, Mevrouw! Sie führte uns eine Treppe – Treppe! – hinauf ins Büro von Commissaire Lutzlek, der wieder ein ganz anderer Vogel war. Nicht groß. Schlank. Blond, mit einem lieben Jungengesicht, obwohl er wenigstens fünfzig sein musste, um ein Principal Commissaire zu werden. Man konnte sich gut vorstellen, wie er seinen Daumen in den Deich steckte und – wenn es nötig war – ewig drinnen ließ, oder bis er ertrank. Man konnte sich aber nicht vorstellen, dass er aufgab. »Vielen Dank, dass Sie wegen dieses Vorfalls auf dem Stationsplein vorbeigekommen sind«, begrüßte er uns und bot uns Platz an.
»Ein Unfall«, gab ich an.
»Nein. Leider kein Unfall. Wenn es ein Unfall gewesen wäre, hätte sich die Stadtpolizei damit zu befassen, nicht ich. So muss ich Sie aber um Ihre Mithilfe bitten.«
Ich wollte ihn in die Schranken weisen, daher sagte ich: »Unsere Zeit ist zu kostbar, um sie mit solch einer Lappalie zu vergeuden.«
Er ließ sich aber nicht zurechtweisen. »Ihr Leben ist noch kostbarer.«
»Nun machen Sie mal halblang! Einer der Soldaten in der Parade wirbelte sein Gewehr. Das war geladen, und ein Schuss ging los!«
»Mijnheer Broadhead«, belehrte er mich. »Erstens, keiner der Soldaten hatte sein Gewehr mit scharfer Munition geladen. Außerdem haben die Gewehre keine Schlagbolzen. Zweitens, die Soldaten sind gar keine Soldaten, sondern Studenten, die man für die Paraden in Kostüme steckt, wie die Wachen am Buckingham Palace. Drittens, der Schuss kam nicht aus der Parade.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil man die Waffe gefunden hat.« Er sah wütend aus. »In einem Polizeispind! Das ist mir außerordentlich peinlich, Mijnheer, wie Sie sich vorstellen können. Für die Parade hatte man eine Menge zusätzlicher Polizisten zusammengezogen. Sie benutzten einen Umkleidewagen. Der ›Polizist‹, der den Schuss abgefeuert hat, war den anderen in der Einheit nicht bekannt. Aber sie kamen aus allen möglichen Abteilungen. Da er nach der Parade schnell verschwinden wollte, zog er sich um und ließ in der Eile beim Weggehen die Tür des Spinds offen. Darin waren lediglich die Uniform – gestohlen, nehme ich an –, das Gewehr und ein Foto von Ihnen. Nicht von Mevrouw. Von Ihnen.«
Er lehnte sich zurück und wartete. Das nette Jungengesicht war friedlich.
Das war ich aber nicht. Es dauerte eine Minute, bis mein Verstand diese Eröffnung akzeptierte, dass jemand die feste Absicht hatte, mich umzulegen. Es jagte mir Angst ein. Die Vorstellung des Sterbens ist schon schrecklich genug, wie ich aufgrund meiner unvergessenen und sogar mehrmaligen Erfahrung bestätigen kann, wenn es so aussah, als stünde der Tod schon hinter einem. Der Gedanke, ermordet zu werden, war noch viel schlimmer. Ich sagte: »Wissen Sie, wie ich mir jetzt vorkomme? Schuldig! Ich muss doch irgendetwas getan haben, weswegen mich jemand so hasst.«
»Ganz genau, Mijnheer Broadhead. Was könnte das Ihrer Meinung nach gewesen sein?«
»Ich habe keine Ahnung. Ich nehme an, wenn Sie den Mann gefunden haben, werden Sie auch den Grund herausbekommen. Das sollte doch nicht so schwierig sein – es muss doch Fingerabdrücke geben oder sonst etwas. Ich sah die Kameras des Nachrichtenteams. Vielleicht ist jemand auf einem Film zu erkennen …«
Er seufzte. »Mijnheer, bitte, belehren Sie mich nicht, wie ich die polizeilichen Untersuchungen durchzuführen habe. Selbstverständlich gehen wir diesen Dingen nach, wir führen lange Vernehmungen aller Personen durch, die den Mann gesehen haben könnten; außerdem eine Schweißanalyse der Kleidung sowie alle anderen Möglichkeiten zur Identifizierung. Ich nehme an, dass der Mann ein Profi ist. Deshalb werden diese Methoden nicht zum Erfolg führen. Wir müssen es aus einer anderen Richtung angehen. Wer sind Ihre Feinde, und was machen Sie in Rotterdam?«
»Ich glaube nicht, dass ich Feinde habe. Konkurrenten im Geschäft, vielleicht, aber die bringen keine Leute um.«
Er wartete geduldig, daher fügte ich hinzu: »Und was meine Anwesenheit in Rotterdam betrifft – der Grund ist, glaube ich, allgemein bekannt. Meine Geschäftsinteressen schließen auch ein paar Aktien bei der Auswertung einiger Hitschi-Artefakte ein.«
»Das ist bekannt«, bemerkte er, nicht mehr so geduldig.
Ich zuckte mit den Achseln. »Ich bin als Partei bei dem Prozess am Internationalen Gerichtshof beteiligt.«
Der Commissaire öffnete eine der Schreibtischschubladen, schaute hinein und schob sie missmutig wieder zu. »Mijnheer Broadhead«, fuhr er fort. »Sie haben sehr viele Besprechungen hier in Rotterdam geführt, die mit diesem Prozess nichts zu tun hatten, sondern mit der Frage des Terrorismus. Sie wollen diese Bedrohung beenden.«
»Das wollen wir alle«, ergänzte ich; aber das Gefühl in meinem Magen kam nicht nur von den kaputten Därmen. Ich hatte gedacht, dass ich sehr diskret gearbeitet hatte.
»Wir wollen es alle. Aber Sie tun etwas, Mijnheer. Daher glaube ich, dass Sie sehr wohl Feinde haben. Die Feinde von uns allen. Die Terroristen.« Er stand auf und brachte uns zur Tür. »Während Sie meiner Zuständigkeit unterstehen, werde ich Ihnen Polizeischutz geben. Danach kann ich Sie nur zu größter Vorsicht auffordern. Ich glaube, dass Ihnen von denen Gefahr droht.«
»Jeder ist in Gefahr«, sagte ich.
»Es kann jeden zufällig treffen, stimmt; aber Sie sind jetzt ein besonderer Fall.«
Unser Hotel war noch in den Zeiten gebaut worden, als die Ölscheichs mit den dicken Brieftaschen und der Jet-Set als Touristen herkamen. Die besten Suiten waren so eingerichtet, dass es ihrem Geschmack entsprach. Der deckte sich aber nicht mit unserem. Weder Essie noch ich waren über Strohmatten und Holzblöcke als Kopfkissen begeistert. Die Hotelleitung ließ das aber alles wegbringen und stellte uns ein richtiges Bett herein, rund und riesig. Ich freute mich schon darauf, es möglichst häufig zu benützen. Nicht so die Hotelhalle, deren Ausstattung ich einfach scheußlich fand: freitragende Aufgänge, mehr Brunnen als in Versailles und so viele Spiegel, dass man sich beim Hinaufschauen wie im äußeren All vorkam. Durch die guten Beziehungen des Commissaire – oder einen anderen günstigen Umstand – blieb uns dieser Anblick erspart. Die junge Polizistin, die uns nach Hause geleitete, führte uns durch den Hintereingang. Wir sausten in einem gepolsterten Lift, der nach Essen roch, nach oben in unser Stockwerk, wo sich die Dekoration etwas verändert hatte. Genau gegenüber dem Eingang zu unserer Suite stand eine geflügelte Venus auf dem Flur. Jetzt hatte sie einen Gefährten in einem blauen Anzug bekommen, einen ganz unauffällig wirkenden Mann, der sich größte Mühe gab, mir nicht ins Gesicht zu sehen. Ich schaute auf die Polizistin, die uns begleitete.
Sie lächelte verlegen und nickte ihrem Kollegen zu. Dann schloss sie die Tür hinter uns.
Wir waren ein Sonderfall; das stand fest.
Ich setzte mich und betrachtete Essie. Ihre Nase war immer noch etwas geschwollen, schien ihr aber keine Schwierigkeiten zu machen. Dennoch. »Vielleicht solltest du ins Bett gehen«, schlug ich vor.
Sie sah mich mit nachsichtiger Zuneigung an. »Wegen einer blutigen Nase, Robin? Wie dumm du bist! Oder hast du etwas Besonderes im Auge?«
Ich muss meiner lieben Frau alle Achtung aussprechen. Sobald sie das Thema anschnitt, kam ich trotz meines ruinierten Tages und meiner ruinierten Eingeweide auf andere Gedanken. Nach fünfundzwanzig Jahren hätte man meinen können, dass Sex langweilig würde. Mein Datensammelfreund Albert hatte mir über Experimente mit Tieren im Labor erzählt, die bewiesen, dass das unausbleiblich war. Männliche Ratten wurden bei ihren Partnern gelassen, dann maß man die Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs. Mit der Zeit nahm sie immer mehr ab. Langeweile. Dann nahm man die alten Partner heraus und gab ihnen neue. Die Ratten wurden sofort munter und waren eifrig bei der Sache. Damit war diese Tatsache wissenschaftlich bewiesen – bei Ratten. Ich halte mich aber, jedenfalls nicht in dieser Beziehung, für eine Ratte. Nein, mir machte die Sache ausgesprochen Freude. Da stieß mir jemand ohne Vorwarnung einen Dolch in den Bauch.
Ich konnte nicht anders. Ich schrie.
Essie schob mich beiseite. Sie setzte sich schnell auf und rief Albert auf Russisch herbei. Gehorsam erwachte das Hologramm zum Leben. Er warf einen Blick auf mich und nickte. »Ja«, sagte er. »Bitte, Mrs. Broadhead, halten Sie Robins Handgelenk gegen den Verteiler am Nachttisch.«
Ich krümmte mich vor Schmerzen und hatte die Arme um mich geschlungen. Einen Augenblick lang dachte ich, ich müsste mich übergeben; aber das Essen in meinem Bauch war zu schlecht, als dass man es so leicht losgeworden wäre. »Unternimm doch etwas!«, schrie Essie und zog mich in Panik an ihre bloße Brust, während sie meinen Arm gegen den Tisch drückte.
»Ich tue bereits etwas, Mrs. Broadhead«, erwiderte Albert. Und tatsächlich, ich konnte ein plötzliches Gefühl der Benommenheit spüren, als die Injektionsnadel etwas mit Gewalt in meinen Arm schoss. Die Schmerzen wurden schwächer und erträglich. »Du musst dir keine übermäßigen Sorgen machen, Robin«, beruhigte mich Albert liebevoll. »Sie auch nicht, Mrs. Broadhead. Ich habe diese plötzlichen ischaemischen Schmerzen seit Stunden erwartet. Es ist nur ein Symptom.«
»Verdammtes, arrogantes Programm!«, schrie Essie, die es geschrieben hatte. »Symptom wovon?«
»Für das Einsetzen des endgültigen Abstoßungsprozesses, Mrs. Broadhead. Es ist noch nicht kritisch, vor allem, da ich den Analgetica auch andere Arzneistoffe beigemischt habe. Trotzdem schlage ich eine Operation für morgen vor.« Ich fühlte mich bereits so viel besser, dass ich mich auf der Bettkante aufsetzen konnte. Mit meinem Zeh zog ich das Pfeilmuster im Teppich nach, das nach Mekka zeigte. Man hatte es vor langer Zeit für die Ölscheichs einweben lassen. Dann fragte ich: »Was ist mit dem Gewebevergleich?«
»Das ist alles arrangiert, Robin.«
Ich ließ probeweise meinen Bauch los. Er explodierte nicht. »Ich habe morgen einen Haufen Verabredungen.«
Essie hatte mich sanft geschaukelt. Jetzt ließ sie mich los und seufzte. »Eigensinniger Mann! Warum aufschieben? Du hättest die Transplantation vor Wochen durchführen lassen können, und der ganze Blödsinn hier wäre nicht nötig.«
»Ich wollte aber nicht«, erklärte ich ihr. »Außerdem hat Albert gesagt, es sei noch Zeit.«
»War Zeit! Ja, natürlich, war Zeit. Ist das ein Grund, Zeit mit Lappalien zu vertrödeln, bis plötzlich ein unerwartetes Ereignis eintritt und die Zeit vorbei ist und du stirbst? Ich mag dich warm und lebendig, Robin, nicht als Jetzt-und-Später-Programm!«
Ich stupste sie mit Nase und Kinn. »Kranker Mann! Geh weg von mir!«, fuhr sie mich an, zog sich aber nicht zurück. »Ha? Du fühlst dich jetzt besser?«
»Sehr viel besser.«
»Gut genug, um vernünftig zu reden und einen Termin im Hospital zu machen?«
Ich blies in ihr Ohr. »Essie«, versprach ich. »Werde ich ganz bestimmt. Aber nicht sofort, weil du und ich, wenn ich mich recht erinnere, noch eine Kleinigkeit zu erledigen haben. Aber ohne Albert. Würdest du dich bitte ausschalten, alter Freund?«
»Selbstverständlich, Robin.« Er grinste und verschwand. Aber Essie hielt mich zurück. Sie betrachtete lange mein Gesicht, ehe sie den Kopf schüttelte.
»Robin«, sagte sie. »Du willst, dass ich für dich ein Jetzt-und-Später-Programm schreibe?«
»Nicht die Spur«, widersprach ich. »Und das ist auch nicht gerade das, was ich mit dir besprechen will.«
»Besprechen!«, meinte sie empört. »Ha, ich weiß, wie du es besprechen willst … Robin, wenn ich das Programm schreibe, werde ich einige Sachen ziemlich umschreiben!«
Das war ein Tag gewesen! Kein Wunder, dass ich mich an gewisse unwichtige Einzelheiten nicht mehr erinnerte. Mein Sekretariatsprogramm erinnerte mich aber selbstverständlich. Ich bekam einen kleinen Denkanstoß, als sich die Tür zum Anrichteraum des Butlers öffnete und eine Prozession aus Zimmerkellnern mit dem Abendessen erschien. Nicht für zwei. Für vier.
»O mein Gott!«, sagte Essie und schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Dein armer Freund mit dem Froschgesicht, Robin! Du hast ihn zum Abendessen eingeladen! Und schau nur! Barfuß sitzt du in Unterwäsche da! Nekulturnyj, wirklich, Robin! Geh und zieh dich an, gleich!«
Ich stand auf, weil es keinen Zweck hatte zu streiten.
Trotzdem maulte ich. »Na und? Ich bin in Unterhosen, was ist mit dir?«
Sie warf mir einen vernichtenden Blick zu. Zugegeben, sie trug keine Reizwäsche, sondern eines dieser chinesischen, seitlich geschlitzten Dinger. Es sah wie ein Kleid oder ein Nachthemd aus. Sie benutzte es abwechselnd als beides.
»Im Fall eines Nobelpreisträgers«, sagte sie tadelnd, »ist immer passend, was der Preisträger trägt. Ich habe auch geduscht, du nicht. Du riechst nach sexueller Aktivität – und, o mein Gott!« Sie lauschte Richtung Tür, wo man Geräusche hörte. »Ich glaube, sie sind schon da!«
Ich verzog mich ins Bad, sie ging zur Tür. Ich vernahm gerade noch, wie sich jemand stritt. Der Zimmerkellner draußen hörte ebenfalls mit gerunzelter Stirn zu und fasste unbewusst nach einer Ausbuchtung in seiner Achselhöhle. Ich seufzte, überließ alle ihrem Schicksal und ging ins Bad.
Eigentlich war es kein Badezimmer. Es war eine eigene Badesuite. Die Wanne war groß genug für zwei Personen. Vielleicht auch für drei oder vier; aber ich hatte mir bisher nicht mehr als zwei vorgestellt – jetzt machte ich mir doch so meine Gedanken, was diese arabischen Touristen wohl in ihren Bädern angestellt hatten. In der Wanne selbst gab es indirektes Licht. Aus den Statuen ringsherum floss kaltes oder heißes Wasser. Den Boden bedeckte ein dicker Teppich. All die vulgären Kleinigkeiten wie Toiletten waren in eigenen, reich verzierten Kabinen versteckt. Es war extravagant, aber hübsch. »Albert«, rief ich und zog mir ein Hemd über.
»Ja, Robin.«
Im Bad gab es kein Bild, nur die Stimme. Ich sagte: »Mir gefällt das hier. Schau mal zu, ob du mir die Pläne besorgen kannst, dass ich so etwas auch in das Haus am Tappan-See einbauen lassen kann.«
»Selbstverständlich, Robin«, erwiderte er. »Darf ich dich aber inzwischen daran erinnern, dass deine Gäste warten?«
»Darfst du, weil du es bereits getan hast.«
»Noch etwas, Robin. Überanstrenge dich nicht! Das Medikament, das ich dir gegeben habe, hat nur vorübergehende Wirkung. Anderenfalls …«
»Schalt dich aus!«, befahl ich und betrat den Empfangssalon, um die Gäste zu begrüßen. Ein Tisch war mit Kristall und feinem Porzellan gedeckt. Kerzen brannten, und im Kühler stand Wein. Alle Kellner hatten sich ehrerbietig in Reih und Glied aufgestellt, sogar der mit der Ausbuchtung unter der Achsel.
»Tut mir Leid, dass ich dich warten ließ, Audee«, entschuldigte ich mich und strahlte die beiden an. »Aber es war ein harter Tag.«
»Ich habe schon alles erzählt«, sagte Essie und reichte der jungen Asiatin einen Teller. »War auch nötig. Der blöde Polizist an der Tür hat gedacht, sie sind auch Terroristen.«
»Ich habe versucht, es ihm klar zu machen«, vervollständigte Walthers. »Aber er sprach kein Englisch. Mrs. Broadhead musste einspringen. Nur gut, dass Sie Deutsch sprechen.«
Essie wehrte liebenswürdig ab. »Deutsch sprechen, Holländisch sprechen! Alles das Gleiche. Die Hauptsache ist, laut zu sprechen. Es ist eine Sache der Einstellung«, erklärte sie. »Sagen Sie, Captain Walthers, wenn Sie zu jemand sprechen und die andere Person Sie nicht versteht, was denken Sie?«
»Nun, dass ich mich nicht richtig ausgedrückt habe.«
»Ha! Genau! Aber ich, ich denke, er hat mich nicht richtig verstanden! Das ist die Grundregel, um eine fremde Sprache zu sprechen!«
Ich rieb mir den Bauch. »Lasst uns essen!«, schlug ich vor und ging als Erster zum Tisch. Ich hatte den Blick nicht übersehen, den mir Essie zugeworfen hatte. Ich gab mir daher größte Mühe, gesellig zu sein. »Na, wir sind schon ein trauriger Haufen«, stellte ich freundlich fest und machte Bemerkungen über den Gips an Walthers’ Handgelenk, den blauen Fleck in Yee-xings Gesicht und Essies immer noch geschwollene Nase. »Habt euch wohl ordentlich geprügelt, was?«
Wie sich ergab, war das nicht sehr taktvoll gewesen, da Walthers mir sogleich erzählte, dass sie sich tatsächlich unter dem Einfluss des TPSE der Terroristen geprügelt hatten. Dann unterhielten wir uns eine Zeit lang über die Terroristen. Danach beklagten wir die traurige Lage, in die sich die menschliche Rasse gebracht hatte. Es war nicht gerade eine aufmunternde Unterhaltung, besonders nicht, als Essie sich entschloss, philosophisch zu werden.
»Was ist das menschliche Wesen doch für ein verkommenes Ding«, fing sie an, nahm das jedoch wieder zurück. »Nein! Ich bin ungerecht. Ein menschliches Wesen kann sehr gut sein, sogar so fein wie wir vier hier. Nicht perfekt, aber statistisch gesehen kann man sagen, dass von hundert Chancen, Freundlichkeit, Nächstenliebe und Anständigkeit zu zeigen – Eigenschaften, die wir Menschen hoch schätzen –, weniger als fünfundzwanzig davon wahrgenommen werden. Aber Nationen? Politische Gruppen? Terroristen?« Sie schüttelte den Kopf. »Von hundert Chancen – null!«, behauptete sie. »Oder vielleicht eine, aber dann – du kannst sicher sein – mit Tricks im Ärmel. Schlechtigkeit ist additiv. Vielleicht ist nur ein Gramm in jedem Menschen vorhanden. Aber addiere mal die Summe von, sagen wir, zehn Millionen Menschen, in einem kleinen Land oder einer Gruppe, dann kommt genug Böses heraus, um die ganze Welt zu zerstören!«
»Ich wäre jetzt für den Nachtisch bereit«, wechselte ich das Thema und winkte den Kellnern.
Man sollte meinen, dass das nun wirklich ein Wink mit dem Zaunpfahl für jeden Gast war, vor allem nachdem sie wussten, was für einen scheußlichen Tag wir hinter uns hatten. Aber Walthers war hartnäckig. Er ließ sich beim Nachtisch unendlich Zeit. Er bestand darauf, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen, und schaute dauernd zu den Kellnern hin. Mir wurde immer ungemütlicher und nicht nur im Bauch.
Essie behauptet, ich hätte keine Geduld mit Leuten. Vielleicht stimmt’s. Am besten komme ich mit den Freunden aus, die Computerprogramme sind und nicht aus Fleisch und Blut bestehen. Sie haben auch keine Gefühle, die man verletzen kann – naja, ich bin mir nicht sicher, ob das auch auf Albert zutrifft. Aber mit Sicherheit auf mein Sekretariatsprogramm und meinen Küchenchef. Es stimmte, dass ich mit Audee Walthers die Geduld verlor. Sein Leben war eine langweilige Schnulze gewesen. Er hatte seine Frau und seine Ersparnisse verloren. Er hatte unbefugt Geräte an Bord der S. Ya. benutzt, wobei Yee-xing ihm geholfen hatte. Dafür waren sie rausgeworfen worden. Er hatte den letzten Pfennig ausgegeben, um nach Rotterdam zu kommen. Der Grund war unklar. Es hatte aber eindeutig etwas mit mir zu tun.
Nun, ich bin ja gern bereit, einem Freund, den das Glück verlassen hat, Geld zu »leihen«. Aber heute war ich nicht in Stimmung. Es war nicht nur die Sorge um Essie oder der ganze verkorkste Tag oder die nagende Angst, ob der nächste Irre mit einem Gewehr mich erwischen würde. Es war mein verdammter Bauch, der mir zusetzte. Schließlich befahl ich den Kellnern abzutragen, obwohl Walthers noch immer über seiner vierten Tasse Kaffee hockte. Dann stampfte ich hinüber zu dem Tisch mit den Likören und Zigarren. Auf dem Weg dorthin funkelte ich ihn wütend an. »Was ist los, Audee?«, fragte ich keineswegs mehr höflich. »Geld? Wie viel brauchst du?«
Er warf mir einen vernichtenden Blick zu! Dann zögerte er und wartete, bis auch der letzte Kellner durch den Anrichteraum verschwunden war. Dann kam es knüppeldick. »Das brauch’ ich wirklich nicht«, betonte er mit zitternder Stimme. »Es geht darum, wie viel du für etwas ausgeben möchtest, das du haben willst. Du bist ein schwerreicher Mann, Broadhead. Vielleicht zerbrichst du dir nicht den Kopf über Leute, die für dich ihren Arsch in die Spalte stecken. Ich habe diesen Fehler zweimal begangen.«
Ich mag es gar nicht, wenn man mich daran erinnert, dass ich jemandem etwas schulde. Aber ehe ich etwas antworten konnte, hatte Janie Yee-xing die Hand auf sein schlimmes Handgelenk gelegt – vorsichtig. »Sag ihm nur, was du hast!«, forderte sie ihn auf.
»Sag mir was?«, wollte ich wissen. Der Saukerl zuckte nur mit den Schultern und eröffnete mir auf die Art, wie man jemandem etwa beiläufig mitteilt, dass man die Autoschlüssel auf dem Teppich gefunden hat: »Naja, wollte dich nur in Kenntnis setzen, dass ich etwas gefunden habe, was meiner Meinung nach ein echter, lebendiger Hitschi ist.«