Und die Sterne zogen weiter. Ihnen war es egal, was mit einem intelligenten zweifüßigen Säugetier passierte – nun, halb intelligenten –, nur weil es mit mir passierte. Ich habe immer einen egozentrischen Standpunkt in Sachen Kosmologie eingenommen. Ich befinde mich in der Mitte, und alles andere liegt auf der einen oder anderen Seite von mir. »Normal« ist, was ich bin. »Wichtig« ist, was mich angeht. »Bedeutsam« ist, was mir wichtig erscheint. Diesen Standpunkt hatte ich, nicht aber das Universum. Es ging weiter, als ob ich überhaupt keine Rolle spielte.
Um die Wahrheit zu sagen, ich spielte in diesem Augenblick nicht einmal für mich eine Rolle, weil ich weggetreten war. Einige tausend Lichtjahre hinter uns jagte General Manzbergen auf der Erde einen Haufen Terroristen, die eine Landefähre entführt hatten. Und der Commissaire hat den Mann erwischt, der auf mich geschossen hatte. Ich wusste es nicht. Und hätte ich es gewusst, wäre es mir gleichgültig gewesen. Sehr viel näher, aber immer noch so weit entfernt wie Antares von der Erde, bemühte sich Gelle-Klara Moynlin einen Sinn in das zu bringen, was die Hitschi ihr erzählten. Auch davon hatte ich keine Ahnung. In meiner unmittelbaren Nähe versuchte meine Frau Essie etwas zu tun, was sie noch nie gemacht hatte, obwohl sie das Verfahren erfunden hatte. Albert half ihr dabei. Er hatte das Verfahren in seinen Datenspeichern, aber keine Hände, um es durchzuführen. Dies nun hätte mich ganz und gar nicht gleichgültig gelassen, hätte ich gewusst, was sie taten.
Aber das konnte ich nicht wissen, weil ich tot war.
Allerdings blieb ich es nicht.
Als ich klein war, las mir meine Mutter oft Geschichten vor. Da gab es eine, in der ein Mann nach einer Gehirnoperation verwirrt war. Ich entsinne mich nicht, wer sie geschrieben hatte – Verne, Wells, eine der Größen aus dem Goldenen Zeitalter – irgendjemand. Ich erinnere mich nur an die Pointe. Der Mann wacht nach der Operation auf und sieht Geräusche, hört Berührungen und fragt am Ende der Geschichte: »Was riecht lila?«
Diese Geschichte wurde mir in meiner Kindheit erzählt. Jetzt war ich erwachsen. Es war keine Geschichte mehr.
Es war ein Albtraum.
Sinneseindrücke stürmten auf mich ein, und ich konnte sie nicht beschreiben! Ich kann es jetzt auch nicht. Ich kann sie ebenso wenig beschreiben wie … Smerglitsch. Wissen Sie, was Smerglitsch ist? Nein. Ich auch nicht. Ich habe das Wort frei erfunden. Es ist nur ein Wort. Es hat keine Bedeutung, außer man gibt ihm eine, ebenso wenig wie die Farben, Geräusche, der Druck, das Kältegefühl, das Zerren, Zucken, Jucken, das Sich-Krümmen, das Brennen, die Sehnsucht – die Milliarde von Quanteneinheiten an Eindrücken, die auf mein nacktes und zartes Ich einstürmten.
Aber ich überlebte.
Ich überlebte aus einem einzigen Grund: Es war unmöglich für mich, es nicht zu tun. Wie es schon seit Urzeiten geschrieben steht: Man kann eine schwangere Frau nicht schwängern und jemanden, der bereits tot ist, nicht mehr umbringen. Ich »überlebte«, weil alle Teile, die man hätte töten können, bereits tot waren.
Sind Sie jetzt im Bild?
Versuchen Sie, es sich vorzustellen. Geschunden. Misshandelt. Und vor allem mir völlig bewusst, dass ich tot war.
Unter anderem las mir meine Mutter auch die Geschichte von Dantes Inferno vor. Manchmal kommt mir der Gedanke, ob Dante nicht vorausgesehen hat, wie es mir ergehen würde. Wenn nicht – woher konnte er dann seine Beschreibung der Hölle nehmen?
Wie lange alles dauerte, weiß ich nicht. Es schien aber eine Ewigkeit.
Dann wurde alles schwächer. Die grellen Lichter entfernten sich, wurden blasser. Die grauenvollen Geräusche wurden leiser. Das Jucken, das Zerren und Kneifen ließen nach.
Lange Zeit geschah gar nichts. Wie in den Höhlen von Karlsbad, wenn sie das Licht ausmachen, um einem zu zeigen, was dunkel heißt. Es gab kein Licht. Es gab nichts als ein verworrenes, entferntes Murmeln, welches das Pochen meines Blutes um Amboss und Steigbügel in meinen Ohren sein konnte.
Wenn ich Ohren hatte.
Und dann formte sich das Gemurmel zu einer Art Stimme, zu Worten, und von ganz weit weg kam die Stimme Albert Einsteins:
»Robin?«
Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie man sprach.
»Robin? Robin? Mein Freund, hörst du mich?«
»Ja«, rief ich – ich wusste nicht wie. »Ich bin hier!« – als ob ich gewusst hätte, wo »hier« war.
Eine lange Pause. Dann kam wieder Alberts Stimme, immer noch schwach, aber schon näher. »Robin«, sagte er und machte zwischen den Wörtern Pausen, als ob er zu einem Kleinkind spräche. »Robin. Hör zu. Du bist außer Gefahr.«
»Außer Gefahr?«
»Du bist außer Gefahr«, wiederholte er. »Ich blockiere für dich.«
Ich gab keine Antwort, hatte nichts zu sagen.
»Ich werde dich jetzt unterrichten, Robin«, fuhr er fort. »Schritt für Schritt. Hab Geduld, Robin! Bald wirst du in der Lage sein, zu hören, zu sehen und zu verstehen.«
Geduld? Ich konnte gar nichts anderes tun. Ich hatte keine andere Wahl, als geduldig alles hinzunehmen, während er mich unterrichtete. Ich vertraute dem alten Albert. Ich glaubte seinem Versprechen, dass er den Tauben das Hören und den Blinden das Sehen beibringen konnte.
Aber gab es eine Möglichkeit, den Toten beizubringen zu leben?
Die nächste kleine Ewigkeit möchte ich nicht unbedingt noch mal durchleben. Nach Alberts Zeitrechnung und jener der Cäsiumuhren, welche in den menschlichen Teilen der Galaxis den Takt angibt, dauerte es – sagt er – etwas über vierundachtzig Stunden. Nach seiner Zeit. Nicht nach meiner. Nach meiner dauerte es endlos.
Obwohl ich mich gut erinnern kann, entsinne ich mich an manche Dinge nur verschwommen. Nicht aus Unvermögen. Nein, aufgrund meines Willens und auch der Geschwindigkeit. Ich werde Ihnen das erklären. Der Austausch von Bits und Bytes im Kern eines Datenspeichers läuft sehr viel schneller ab als im organischen Leben, das ich zurückgelassen hatte. Er überdeckt die Vergangenheit mit Schichten neuer Daten. Und das ist auch gut so, müssen Sie wissen, denn je weiter mich diese grauenvolle Umformung von meinem »Jetzt« entfernt, desto lieber ist es mir.
Wenn ich auch nicht willig bin, mir einige der Anfangsdaten ins Gedächtnis zu rufen, bin ich doch bereit, mir einen Vorfall anzusehen, der bedeutend ist. Wie bedeutend? Bedeutend!
Albert behauptet, ich anthropomorphisiere. Wahrscheinlich tue ich das. Es schadet doch nichts, oder? Ich habe den Großteil meines Lebens in dem Morph eines Anthropos verbracht, und vertraute Gewohnheiten lassen sich nicht so leicht ablegen. Als Albert mich nun stabilisiert hatte und ich – ich schätze das einzig passende Wort ist »erweitert« – war, war ich das anthropomorphe menschliche Wesen, als das ich mich sah. Das beruhte allerdings auf der Annahme, dass das menschliche Wesen größer als Galaxien war, älter als die Sterne und so weise wie Milliarden von uns gemeinsam gelernt haben zu sein. Ich erblickte die Lokale Gruppe – unsere Galaxis und ihre unmittelbaren Nachbarn – als einen kleinen Klumpen in einem gerinnenden Meer aus Energie und Masse. Ich konnte das Ganze überschauen. Ich sah die Heimat, die Muttergalaxis und M-31 daneben; die Magellan’sche Wolke schmiegte sich daneben und all die anderen kleinen Wölkchen, Kügelchen, Büschel und Fläumchen aus streifigem Gras und Sternenschein. Und – das ist der anthropomorphe Teil – ich langte hinaus, um sie zu berühren und in meiner Hand zu halten und meine Finger hindurchgleiten zu lassen, als wäre ich Gott.
Ich war nicht wirklich Gott oder auch nur so weit gottähnlich, um wirklich irgendwelche Galaxien berühren zu können. Ich konnte überhaupt nichts berühren, da ich über nichts verfügte, womit ich etwas hätte berühren können. Es war alles eine Illusion und optische Täuschung, wie Albert, wenn er seine Pfeife ansteckte. Es war nichts da. Kein Albert und keine Pfeife.
Und ich auch nicht. Nicht wirklich. Ich war in der Ausführung nicht gottähnlich, weil ich keine greifbare Existenz besaß. Ich konnte weder Himmel und Erde erschaffen, noch sie zerstören. Ich konnte nicht einmal den kleinsten Teil davon auf irgendeine körperliche Art beeinflussen.
Aber ich konnte sie großartig betrachten. Von außen und innen. Ich konnte im Zentrum meines Heimatsystems stehen und schauen. Wenn ich an Masei 1 und 2 vorbeilugte, sah ich die Millionen und Abermillionen anderer Gruppen und Galaxien, die sich in ihrer gesprenkelten Unermesslichkeit hinaus bis zu den optischen Grenzen des Universums erstreckten, wo flüchtige Sternhaufen schneller entschwinden, als das Licht zurückkehren kann, um sie anzuzeigen … und noch weiter.
Eine Stimme drang in meine großartigen ewigen Träumereien: Alberts Stimme. »Robin, ist alles in Ordnung mit dir?«
Ich wollte ihn nicht anlügen. »Nein. Nicht mal annähernd!«
»Es wird besser werden, Robin.«
»Das hoffe ich«, sagte ich. »… Albert?«
»Ja?«
»Ich mache dir keine Vorwürfe, dass du durchgedreht hast«, erklärte ich, »wenn es das hier ist, was du zuvor durchgestanden hast.«
Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann die Spur eines glucksenden Lachens. »Robin«, entgegnete er, »du hast noch gar nicht gesehen, was mir den Verstand geraubt hat.«
Ich kann nicht sagen, wie lange das alles gedauert hat. Ich weiß nicht, ob die Auffassung von »Zeit« etwas bedeutete, da auf der elektronischen Ebene, auf der ich mich aufhielt, die Zeitskala eine ganz andere war. Viel Zeit wird verschwendet. Die gespeicherte elektronische Intelligenz arbeitet nicht so rationell wie die Maschinerie, mit der wir alle geboren werden. Ein Algorithmus ist kein guter Ersatz für eine Synapse. Andererseits laufen viele Dinge schneller ab da unten im Subpartikel-Land, wo die Femtosekunde eine Einheit ist, die man spüren kann. Man könnte sagen, dass ich irgendwo zwischen zehn- und zehntausendmal so schnell lebte, wie ich es gewohnt war.
Natürlich gibt es objektive Maße richtiger Zeit – damit meine ich Wahre-Liebe-Zeit. Essie beachtete die Minuten sehr sorgfältig. Alles in allem dauerte es über dreieinhalb Tage.
Für mich, in dieser Welt von Wirbeln, Zauber, Farben und verbotenen Orbits, in die ich für meine weitere Existenz überführt wurde – für mich, könnte man sagen, dauerte es ewig. Jedenfalls schien es mir so.
»Du musst lernen, deine Inputs und Outputs zu benutzen«, befahl mir Albert.
»Na super!«, rief ich dankbar. »Ist das alles? Meine Güte! Das klingt ja kinderleicht!«
Seufzen. »Ich bin froh, dass du deinen Sinn für Humor behalten hast«, sagte er. Und dann hörte ich noch: weil du ihn gottverdammt brauchen wirst! »Tut mir Leid, aber du wirst jetzt arbeiten müssen. Es ist nicht leicht für mich, auf diese Art einzukapseln …«
»Einzu… was?«
»Dich zu schützen, Robin«, antwortete er ungeduldig. »Deine Aufnahmefähigkeit zu vermindern, damit du nicht zu sehr unter Verwirrtheit und Gestörtheit zu leiden hast.«
»Albert?«, fragte ich. »Hast du den Verstand verloren? Ich habe das ganze Universum gesehen!«
»Du hast nur das gesehen, wozu auch ich Zugang habe, Robin. Das reicht nicht. Ich kann nicht für immer deinen Zugang kontrollieren. Du musst lernen, das selbst zu tun. Ich werde meinen Schutz für dich etwas reduzieren, wenn du so weit bist.«
Ich spannte meine Kräfte an. »Ich bin so weit!«
Aber ich hatte meine Kräfte nicht genug angespannt.
Sie glauben gar nicht, wie weh es tat. Die piepsenden, zwitschernden, keifenden und befehlenden Stimmen aller Inputs stürmten auf mich ein – das heißt auf die Orte einer nicht räumlichen Geometrie, die ich immer noch wild entschlossen für meine Ohren hielt. Es war eine Tortur. War es so schlimm, wie beim ersten Mal, als ich nackt allem auf einmal ausgesetzt war? Nein. Es war schlimmer. In diesem schrecklichen ersten Ansturm der Wahrnehmungen hatte mir etwas sehr geholfen: Ich hatte damals noch nicht gelernt, Klänge als Geräusche oder Schmerz als Schmerz zu identifizieren. Jetzt konnte ich das. Jetzt erkannte ich den Schmerz, als ich ihn spürte. »Bitte, Albert!«, schrie ich. »Was ist das?«
»Das sind nur die Datenspeicher, zu denen du Zugang hast, Robin«, beruhigte er mich. »Nur die Fächer an Bord der Wahren Liebe, plus Telemetrie plus ein paar Inputs von den Sensoren für das Schiff und die Mannschaft.«
»Mach, dass sie aufhören!«
»Kann ich nicht.« In seiner Stimme klang echtes Mitgefühl, obwohl ja gar keine Stimme existierte. »Du musst da durch, Robin. Du musst auswählen, zu welchen Speichern du Zugang haben willst. Wähl einen und block die anderen ab!«
»Was soll ich machen?«, flehte ich. Ich war noch verwirrter als vorher.
»Wähl nur einen aus, Robin«, wiederholte er geduldig. »Einige sind unsere eigenen Datenspeicher, einige sind Hitschi-Fächer, manche etwas ganz anderes. Du musst lernen, mit ihnen in Beziehung zu treten.«
»In Beziehung?«
»Dich durch sie zu informieren, Robin. Als ob es Nachschlagewerke in einer Bibliothek wären. Wie Bücher in einem Regal.«
»Bücher brüllen einen aber nicht an! Und die hier brüllen!«
»Na sicher! So machen sie sich bemerkbar – genauso wie Bücher sich in den Regalen den Augen bemerkbar machen. Du brauchst aber nur das anzuschauen, welches du willst. Da ist besonders eines, das es für dich leichter machen wird, glaube ich. Sieh zu, ob du es findest.«
»Finden? Wie soll ich denn danach Ausschau halten?«
Es kam ein Geräusch wie Seufzen. »Also gut«, sagte er. »Wir können es ja mit einem Kunstgriff versuchen, Robin. Ich kann dir nicht die Position angeben, weil ich nicht annehme, dass du bereits ein Bezugssystem hast …«
»Stimmt, verdammt noch mal!«
»Ja. Aber es gibt da einen alten Trick bei Tierdressuren, der ein Tier dazu bringt, komplizierte Handlungen auszuführen, die es nicht versteht. Ich entsinne mich an einen Zauberer, der einen Hund dazu anhalten konnte, ins Publikum zu laufen, eine bestimmte Person auszuwählen und von ihr ein bestimmtes Objekt zu nehmen …«
»Albert«, bettelte ich. »Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, mir eine deiner langatmigen Anekdoten zu erzählen!«
»Nein! Das ist keine Anekdote. Es ist ein psychologisches Experiment. Es funktioniert prima bei Hunden – ich weiß nicht, ob man es schon jemals an einem erwachsenen Menschen ausprobiert hat. Wir werden ja sehen. Du machst jetzt Folgendes: Beweg dich in irgendeine Richtung. Wenn diese stimmt, sage ich dir, dass du weitermachen sollst. Sobald ich das nicht mehr sage, hörst du mit dem auf, was du gerade machst. Überlege! Probiere verschiedene Möglichkeiten aus. Wenn das neue Ding oder die neue Richtung sinnvoll ist, fordere ich dich auf weiterzumachen. Kannst du das tun?«
Ich antwortete: »Gibst du mir dann auch ein Zuckerstückchen, wenn es vorbei ist, Albert?«
Leises Lachen. »Zumindest die elektronische Entsprechung, Robin. Fang jetzt an, dir etwas auszudenken!«
Ausdenken? Wie? Es hatte aber keinen Zweck, Fragen zu stellen, denn wenn Albert mir mit Worten das »Wie« hätte erklären können, brauchten wir jetzt nicht den Trick eines Hundedompteurs zu versuchen. Ich fing also an … Dinge zu tun.
Ich kann nicht genau erklären, welche Dinge ich tat.
Aber ich bewegte mich. Irgendwie bewegte ich mich. Und die ganze Zeit über sagte Alberts Stimme zu mir: »Nein. Nein. Nein. Das ist es nicht. Nein. Nein …«
Und dann: »Ja! Ja, Robin, mach so weiter!«
»Ich mache weiter.«
»Nicht reden, Robin! Nur weitermachen! Immer weiter! Weitersoweitersoweitersoweitersoweiterso – nein. Stop!
Nein.
Nein.
Nein.
Nein – ja! Weitersoweitersoweitersoweiterso – nein – ja! Weiter – stop! Da ist es, Robin. Da ist der Band, den du aufschlagen musst.«
»Hier? Das Ding? Diese Stimme, die klingt wie …«
Ich brach ab. Ich konnte nicht weitersprechen. Sehen Sie, ich hatte die Tatsache akzeptiert, dass ich tot war, nichts anderes als gespeicherte Elektronen in einem Datenfächer, und es nur noch schaffte, mit mechanischen Speichern oder anderen nicht lebenden Personen wie Albert zu sprechen.
»Öffne den Band!«, befahl er. »Lass sie zu dir sprechen!«
Sie brauchte keine Erlaubnis. »Hallo, Robin, Liebster«, ertönte die elektronische Stimme meiner lieben Frau Essie. Sie klang merkwürdig, etwas verzerrt, aber es gab keinen Zweifel, wer sie war. »Ist doch ein schöner Ort, wo du jetzt bist, oder etwa nicht?«
Ich glaube nicht, dass irgendetwas, nicht einmal die Erkenntnis meines eigenen Todes, ein so grauenvoller Schock für mich war, wie Essie unter den Toten zu finden. »Essie«, schrie ich. »Was ist mir dir geschehen?«
Sofort war Albert zur Stelle und sagte schnell und fürsorglich: »Es geht ihr gut, Robin. Sie ist nicht tot.«
»Aber sie muss es sein! Sie ist doch hier!«
»Nein, mein lieber Junge, nicht wirklich«, belehrte mich Albert. »Ihr Buch ist hier, weil sie sich teilweise selbst für das ›Jetzt-und-Später‹-Projekt eingespeichert hat. Teilweise auch bei den Experimenten, die zu meinem jetzigen Zustand führten.«
»Du Dreckskerl hast mich denken lassen, sie sei tot.«
Freundlich entgegnete er: »Robin, du musst diese Fleisch-und-Blut-Besessenheit deines Denkens ablegen. Spielt es wirklich eine Rolle, ob ihr Stoffwechsel auch noch auf organischer Ebene arbeitet, zusätzlich zu der Version, die hier gespeichert ist?«
Da mischte sich auch die merkwürdige Essie-Stimme ein: »Hab Geduld, liebster Robin! Sei ruhig. Es wird alles gut.«
»Das bezweifle ich ausgesprochen«, erwiderte ich bitter.
»Vertrau mir, Robin«, flüsterte sie. »Hör auf Albert! Er wird dir sagen, was du tun musst.«
»Der schlimmste Teil ist vorüber«, versicherte mir Albert. »Ich entschuldige mich für die Traumata, die du erlitten hast, aber sie waren unumgänglich – glaube ich.«
»Du glaubst es?«
»Ja, ich glaube es nur, Robin, weil dies noch nie zuvor gemacht wurde und wir weitgehend im Dunkeln tappen. Ich weiß, dass es für dich ein Schock war, auf die gespeicherte Entsprechung von Mrs. Broadhead zu treffen; aber es wird dir helfen, dich auf die Begegnung mit ihr in Fleisch und Blut vorzubereiten.«
Wenn ich einen Körper gehabt hätte, mit dem das möglich gewesen wäre, hätte ich ihm eine runtergehauen – wenn Albert etwas zum Reinhauen gehabt hätte. »Du bist noch verrückter als ich«, schrie ich.
Geisterlachen. »Nicht verrückter, Robin. Nur genauso verrückt. Du wirst mit ihr sprechen und sie sehen können, ebenso wie mit mir, so lange du noch … gelebt hast. Das verspreche ich dir, Robin. Es wird klappen – glaube ich.«
»Ich kann nicht.«
Pause. »Es ist nicht leicht«, gab er zu. »Aber überlege mal. Ich kann es. Und du glaubst nicht, dass du so viel zustande bringst wie ein armseliges Computerprogramm?«
»Reize mich nicht, Albert! Ich verstehe, was du sagst. Du glaubst, ich kann mich als Hologramm zeigen und in Realzeit mit lebenden Personen Kommunikation aufnehmen. Aber ich weiß nicht, wie!«
»Jetzt noch nicht, Robin. Diese Unterprogramme existieren noch nicht in deinem Programm. Aber ich kann es dir beibringen. Du wirst dich zeigen können. Vielleicht nicht mit solch natürlicher Grazie und Munterkeit wie ich«, protzte er, »aber du wirst zumindest erkennbar sein. Bist du bereit, mit dem Lernen anzufangen?«
Und Essies Stimme, oder die Stimme, die eine Zerrkopie Essies war, flüsterte: »Bitte, tu es, Robin! Ich warte schon so ungeduldig auf dich!«
Wie mühsam ist es, geboren zu werden! Mühsam für das Neugeborene und noch mühsamer für den Zuhörer, der die Geburt nicht selbst erlebt, sondern nur das endlose Jammern hört.
Es war endlos. Meine Hebammen spornten mich ständig an. »Du schaffst es«, versprach mir die Essie-Kopie von einer Seite (wenn ich einen Augenblick so tat, als hätte ich eine »Seite«). »Es ist leichter, als es aussieht«, machte mir Alberts Stimme von der anderen Seite Mut. Im ganzen Universum gab es keine zwei Leute, deren Wort ich bedingungsloser geglaubt hätte als diesen beiden. Aber ich hatte meinen Vorrat an Vertrauen aufgebraucht. Es war nichts mehr übrig, und ich verspürte Angst. Leicht? Es war einfach grotesk!
Ich sah nämlich die Kabine, wie Albert sie immer gesehen hatte. Ich hatte nicht die Perspektive zweier fokussierender Augen und ein Paar Ohren an bestimmten Plätzen im Raum. Ich sah und hörte alles gleichzeitig.
»Lass mich dir helfen, Robin!«, flüsterte die Entsprechung von Essie. »Siehst du mich, Robin? Im großen Bett schlafend? Ich war viele Tage wach, Robin, und habe dein altes organisches Ich in eine prima neue Fächerflasche eingefüllt. Jetzt bin ich völlig erschöpft. Aber, schau, ich habe gerade meine Hand bewegt, um mich an der Nase zu kratzen. Siehst du meine Hand? Siehst du die Nase? Erkennst du mich?« Dann das Geisterlachen. »Natürlich tust du das, Robin? Schließlich bin ich es ganz und gar.«