Suffren

Wider alle höfischen Gewohnheiten war das Geheimnis des Königs und des Grafen d'Artois gewahrt worden. Niemand wußte, wann und wie Herr de Suffren eintreffen würde. Der König hatte einen Spielabend angesetzt. Um sieben Uhr betrat er mit den Prinzen und Prinzessinnen seiner Familie die Salons. Die Königin führte die Kronprinzessin an der Hand, die gerade sieben Jahre zählte. Die Gesellschaft war glanzvoll und zahlreich.

Während man allgemein die Plätze einnahm, trat d'Artois zu Marie-Antoinette.

»Fällt Ihnen nichts auf?« fragte er mit ironischem Lächeln.

Die Königin blickte sich um.

»Wahrhaftig!« sagte sie. »Will er denn immer vor mir fliehen?«

D'Artois lachte.

»Nein, der Spaß geht weiter. Herr de Provence ist dem Gouverneur de Suffren zum Tor entgegengeeilt.«

»Aber dann begreife ich nicht, weshalb Sie lachen. So wird er doch als erster den großen Admiral begrüßen?«

»Aber Schwägerin«, erwiderte der Prinz lachend, »Sie haben keine große Meinung von unserer Diplomatie. Monsieur, unser Herr Bruder, erwartet den Gouverneur an der Barriere von Fon-tainebleau. Wir indes haben es eingerichtet, daß er auf der letzten Poststation in Villejuif abgepaßt wird. Monsieur de Provence kann sich in Fontainebleau die Beine klamm stehen, Herr de Suffren wird auf Befehl des Königs Paris umfahren und direkt in Versailles eintreffen. Aber gehen Sie jetzt zum Spiel.«

Die Königin, als sie das Spiel aufnahm, täuschte vor, vollständig bei der Sache zu sein, um die nervöse Spannung abzulenken, die in der Gesellschaft zu spüren war, obwohl außer den Eingeweihten niemand eine Ahnung hatte, weshalb.

Philippe, der zu der Partie zugelassen und seiner Schwester gegenüber plaziert worden war, erwog wider Willen die Worte seines Vaters. Er fragte sich, ob der Alte, der immerhin die Herrschaft von drei oder vier Favoritinnen erlebt hatte, Zeiten und Sitten nicht am Ende richtiger beurteilte als er. Sollte die Königin, diese schöne, stolze Frau, die ihm so schwesterlich begegnete, im Grunde doch nur eine grausame Kokette sein, begierig, ihre Erinnerungen um eine weitere Leidenschaft zu bereichern wie ein Entomologe, der einen Käfer mehr mit der Nadel in seinen Sammelkasten heftet, ohne zu bedenken, welchen Schmerz er dem gequälten Geschöpf bereitet?

Coigny, Lauzun, Vaudreuil - sie hätten die Königin geliebt und wären von ihr geliebt worden? Wie aber konnten sie dann so sorglos, wie er sie sah, in dieser Gesellschaft sich bewegen? Wenn die Königin ihn, Philippe, lieben würde, sein Glück würde ihn an den Rand des Wahnsinns treiben. Und liebte sie ihn nicht mehr, er brächte sich um vor Verzweiflung!

Prüfend blieb sein Blick an Marie-Antoinettes Stirn und Augen haften. Welches Geheimnis, oh, welches Geheimnis barg dieses Antlitz?

Unterdessen war aus den Vorsälen Bewegung vernehmlich, im Hof schlugen Gewehrkolben auf die Steinplatten, Stimmen drangen durch eine halboffene Tür herein. Der König gab der Königin einen Wink, das Spiel zu beenden. Die Höflinge wechselten fragende Blicke. Kurz, binnen wenigem trat Marschall de Castries, der Marineminister, ein und fragte mit lauter Stimme: »Wün-schen Eure Majestät, den Herrn Gouverneur de Suffren zu empfangen, der soeben aus Toulon eintrifft?«

Jetzt brach ein unbeschreibliches Gedränge an, die Menge strebte der Tür zu, durch die der Minister hinausgegangen war.

Um Frankreichs Sympathie für Herrn de Suffren zu erklären, um begreiflich zu machen, weshalb König, Königin und Prinzen wetteiferten, den Mann als erste zu begrüßen, genügen wenige Worte.

Suffren hatte in der letzten Periode des Krieges gegen England sieben Seeschlachten siegreich geführt. Er hatte Trinquemale und Gondelour erobert, den französischen Besitz gesichert, die englische Blockade gebrochen und den Nabob Hayder-Ali gelehrt, daß Frankreich die Vormacht Europas war. Er hatte sich nicht allein als Seemann bewährt, sondern auch als kluger Diplomat und Unterhändler. Kühn, unermüdlich und stolz, wo es um die Ehre der französischen Fahne ging, hatte er die Engländer zu Lande und zu Wasser so gehetzt, daß die verwegenen Beherrscher des Ozeans schließlich nicht mehr anzugreifen wagten, wo der französische Löwe die Zähne bleckte.

Suffren war ein Mann von sechsundfünfzig Jahren, klein, beleibt, mit feurigen Augen und lebhaftem Gebaren. Sein blauer Rock war goldbestickt. Der hohe Uniformkragen, der sein energisches Kinn umrundete, wirkte als obligate Ergänzung seines gewaltigen Schädels.

»Herr Gouverneur«, rief strahlend der König, »seien Sie willkommen in Versailles! Sie bringen uns den Ruhm, Sie bringen uns alles, was ein Held seinen Zeitgenossen auf Erden schenken kann. Ihnen gehört die Zukunft. Umarmen Sie mich, Herr Gouverneur.«

Auch die Königin begrüßte Herrn de Suffren überaus huldreich, und die gesamte Hofgesellschaft bekundete Freude und Begeisterung. Als der König indes den Gouverneur in sein Kabinett ziehen wollte, um als Geograph über seine Reisen und seine Expedition mit ihm zu plaudern, verhielt Herr de Suffren mit allem Respekt.

»Sire«, sagte er, »wollen Sie mir erlauben, da Eure Majestät mir so viel Güte erweisen .«

»Sprechen Sie, Herr Gouverneur!« rief der König.

»Sire, einer meiner Offiziere hat einen so schweren Verstoß gegen die Disziplin begangen, daß ich meine, Eure Majestät allein könnten in der Sache Richter sein.«

»Ich hatte gehofft«, entgegnete der König, »Ihre erste Bitte beträfe eine Gunst und nicht eine Strafe ...«

»Der Offizier, von dem ich spreche, Sire, befand sich während der letzten Seeschlacht an Bord der >Severe<.«

»Ah, das Schiff, das die Flagge gestrichen hat«, ergänzte stirnrunzelnd der König.

»So ist, es, Sire, der Kapitän der >Severe< hatte die Flagge gestrichen. Schon sandte der englische Admiral ein Boot aus, die Prise zu besetzen. Der junge Leutnant aber, der die Batterie auf dem Zwischendeck kommandierte, eilte an Deck und überschaute augenblicks die Situation. Sein französisches Blut empörte sich. Er schlug die Flagge mit einem Hammer an den Mast und ließ das Feuer wieder aufnehmen. Nur so ist Eurer Majestät die >Severe< erhalten geblieben. Dennoch ist dies ein schweres Vergehen gegen die Disziplin gewesen. Aber ich bitte Sie, Sire, diesen Offizier zu begnadigen, und ich bitte Sie um so mehr, als er mein Neffe ist.«

»Bewilligt, Herr Gouverneur, bewilligt!« rief überschwenglich der König. »Aber Sie sollten mir diesen Offizier, Ihren Neffen, unbedingt vorstellen.«

»Er ist hier«, erwiderte de Suffren, »treten Sie vor, Herr de Charny.«

Aus der Gruppe, die den Gouverneur begleitet hatte, löste sich ein junger Offizier. Die Königin, als sie ihn betrachtete, erblaßte leicht, und Andree, selbst in Erregung geraten, warf einen scheuen Blick nach ihr. Aber Georges de Charny trat zum König vor, ohne ringsum jemanden wahrzunehmen; bewegt verneigte er sich vor dem Herrscher, der ihm die Hand zum Kuß reichte. Dann kehrte Charny bescheiden und ein wenig zitternd zurück in den Kreis der Offiziere, die ihn lautstark beglückwünschten und froh umarmten.

»Apropos, Madame«, wandte sich der König an Marie-Antoinette, ehe er den Gouverneur in sein Kabinett mitzog, »Sie entsinnen sich gewiß, daß ich ein Linienschiff in Auftrag gab, das einen gewissen Namen tragen sollte .«

»Gewiß, Sire«, antwortete sie freudig, »und wir wollen es >Suffren< taufen.«

Vielstimmige Hochs beantworteten ihren Vorschlag.

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