Die Flucht

Die Glocken von Saint-Paul schlugen elf Uhr, und der Uferwind trug die gemessenen Klänge zur Rue Saint-Claude herüber, als Jeanne mit einer Postkutsche, die mit vier kräftigen Pferden bespannt war, in die Rue Saint-Louis einfuhr. Ein Mann, der auf dem Bock saß und in einen Mantel gehüllt war, bezeichnete dem Postillon das Haus, vor dem er warten sollte. Dann wandte er sich nach seiner Herrin um.

»Gut, Herr Reteaux«, sagte Jeanne, »eine halbe Stunde wird genügen. Ich hole jemand, den Sie für doppeltes Trinkgeld nach meinem Landgut in Amiens führen lassen. Sie übergeben die Person meinem Pächter Fontaine, der weiß, was er zu tun hat. Die Dame wird von einem Narren verfolgt. Sollte sich Ihnen jemand in den Weg stellen, dann schießen Sie. Sie haben zwanzig Louisdors Entschädigung verlangt, ich gebe Ihnen hundert und zahle Ihnen überdies die Reise nach London. Erwarten Sie mich dort. Ich komme bald nach. Hier ist das Geld, und nun gute Reise!«

Reteaux küßte der Gräfin die Hand. Dann stieg er in den Wagen, während Jeanne leichtfüßig in die Rue Saint-Claude zu ihrer Wohnung lief.

In dem harmlosen Viertel lag schon alles in tiefem Schlaf. Jeanne zündete eine Kerze an und hielt sie eine Zeit zum Balkon hinaus. Gleich würde Oliva das Haus verlassen. So war es verabredet.

Oliva zur Flucht zu bewegen war Madame de La Motte nicht schwergefallen. Die Leichtgläubige vertraute ihrer Freundin zu sehr, um Böses zu vermuten. Von ihrem großzügigen, aber gleichbleibend höflichen Beschützer hatte sie nichts weiter zu erwarten, das wußte sie. Ihr goldener Käfig hatte Reiz für sie gehabt, solange jene nächtlichen Spiele dauerten. Mit dieser Abwechslung aber sollte es aus sein. Dann lieber fort aufs Land, wo sie freier leben und versuchen konnte, ihren Liebsten wiederzufinden. Hier würde sie doch nur versauern. Und Jeanne war erfreut, daß ihr Opfer ihr so wenig Widerstand entgegensetzte.

Jeanne schaute zu Olivas Wohnung hinüber. Alle Fenster waren verhängt und dunkel.

»Das Mädchen ist vorsichtig«, murmelte Jeanne, »sie kommt sogar herunter, ohne Licht zu machen.«

Ihrer Sache gewiß, kehrte sie zurück auf die Straße. Aber niemand kam. Offenbar hatte sich Oliva mit lästigem Gepäck beladen.

Wie ärgerlich, dachte Jeanne, wir verlieren Zeit, weil sie sich nicht von ihren Lumpen trennen kann.

Eine Viertelstunde verging. Jeanne lief zum Boulevard, um von dort zu sehen, ob Olivas Fenster jetzt erleuchtet wären. Tatsächlich meinte sie, hinter den Vorhängen eines Fensters einen Lichtschein wahrzunehmen.

Ob sie mein Signal nicht gesehen hat? fragte sie sich, und wieder lief sie hinauf in ihre Wohnung und erneuerte das Zeichen mit der Kerze.

Nichts rührte sich dort drüben, und Jeanne kam die Sorge an, daß etwas schiefgegangen sei. Aber sie muß heute fort, dachte sie, lebendig oder tot. Wie eine verfolgte Löwin stürzte sie die Treppe hinunter und eilte zum Tor des Hauses Cagliostro. Sie hielt den Schlüssel bereit, zögerte aber, sich unbekannter Gefahr auszuliefern. Erst das Stampfen der Pferde, die an der Straßenecke warteten, trieb sie vorwärts.

Sie schloß auf, durcheilte den Hof und die unteren Räumlichkeiten. Von Oliva in die Geheimnisse des Hauses eingeweiht, fand sie die Treppe und stand bald vor Nicoles Wohnung.

Durch einen Türspalt gewahrte sie gedämpftes Licht. Leichte Geräusche waren zu vernehmen. Jeanne hielt den Atem an und lauschte. Niemand sprach. Oliva war also allein. Sie hatte sich nur verzögert.

Jeanne klopfte.

Schritte näherten sich, die Tür ging auf, und grelles Licht von einem dreiarmigen Leuchter fiel auf Jeanne.

»Ah, die Frau Gräfin de La Motte«, sagte eine männliche Stimme.

»Herr de Cagliostro!« stammelte Jeanne entsetzt.

»Erlauben Sie, Madame, daß ich läute und meinen Pförtner bestrafe, weil er so ungezogen war, eine Dame Ihres Ranges nicht gebührlich ins Haus zu führen.«

»Ach, strafen Sie ihn nicht«, bat Jeanne, die die Falle nicht ahnte.

»Aber er war es doch, der Sie eingelassen hat, nicht wahr? Er neigt zum Trunk, der Flegel. Gewiß hat er nicht einmal gemerkt, daß er Sie einließ. Doch damit genug. Jetzt seien Sie so gütig, mir zu sagen, welchem Umstand ich die Ehre Ihres Besuches verdanke, Madame?«

Obgleich nun entschuldigt für ihr unerlaubtes Eindringen in dieses Haus, war Jeanne, die sonst so geistesgegenwärtige Jeanne, nicht in der Lage, dem Grafen einen plausiblen Grund zu nennen. Sie stotterte Unzusammenhängendes vom Kardinal Rohan, und Cagliostro war grausam genug, sie zappeln zu lassen wie einen armen kleinen Fisch an der Angel.

Schließlich beendete er ihre hilflosen Ausreden, indem er ihr auf den Kopf zu sagte, daß es in diesem Hause gar keinen Pförtner gab, daß sie einen Nachschlüssel benutzt hatte, den er ihr aus der

Tasche zog, und daß sie in Wahrheit die Frau suche, die er aus Güte hier verborgen habe.

»Und wenn dem so wäre?« entgegnete Jeanne leise. »Wäre das ein Verbrechen? Ist es einer Frau nicht erlaubt, eine andere zu besuchen? Rufen Sie sie doch, damit sie Ihnen bestätigen kann, daß unsere Freundschaft das Licht nicht zu scheuen braucht.«

»Madame, Sie sagen das, weil Sie genau wissen, daß sie nicht mehr hier ist«, erwiderte Cagliostro. »Wie? Sie ist nicht mehr hier?« »Sie selbst haben an ihrer Entführung mitgewirkt.« »Ich? An ihrer Entführung?«

Cagliostro nahm ein Blatt vom Tisch und zeigte es der Gräfin.

»Hier ist der Beweis«, sagte er. Und Jeanne las:

»Mein edler Herr Beschützer, verzeihen Sie mir, daß ich Sie verlasse. Ich liebe Beausire, wie Sie wissen. Er holt mich ab, und ich folge ihm. Leben Sie wohl und empfangen Sie meine große Dankbarkeit.«

»Beausire!« rief Jeanne verblüfft. »Er kannte doch ihre Adresse gar nicht!«

»Doch, Madame«, sagte Cagliostro, »dieses Papier fand ich auf der Treppe; es wird Herrn Beausire aus der Tasche gefallen sein.« Dieses Billett lautete:


»Herr Beausire findet Fräulein Oliva in der Rue Saint-Claude an der Ecke des Boulevards. Er möge sie sofort mit sich nehmen. Diesen Rat erteilt ihm eine aufrichtige Freundin. Es eilt!«


»Ja, und nun hat er sie mitgenommen«, sagte Cagliostro ruhig.

»Und wer hat diese Zeilen geschrieben?« fragte Jeanne. »Offenbar Sie, die aufrichtige Freundin.« Cagliostro lächelte undurchdringlich.

Jeanne gab sich durch eine Übermacht geschlagen und floh. Ihr fein gesponnenes Netz hatte den ersten Riß bekommen.

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