Es war nicht leicht zu leben, so jung und so völlig allein. »Geh zum goldenen Bereich, Wan, stiehl, was du willst, lerne. Hab keine Angst«, sagten die Toten Menschen zu ihm. Aber wie sollte er keine Angst haben? Die albernen, aber lästigen Alten benutzten die Goldgänge. Man konnte sie dort überall finden, meistens am Ende der Gänge, wo die goldenen Adern der Symbole zum Mittelpunkt der Dinge führten, also genau dort, wohin zu gehen die Toten Menschen ihn unaufhörlich drängten. Vielleicht musste er dorthin, aber er konnte nicht verhindern, dass er sich fürchtete.
Wan wusste nicht, was geschehen würde, wenn ihn die Alten je erwischen sollten. Die Toten Menschen wussten es vermutlich, aber aus dem weitschweifigen Gerede, das sie von sich gaben, konnte er nicht klug werden. Vor langer Zeit einmal, als Wan noch winzig gewesen war – als seine Eltern noch gelebt hatten, so lange war das her –, hatte es seinen Vater erwischt. Er war lange Zeit fort gewesen und dann zu ihrem grün leuchtenden Heim zurückgekommen. Er hatte gezittert, und der zweijährige Wan hatte gesehen, dass sein Vater angsterfüllt war; und Wan hatte geschrien und gebrüllt, weil ihn das so erschreckte.
Trotzdem musste er zum Gold gehen – ob die ernsten Alten mit dem Froschkinn dort waren oder nicht –, weil sich dort die Bücher befanden. Die Toten Menschen waren ganz gut, aber umständlich und empfindlich und oft besessen. Die besten Wissensquellen waren Bücher, und um sie zu holen, musste Wan dorthin gehen, wo sie waren.
Die Bücher befanden sich in den Gängen, die vor Gold glänzten. Es gab andere Gänge, grüne und rote und blaue, aber dort waren keine Bücher. Wan mochte die blauen Korridore nicht, weil sie kalt und tot waren; dort befanden sich auch die Toten Menschen. Das Grün war verbraucht. Wan verbrachte seine meiste Zeit dort, wo die blinkenden roten Spinnweben aus Licht sich an den Wänden ausbreiteten und wo sich in den Behältern noch Nahrung befand; dort wurde er mit Sicherheit nicht gestört, aber er war auch allein. Die goldenen Gänge wurden noch benutzt, waren also noch lohnend und damit auch gefährlich. Und auch jetzt hielt er sich dort auf und fluchte gereizt vor sich hin – aber nur halblaut –, weil er festsaß. Die gottverdammten Toten Menschen! Warum hörte er nur auf ihr Geschwätz?
Er kauerte zitternd in der unzureichenden Deckung eines Beerenstrauches, während zwei der törichten Alten auf der anderen Seite standen, versonnen Beeren pflückten und sie präzise in ihre Froschmünder schoben. Es war an sich ungewöhnlich, dass sie so untätig waren. Zu den Gründen, weshalb Wan die Alten verabscheute, gehörte, dass sie immer beschäftigt waren, immer plapperten, wie gehetzt. Doch jetzt standen diese beiden herum, so untätig wie Wan selbst.
Beide trugen schüttere Bärte, einer besaß dazu noch Brüste. Wan erkannte sie als eine Frau, die er schon ein Dutzend Mal gesehen hatte; sie war diejenige, welche sich besonders damit hervortat, farbige Stücke aus irgendeinem Material – Papier? Kunststoff? – auf ihren Sari oder manchmal auf ihre fahle, fleckige Haut zu kleben. Er glaubte nicht, dass sie ihn sehen würden, war aber trotzdem sehr erleichtert, als sie sich nach einiger Zeit gemeinsam umdrehten und davongingen. Sie sagten nichts. Wan verstand auch nichts, wenn er die ernsten alten Froschgesichter reden hörte. Er sprach sechs Sprachen gut – das Spanisch seines Vaters, das Englisch der Mutter, das Deutsch, das Russisch, das Kanton-Chinesisch und das Finnisch der Toten Menschen. Aber wenn die Froschgesichter redeten, verstand er kein Wort.
Sofort, als sie sich durch den goldenen Gang entfernt hatten – rasch, hin, zupacken! Wan hatte drei Bücher und war fort, in einem roten Korridor wieder in Sicherheit. Es war möglich, dass die Alten ihn gesehen hatten. Sie reagierten nicht schnell. Deshalb hatte er sie so lange meiden können. Ein paar Tage in den Gängen, und schon war er wieder fort. Bis sie dahinter kamen, dass er da gewesen war, war er bereits wieder auf dem Schiff.
Er brachte die Bücher in einem Tragekorb voll Nahrungspäckchen zum Schiff zurück. Die Antriebs-Akkus waren fast ganz aufgeladen. Er konnte davonfliegen, wann er wollte, aber es war besser, sie noch vollständig aufzuladen, und er glaubte nicht daran, dass er sich beeilen musste. Er brachte fast eine Stunde damit zu, für die mühsame Reise Plastikbeutel mit Wasser zu füllen. Wie bedauerlich, dass es im Schiff keine Lesegeräte gab, um die Langeweile zu vertreiben! Als ihm die Arbeit zu viel wurde, beschloss er, den Toten Menschen Lebewohl zu sagen. Sie mochten antworten oder auch nicht, ja, sich nicht einmal um ihn kümmern. Aber sonst hatte er niemanden, mit dem er sprechen konnte.
Wan war fünfzehn Jahre alt, groß gewachsen, mager, von Natur schon dunkelhäutig, dunkler noch durch die Lampen auf dem Schiff, wo er so viel Zeit verbrachte. Er war kräftig und selbständig. Er musste es sein. In den Behältern lag immer Nahrung, und es gab andere Dinge, die er nur zu nehmen brauchte, wenn er es wagte. Ein- oder zweimal im Jahr, wenn sie daran dachten, packten die Toten Menschen ihn mit ihrer kleinen beweglichen Maschine und brachten ihn in eine Zelle in den blauen Gängen, einen langweiligen Tag lang, in dessen Verlauf er sehr gründlich untersucht wurde. Manchmal bekam er eine Zahnfüllung, gewöhnlich erhielt er lang wirkende Vitamin- und Mineralienspritzen, und einmal hatte er eine Brille zugeteilt bekommen. Aber er weigerte sich, sie zu tragen. Sie erinnerten ihn auch daran, dass er – wenn er das zu lange vernachlässigte – studieren und lernen musste, sowohl von ihnen wie aus den Büchern. Er brauchte nicht oft daran erinnert zu werden. Das Lernen machte ihm Spaß. Abgesehen von diesen Dingen blieb er sich völlig selbst überlassen. Wenn er Kleidung brauchte, ging er in den goldenen Bereich und stahl sie den Alten. Wenn er sich langweilte, erfand er eine neue Beschäftigung. Ein paar Tage in den Gängen, ein paar Wochen im Schiff, noch ein paar Tage an dem anderen Ort, dann fing er wieder von vorne an. Die Zeit verging. Er hatte keine Gesellschaft und auch keine gehabt, seitdem er vier Jahre alt gewesen war und seine Eltern verschwunden waren. Er hatte auch beinahe vergessen, wie es war, einen Freund zu haben. Es störte ihn nicht. Sein Leben erschien ihm durchaus vollständig, weil er kein anderes kannte, mit dem er es hätte vergleichen können.
Manchmal dachte er, dass es schön wäre, sich an irgendeinem Ort niederzulassen, aber das waren nur Träume. Bis zu einem Vorsatz gedieh das nie. Seit mehr als elf Jahren ging es nun schon hin und her. An dem anderen Ort gab es Dinge, die in der Zivilisation nicht vorhanden waren. Es gab das Traumzimmer, wo er sich hinlegen, die Augen schließen und das Gefühl haben konnte, nicht allein zu sein. Aber dort konnte er nicht leben, obwohl es viel Nahrung und keine Gefahren gab, weil der einzige Wassersammler nur ein Rinnsal produzierte. Die Zivilisation besaß vieles von dem, was es im Vorposten nicht gab: die Toten Menschen und die Bücher, unheimliche Erkundungsgänge und wagemutige Vorstöße, um Kleidung oder Gebrauchsgegenstände zu stehlen; es tat sich etwas. Aber dort konnte er auch nicht leben, weil die Froschgesichter ihn früher oder später bestimmt erwischen würden. Deshalb pendelte er.
Die große Vestibültür zum Raum der Toten Menschen öffnete sich nicht, als Wan auf das Pedal trat. Er schlug sich beinahe die Nase an. Überrascht blieb er stehen und drückte erst vorsichtig gegen die Tür, dann fester. Er brauchte seine ganze Kraft, um sie aufzustoßen. Wan hatte sie noch nie von Hand öffnen müssen, auch wenn sie ab und zu gezögert und beunruhigende Geräusche von sich gegeben hatte. Das war ärgerlich. Wan hatte schon früher Maschinen erlebt, die versagten; das war auch der Grund, weshalb die grünen Korridore nicht mehr sehr nutzbringend waren. Aber das betraf nur Nahrung und Wärme, und davon gab es genug in den roten oder sogar den goldenen Korridoren. Es war unangenehm, dass bei den Toten Menschen Defekte auftraten, denn wenn sie versagen sollten, gab es für ihn keinen Ersatz.
Trotzdem sah alles normal aus; der Raum mit den Konsolen war von Leuchtstoffplatten hell beleuchtet, die Temperatur war angenehm, und er konnte das leise Summen und seltene Klicken der Toten Menschen hinter ihren Schalttafeln hören, wenn sie ihren einsamen, wahnhaften Gedanken nachhingen und taten, was sie eben machten, wenn er nicht mit ihnen sprach. Er setzte sich in seinen Sessel, rutschte wie immer umher, um sich in den schlecht passenden Sitz zu schmiegen, und zog den Kopfhörer über seine Ohren.
»Ich gehe jetzt zum Vorposten«, sagte er.
Es kam keine Antwort. Er wiederholte den Satz in allen Sprachen, die er beherrschte, aber niemand schien mit ihm reden zu wollen. Das war eine Enttäuschung. Manchmal waren zwei oder drei von ihnen auf Gesellschaft begierig, vielleicht sogar mehr. Dann konnten sie alle eine schöne lange Unterhaltung führen, und es war beinahe so, als sei er in Wirklichkeit gar nicht ganz allein, beinahe so, als gehöre er zu einer »Familie« (ein Wort, das er aus den Büchern und den Mitteilungen der Toten Menschen kannte, als Wirklichkeit aber kaum noch in Erinnerung hatte). Das war gut. Fast so gut wie am Traumort, wo er eine Weile die Illusion genießen konnte, zu hundert, zu Millionen Familien zu gehören. Zu Scharen von Leuten! Aber das hielt er nicht lange aus. Wenn er den Vorposten verlassen musste, um Wasser zu holen und die weniger greifbare Gesellschaft der Toten Menschen zu genießen, bedauerte er das nie. Doch er wollte immer wieder zurück zu der engen Liege und der seidig-metallenen Decke, die ihn dort schützte, und zu den Träumen.
Doch er beschloss, den Toten Menschen noch eine Chance zu geben. Selbst wenn sie sich nicht unterhalten wollten, konnte man ihr Interesse manchmal erregen, sobald man sie direkt ansprach. Er dachte kurz nach, dann wählte er die Nummer 57.
Eine traurige, ferne Stimme murmelte vor sich hin: »… versuchte ihm das mit der fehlenden Masse zu erklären. Masse! Die einzige Masse, die ihn beschäftigte, waren zwanzig Kilo Titten und Arsch! Dieses Dämchen Doris! Ein Blick auf sie, und er hat den Auftrag vergessen, mich vergessen …«
Stirnrunzelnd hob Wan den Finger, um abzuschalten. Siebenundfünfzig war eine Plage! Er hörte ihr gern zu, wenn sie vernünftig sprach, weil sie ein wenig so klang, wie er seine Mutter in Erinnerung hatte, aber sie schien von Astrophysik, Raumfahrt und anderen interessanten Themen jedes Mal direkt auf ihre eigenen Sorgen zu kommen. Er spuckte auf die Stelle an den Schalttafeln, hinter der seiner Meinung nach Siebenundfünfzig lebte – etwas, das er von den Alten gelernt hatte –, in der Hoffnung, sie werde etwas Interessantes von sich geben.
Aber sie schien nicht daran zu denken. Nummer Siebenundfünfzig – wenn sie verständlich redete, ließ sie sich gern Henriette nennen – plapperte weiter von starken Rotverschiebungen und Arnolds Tändeleien mit Doris. Was immer das sein mochte.
»Wir hätten Helden sein können«, sagte sie schluchzend, »und zehn Millionen Dollar Prämie einsacken können, vielleicht noch mehr, wer weiß, was sie für den Antrieb bezahlt hätten? Aber sie verschwanden dauernd mit der Landekapsel und … Wer bist du?«
»Ich bin Wan«, sagte der Junge und lächelte aufmunternd, obwohl er nicht glaubte, dass sie ihn sehen konnte. Sie erweckte den Eindruck, vor einem lichten Moment zu stehen. In der Regel wusste sie nicht, dass er mit ihr sprach. »Bitte, sprich weiter.«
Es blieb lange Zeit still, dann sagte sie: »NGC 1199. Sagittarius A West.«
Wan wartete höflich. Wieder eine lange Pause, dann sagte sie: »Ihm waren die richtigen Schritte egal. Die machte er alle mit Doris. Halb so alt wie er! Und das Gehirn einer Steckrübe. Er hätte sie überhaupt nicht mit ins Schiff nehmen dürfen …«
Wan wackelte mit dem Kopf wie ein Alter mit Froschgesicht.
»Du bist sehr langweilig«, sagte er streng und schaltete sie ab. Er zögerte, dann wählte er den Professor an, Nummer 14.
»… obwohl Eliot noch Harvard-Student war, war seine Metaphorik die eines reifen Mannes. ›Aus mir hätten zwei ausgefranste Scheren werden sollen.‹ Die eigene Geringschätzung des Massenmenschen, auf die symbolische Spitze getrieben. Wie sieht er sich? Nicht bloß als Krustentier. Nicht einmal als Krustentier, sondern als die reine Abstraktion eines Krustentieres: Scheren. Und ausgefranste noch dazu. In der nächsten Zeile lesen wir …«
Wan spuckte wieder auf die Schalttafel, als er abschaltete; die ganze Wand war übersät mit den Spuren seines Missfallens. Es gefiel ihm, wenn Doc Lyrik vortrug, aber es gefiel ihm nicht so besonders, wenn er darüber dozierte. Bei den verrücktesten der Toten Menschen wie 14 und 57 hatte man keinen Einfluss auf das, was geschah. Sie reagierten selten und fast nie auf eine Weise, die von Belang zu sein schien, und man hörte sich entweder an, was sie gerade von sich gaben, oder man schaltete sie ab.
Es war fast Zeit für Wan zu gehen, aber er versuchte es noch ein weiteres Mal: bei dem Einzigen mit einer dreistelligen Zahl, seinem besonderen Freund Tiny Jim.
»Hallo, Wan.« Die Stimme klang traurig und angenehm. Es prickelte in Wans Innerem, wie der plötzliche kleine Angstschauer, den er in der Nähe der Alten verspürte. »Du bist es doch, Wan, nicht wahr?«
»Das ist eine dumme Frage. Wer sollte es sonst sein?«
»Man gibt die Hoffnung nicht auf, Wan.« Nach einer Pause kicherte Tiny Jim plötzlich. »Hab’ ich dir den von dem Pfarrer, dem Rabbiner und dem Derwisch erzählt, die auf dem Planeten, der aus Schweinefleisch bestand, plötzlich nichts mehr zu essen hatten?«
»Ich glaube schon, Tiny Jim, und außerdem will ich jetzt keine Witze hören.«
Der unsichtbare Lautsprecher knackte und summte kurze Zeit, dann sagte der Tote Mensch: »Wieder das alte Lied, Wan? Du willst wieder über Sex sprechen?«
Der Junge behielt eine ausdruckslose Miene bei, aber das vertraute Prickeln im Unterbauch stellte sich wieder ein.
»Das sollten wir ruhig tun, Tiny Jim.«
»Für dein Alter bis du ein geiler Bursche, Wan«, meinte der Tote Mann und fuhr fort: »Soll ich dir von dem Tag erzählen, an dem ich wegen eines Sexvergehens beinahe geschnappt worden wäre? Es war irrsinnig heiß. Ich fuhr mit dem Spätzug nach Roselle Park zurück, und da kam ein Mädchen herein, setzte sich mir gegenüber, legte die Beine hoch und begann sich mit dem Rock Luft zuzufächeln. Na, was hättest du getan? Ich schaute hin, verstehst du. Und sie machte weiter, und ich schaute unaufhörlich hin, und in der Nähe von Highlands beklagte sie sich darüber beim Schaffner, der mich aus dem Zug warf. Weißt du, was das Komische dabei war?«
Wan war hingerissen.
»Nein, Tiny Jim«, flüsterte er.
»Das Komische war, dass ich meinen Zug verpasst hatte. Ich musste mir in der Stadt die Zeit vertreiben, ging also in ein Pornokino. Zwei Stunden lang, mein Gott, alle Kombinationen, die es gibt. Mehr hätte ich nur noch mit einem Proktoskop sehen können, und warum gaffte ich dann über die Bank auf ihr kleines, weißes Höschen? Aber weißt du, was noch komischer war?«
»Nein, Tiny Jim.«
»Sie hatte Recht! Ich gaffte wirklich. Ich hatte jede Menge Schamhügel und Titten gesehen, aber von ihr konnte ich den Blick nicht abwenden. Das war aber noch nicht das Komischste. Soll ich dir das Allerkomischste sagen?«
»Ja, bitte, Tiny Jim, das sollst du.«
»Na, sie stieg mit mir aus dem Zug. Und nahm mich mit zu sich nach Hause, mein Junge, und wir trieben es immer und immer wieder, die ganze Nacht hindurch. Ich erfuhr nie, wie sie hieß. Was sagst du dazu, Wan?«
»Hör mal, ist das alles wahr, Tiny Jim?«
Pause.
»Ach wo! Nein! Du verdirbst einem alles!«
Wan sagte streng: »Ich will nichts Erfundenes hören, Tiny Jim. Ich will Tatsachen kennen lernen.« Wan war zornig und überlegte, ob er den Toten Mann abschalten sollte, um ihn zu bestrafen, war aber nicht sicher, wen er damit bestrafen würde. »Ich möchte, dass du gewissenhaft bist, Tiny Jim«, redete er ihm zu.
»Hm …« Der körperlose Verstand knackte und flüsterte einen Augenblick vor sich hin, während er seine Gesprächsschritte durchging. Dann sagte er: »Willst du wissen, warum Wildenteriche ihre Gefährtinnen vergewaltigen?«
»Nein!«
»Ich glaube doch, Wan. Das ist interessant. Man kann Primatenverhalten nicht verstehen, wenn man nicht die ganze Bandbreite der Fortpflanzungsmethoden kennt. Sogar ausgefallene. Selbst die Kratzwürmer. Sie vergewaltigen auch, und weißt du, was Moniliformis dubius tut? Sie vergewaltigen ihre Weibchen nicht nur, sie tun das sogar bei konkurrierenden Männchen. Mit einer Art Gips! Damit der arme andere Wurm ihn nicht hochkriegt!«
»Das will ich alles nicht hören, Tiny Jim.«
»Aber es ist komisch, Wan! Deshalb heißt die Art wohl ›dubius‹!« Der Tote Mann kicherte mechanisch.
»Hör auf, Tiny Jim!« Aber Wan war nicht mehr bloß zornig. Er war gefangen. Es war sein Lieblingsthema ebenso wie Tiny Jims Bereitschaft, sich lang und breit darüber auszulassen, was ihn zu Wans Favoriten unter den Toten Menschen machte. Wan wickelte ein Nahrungspäckchen aus und sagte kauend: »Was ich wirklich hören möchte, ist, wie man rankommt, Tiny Jim, bitte?«
Wenn der Tote Mann ein Gesicht gehabt hätte, wäre ihm die Anstrengung anzusehen gewesen, die es kostete, das Lachen zurückzuhalten, aber er sagte entgegenkommend: »Okay, Kleiner. Ich weiß, du gibst die Hoffnung nicht auf. Mal sehen: Hab’ ich dich aufgefordert, auf ihre Augen zu achten?«
»Ja, Tiny Jim. Du hast gesagt, wenn ihre Pupillen groß werden, sind sie sexuell erregt.«
»Richtig. Und habe ich das Vorhandensein der sexuell zweigestaltigen Strukturen im Gehirn erwähnt?«
»Ich glaube nicht, dass ich genau weiß, was das bedeutet.«
»Na, ich auch nicht, aber anatomisch ist das so. Sie sind andersartig, Wan, innen und außen.«
»Bitte, Tiny Jim, erzähl mir von den Unterschieden!«
Der Tote Mann tat es, und Wan lauschte gefesselt. Es blieb noch immer Zeit genug, zum Schiff zu gehen, und Tiny Jim äußerte sich ungewohnt verständlich. Alle Toten Menschen hatten ihre Spezialthemen, über die sie sich immer wieder ausließen, so, als wäre jeder von ihnen mit einem einzigen großen Gedanken in sich erstarrt. Aber selbst bei den bevorzugten Themen konnte man nicht immer damit rechnen, dass das, was sie sagten, einen Sinn ergab. Wan schob das mobile Gerät, mit dem sie ihn einzufangen pflegten – wenn es funktionierte –, aus dem Weg und streckte sich am Boden aus, das Kinn auf die Hände gestützt, während der Tote Mann plauderte und in Erinnerungen schwelgte und erläuterte, wie man eine Frau hofierte, ihr Geschenke machte und es endlich versuchte.
Es war faszinierend, obwohl Wan das schon mehrmals gehört hatte. Er hörte zu, wie der Tote Mann langsamer wurde, zögerte und verstummte. Dann sagte der Junge, um eine Theorie bestätigt zu bekommen: »Bring mir etwas bei, Tiny Jim. Ich habe ein Buch gelesen, in dem ein Mann und eine Frau sich begatten. Er schlug sie auf den Kopf und begattete sie, während sie bewusstlos war. Das scheint mir eine brauchbare Weise zu sein, zu ›lieben‹, Tiny Jim, aber in anderen Geschichten dauert das viel länger. Woran liegt das?«
»Das war keine Liebe, Kleiner. Das war, wovon ich dir erzählt habe: Vergewaltigung. Das ist schlecht bei Menschen, auch wenn es bei Wildenten geht.«
Wan nickte und feuerte ihn an: »Warum, Tiny Jim?«
Pause.
»Ich erkläre dir das mathematisch, Wan«, sagte der Tote Mann schließlich. »Attraktive Sexobjekte können bezeichnet werden als weiblich, nicht mehr als fünf Jahre jünger als du selbst, nicht mehr als fünfzehn Jahre älter. Diese Zahlen sind auf dein jetziges Alter bezogen, also nur annähernd richtig. Attraktive Sexobjekte können ferner charakterisiert werden durch optische, olfaktorische, taktile und akustische Reize, die auf dich wirken. Hast du mich so weit verstanden?«
»Eigentlich nicht.«
Pause.
»Na, das macht jetzt nichts. Hör einfach zu. Auf der Grundlage dieser vier Elemente werden manche Frauen Reiz auf dich ausüben. Bis zum Augenblick der Begegnung kannst du nichts wissen von anderen Zügen, die dich abstoßen, dir schaden oder die Lust verleiden. 5 von 28 Frauen werden ihre Periode haben. 3 von 82 werden an Gonorrhöe leiden, 2 von 95 an Syphilis. Eine von 17 wird zu starke Körperbehaarung, Hautdefekte oder andere körperliche Verunstaltungen aufweisen, die durch die Kleidung verdeckt werden. Schließlich werden 2 von 71 sich beim Verkehr beleidigend benehmen, eine von 16 wird unangenehm riechen, 3 von 7 werden der Vergewaltigung solchen Widerstand entgegensetzen, dass deine Lust verringert wird; das sind subjektive Werte, errechnet im Verhältnis zu deinem mir bekannten psychologischen Profil. Nimmt man diese Werte zusammen, dann steht es mehr als 6 zu 1 dafür, dass du einer Vergewaltigung nicht die höchste Lust abgewinnst.«
»Dann darf ich eine Frau nicht begatten, ohne um sie geworben zu haben?«
»Richtig, mein Junge. Nicht mitgerechnet, dass Vergewaltigung auch gegen das Gesetz verstößt.«
Wan schwieg einen Augenblick nachdenklich, dann fiel ihm noch eine Frage ein.
»Ist das alles wahr, Tiny Jim?«
Schadenfrohes Gekicher.
»Diesmal hab’ ich dich erwischt, Kleiner. Jedes Wort!«
Wan schmollte wie ein Froschgesicht.
»Das war nicht sehr aufregend, Tiny Jim. Wenn ich ehrlich sein soll: Jede Erregung ist verschwunden.«
»Was hast du erwartet, Kleiner?«, erwiderte Tiny Jim mürrisch. »Du hast mir befohlen, keine Geschichten zu erfinden. Warum bist du so unfreundlich?«
»Ich muss bald gehen. Ich habe nicht viel Zeit.«
»Du hast sonst nichts«, kicherte Tiny Jim.
»Und du hast nichts zu sagen, was ich hören möchte«, gab Wan gefühllos zurück. Er schaltete sie alle ab, ging zornig ins Schiff und drückte auf den Startknopf. Er kam nicht auf den Gedanken, dass er schroff zu den einzigen Freunden war, die er im ganzen Universum hatte. Es war ihm nie eingefallen, dass es auf ihre Gefühle ankam.