Der Opernball

Der Ball hatte seinen Höhepunkt erreicht, als der Kardinal Louis de Rohan und Madame de La Motte unter die Tausende Dominos und Masken aller Art sich mischten.

Seite an Seite, soweit es möglich ist, in einem solchen Gewoge sich Seite an Seite zu halten, bahnten sich ein schwarzer und ein weißer Domino, groß und männlich der erste, von mittlerem Wuchs und weiblich der zweite, einen Weg nach dem ruhigeren Platz unter der Loge der Königin. Der schwarze fuchtelte wild mit den Armen und redete auf den weißen ein.

»Gib's zu, Oliva, du wartest hier aufjemand. Dein Kopf ist eine Wetterfahne, die sich in jede Richtung dreht.«

»Na und?«

»Was heißt, na und?«

»Kann ich meinen Kopf nicht drehen, wohin ich will? Dazu geht man doch hierher, oder? Also gib Ruhe.«

»Oliva!«

»Schrei hier nicht und nenn mich nicht beim Namen.«

In dem Augenblick näherte sich den beiden ein blauer Domino, ziemlich groß, ziemlich dick, und raunte dem schwarzen Worte zu, die ihn veranlaßten, nicht ohne Zögern und dennoch mit sichtlicher Hast davonzueilen.

Der blaue Domino nahm Mademoiselle Olivas Arm, nachdem der schwarze verschwunden war, und führte sie durch das Gedränge.

»Was müssen Sie dem armen Beausire erzählt haben, daß er so aufgeregt weggelaufen ist? Ich hoffe, Sie haben zu meiner Unterhaltung eine hübschere Geschichte bereit.«

»Ich kenne keine hübschere Geschichte als Ihre eigene, liebes Fräulein Nicole«, erwiderte der Blaue, indem er vertraulich den runden Arm der jungen Frau drückte, die bei dem Namen, den die Maske genannt, leise aufschrie.

»Mein Gott!« sagte sie, sofort zur Abwehr ausholend. »Was soll der Name? Wenn Sie mich damit meinen, irren Sie gewaltig; ich heiße nicht Nicole.«

»Jetzt nicht mehr, ich weiß. Jetzt heißen Sie Oliva. Nicole roch zu sehr nach Provinz, nicht wahr? Meine Beste, in Ihnen stekken zwei Frauen: Oliva und Nicole. Von Oliva werden wir noch sprechen, bleiben wir zuerst bei Nicole. Haben Sie etwa die Zeit vergessen, als Sie auf den Namen hörten? Mein liebes Kind, der Name, den man als junges Mädchen geführt hat, bleibt zumindest im Herzen immer der richtige. Arme Oliva, glückliche Nicole!«

»Arme Oliva, sagen Sie; Sie meinen also, ich bin nicht glücklich?«

»Es ist schwer vorstellbar, daß Sie mit einem Mann wie Beausire glücklich sein könnten.«

Oliva seufzte.

»Trotzdem«, sagte sie, »wenn ich ihm den Laufpaß gäbe, ich würde ihn vermissen.«

»Einen Säufer, einen Spieler, einen Mann, der Sie schlägt, einen Gauner, den man eines Tages auf dem Greveplatz rädern wird?«

»Sie verstehen das wahrscheinlich nicht, aber ich würde den Lärm vermissen, den er um mich macht.«

»Das kommt davon, wenn man seine Jugend unter schweigsamen Leuten verbracht hat.«

»Wollen Sie vielleicht ernsthaft behaupten, daß Sie meine Jugend kennen?« fragte Oliva spöttisch.

»Erinnern Sie sich der Zeit auf Taverney, als Sie Gilbert liebten?«

»Oh, mein Gott! Woher wissen Sie das?« fragte die junge Frau erschauernd, und mit tiefer Erregung suchte sie, dem blauen Domino durch seine Maske in die Augen zu blicken. Aber der Blaue blieb stumm.

»Was sind Sie für ein rätselhafter Mensch! Als Sie heute abend in meiner Wohnung auf dem Sofa saßen, hatte ich weniger Furcht vor Ihnen. Wissen Sie auch, was aus Gilbert geworden ist? So reden Sie doch! Zehn Jahre sind es, seit ich ihn nicht gesehen habe.«

»Ziemlich abenteuerliche Jahre für die unschuldige Nicole von damals.«

»Auch das wissen Sie? Nun ja, meine Liebe zu Gilbert hat mich zugrunde gerichtet. Seine Liebe ging über die arme Nicole hinaus. Aber Fräulein Andree de Ta...«

»Psst«, warnte der blaue Herr Oliva, »sprechen Sie die Namen leiser.«

»Er war so verliebt in sie. Jeder Baum in Trianon war ein Zeuge seiner Liebe. Ich habe es nicht ausgehalten. Darum bin ich damals von Trianon geflohen.«

»Um schließlich bei einem Beausire zu landen.«

»Ach«, seufzte Oliva, »wenn Gilbert wiederkäme - es gäbe keinen Beausire mehr.«

»Seufzen Sie nicht mehr nach Gilbert. Sie wissen so gut wie ich, daß er tot ist, Oliva. Glauben Sie es endlich. Und da es nicht zwei Gilberts auf der Welt gibt, freuen Sie sich auf die glänzende Zukunft, die heute für Sie begonnen hat.«

»Als Sie mich für fünfzig Louisdors gekauft haben?«

»Ich weiß, meine Teure, das ist allzu wenig«, sagte der Fremde galant.

»Im Gegenteil, Monsieur, es ist zuviel. Ich gestehe Ihnen, ich war ziemlich verblüfft, daß eine Frau wie ich noch so viel wert ist.«

»Sie sind noch viel mehr wert; ich werde es Ihnen beweisen. Tun Sie nur hübsch, was ich Ihnen sage. Jetzt zum Beispiel ...«

»Was?«

»... brauche ich meine ganze Aufmerksamkeit. Reden Sie weiter, egal, was; wir müssen nur völlig vertieft erscheinen.«

»Gut; aber Sie sind ein seltsamer Mensch.«

Und sie wandelten zwischen den verschiedenen Gruppen einher, Oliva unter dem Domino die schmale Taille, den feinen Hals auf eine Weise biegend, daß jeder Kenner bewundernde Blicke nach ihr warf; denn in diesen galanten Zeiten beobachtete man auf dem Opernball den Gang einer Frau ebenso begierig, wie heutzutage die Liebhaber auf dem Rennplatz den Lauf eines schönen Pferdes verfolgen.

»Verstellen Sie jetzt Ihre Stimme, Oliva, halten Sie den Kopf schön gerade und kratzen Sie sich mit Ihrem Fächer den Hals.«

Oliva gehorchte.

So näherte sich das Paar einer Gruppe, in deren Mitte ein Mann von eleganter Haltung und schlanker, geschmeidiger Gestalt zu drei Gefährten sprach, die ihm achtungsvoll zu lauschen schienen.

»Wer ist der schöne perlgraue Domino?« fragte Oliva.

»Der Graf d'Artois«, antwortete der Blaue, »aber schweigen Sie, um Himmels willen!«

Tief beeindruckt von dem großen Namen, wollte Oliva stehenbleiben, um besser zu sehen, doch der blaue Domino führte sie weiter, mit einigem Abstand einem Paar nach, das aus einer laut vergnügten Gruppe sich eben gelöst hatte und dem äußeren Wandelgang zustrebte.

Plötzlich trat ein orangefarbener Domino an den blauen heran und flüsterte ihm zu: »Er ist es.«

Der Blaue, der diese Meldung erwartet hatte, wie es schien, raunte seiner Begleiterin ins Ohr: »Und jetzt, kleine Freundin, wollen wir uns einen Spaß machen. Sehen Sie dort den großen schwarzen Domino stehen, der noch eben mit seiner Dame vor uns ging?«

Da Oliva bejahte, erklärte ihr der blaue Herr, jener Domino sei ein Bekannter von ihm, ein Deutscher, den er ein wenig aufziehen wolle. Er werde Oliva für eine Deutsche ausgeben, dennoch solle sie ja nicht den Mund auftun. »Fürs erste deuten Sie mit dem Fächer auf ihn, dann flüstern Sie mir etwas ins Ohr«, beendete der blaue Domino seine Anweisungen.

Oliva befolgte seine Worte mit solcher Anmut, daß ihr Begleiter entzückt war.

Der schwarze Domino bemerkte ihre Geste; er kehrte dem Saal den Rücken und fuhr fort, mit seiner Dame zu plaudern.

»Monseigneur«, sagte diese, die Olivas Gebärde ebenfalls wahrgenommen hatte, »dort kommen zwei Masken, die sich mit uns beschäftigen.«

»Oh, fürchten Sie nichts, Gräfin; man wird uns gewiß nicht erkannt haben.«

»Da, sie kommen auf uns zu, Eminenz.«

»Tarnen wir unsere Stimmen, falls man uns zum Sprechen nötigt«, sagte Herr de Rohan.

In der Tat wandte sich der blaue Domino an den Kardinal.

»Maske«, redete er ihn an.

»Was willst du?«

»Die Dame, die mich begleitet, hat mich beauftragt, dir einige Fragen zu stellen.«

»Mach schnell«, sagte Herr de Rohan.

»Und sei recht indiskret«, flötete Madame de La Motte.

»So indiskret«, war die Antwort, »daß du, Neugierige, nichts verstehst.« Und in tadellosem Deutsch fragte der Blaue, nachdem er mit Oliva geflüstert hatte: »Eminenz, sind Sie in die Frau verliebt, die Sie begleitet?«

Der Kardinal fuhr zusammen.

»Sie irren, ich bin nicht der Mann, für den Sie mich halten«, sagte er.

»Leugnen Sie nicht, Herr Kardinal, es ist vergebens; denn würde ich Sie auch nicht erkennen, die Dame, deren Kavalier ich bin, läßt Ihnen sagen, daß sie Sie genau erkannt hat.«

»Und wer ist die Dame?«

»Ich glaubte, Sie hätten es bereits erraten, Monseigneur. Allerdings, die Eifersucht .«

»Die Dame wäre auf mich eifersüchtig?« rief der Kardinal.

»Das haben wir nicht gesagt«, versetzte der Fremde hochfahrend.

»Was gibt's denn?« fragte Madame de La Motte, die nicht Deutsch verstand. Aber sie erhielt kaum Antwort. Das Geheimnis der beiden Masken reizte die Neugier des Kardinals zu sehr.

»Madame«, sagte der Kardinal zu Oliva, »sprechen Sie ein Wort, und ich werde Sie erkennen.«

»Ich beschwöre Sie, Madame, sprechen Sie nicht«, rief der blaue Domino. Aber Oliva verstand von dem Gespräch ebensowenig wie Jeanne de La Motte, nur ließ sie es sich nicht anmerken.

Nach neuem Flüstern mit ihr sagte der Blaue, als befolgte er ihre Befehle: »Herr Kardinal, gestatten Sie, daß ich Ihnen Madames Worte übermittle: Wer in Gedanken nicht beständig wacht, den geliebten anderen nicht stets im Sinne hat, der sage nicht, er liebe.«

Der Kardinal war offensichtlich verblüfft. Seine ganze Haltung bekundete im höchsten Maß Staunen, Achtung und Ergebenheit. Dann ließ er die Arme sinken.

»Das ist doch unmöglich«, murmelte er auf französisch.

»Was ist unmöglich?« fragte Madame de La Motte, an das erste Verständliche dieses Gesprächs sich klammernd.

»Nichts, Madame, nichts.«

»Monseigneur, mir scheint, Sie lassen mich hier eine traurige Rolle spielen«, sagte sie und löste sich vom Arm des Kardinals.

Er schien es nicht zu bemerken.

»Madame«, wandte er sich wieder an die Unbekannte, »diese Worte erinnern mich an ein Gedicht, das ich einst in einem Hause las, das vielleicht auch Ihnen bekannt ist.«

Der Blaue drückte Olivas Arm, und sie nickte bejahend.

»Dieses Haus war Schönbrunn?« fragte er zögernd.

Oliva nickte.

»Die Worte waren von erlauchter Hand mit einem goldenen Stichel auf einen Kirschholztisch geschrieben?«

Oliva nickte.

Die hohe Gestalt des Kardinals schwankte, er streckte die Hand suchend nach einer Stütze aus.

»Und so lautet die Fortsetzung«, sagte er, indem sein Arm sich auf den des blauen Dominos legte. »Wer aber allenthalben den geliebten anderen sieht, wer ihn gewahrt im Duften einer Blume, der kann schweigen, im Herzen bleibt sein Wort verschlossen, und für sein Glück genügt, daß des andern Herz ihn versteht.«

»Holla! Hier wird deutsch gesprochen!« rief plötzlich die frische Stimme des perlgrauen Dominos inmitten einer Vierergruppe, die den Kardinal umringte. »Verstehen Sie Deutsch, Marschall?«

»Nein, Euer Gnaden.«

»Aber Sie, Charny?«

»Gewiß, Hoheit.«

»Herr Graf d'Artois!« rief Oliva aus, sich eng an den blauen Domino schmiegend, denn die vier Masken hatten sie ein wenig zu ungezwungen umstellt.

In dem Augenblick setzte mit schmetternden Fanfaren das Orchester ein, und Staub und Puder stiegen in schillernden Wol-ken zu den Lüstern empor. Die Masken wurden noch enger zusammengedrängt.

»Geben Sie Obacht, meine Herrn!« rief der Blaue gebieterisch.

»Monsieur, Sie sehen doch, daß wir gestoßen werden. Um Vergebung, meine Dame«, entgegnete der Perlgraue.

Da plötzlich wurde von unsichtbarer Hand Olivas Kapuze abgezogen, und ihre Maske fiel. Eine Sekunde lang waren ihre Züge im dämmrigen Licht der Galerie sichtbar.

Der blaue Domino stieß einen Schrei erheuchelter Besorgnis aus, Oliva schrie auf vor Schreck. Laute tiefster Überraschung der vier Maskierten antworteten ihnen.

Der Kardinal war einer Ohnmacht nahe. Madame de La Motte stützte ihn.

Ein Maskenstrom trennte den Grafen d'Artois und seine Begleiter von dem Kardinal und Jeanne.

Blitzschnell hatte unterdes der blaue Domino Olivas Kapuze hochgezogen und ihre Maske wieder befestigt. Dann trat er auf den Kardinal zu und drückte ihm die Hand.

»Monsieur«, sagte er, »es ist ein furchtbares Unglück geschehen. Sie sehen, die Ehre dieser Dame ist Ihrer Diskretion preisgegeben.«

Herr de Rohan verneigte sich und trocknete mit zitternder Hand den Schweiß auf seiner Stirn.

Der Blaue und Oliva entschwanden.

Jetzt begreife ich, sagte sich Jeanne de La Motte, der Kardinal hat diese Frau für die Königin gehalten. So also beeindruckte ihn diese Ähnlichkeit!

»Wollen wir aufbrechen, Gräfin?« fragte der Kardinal mit schwacher Stimme.

»Wie Ihnen beliebt, Eminenz.«

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