Mesmer

Mesmerismus war 1784 das Wort, das vor allen anderen die Köpfe erhitzte. Es bezeichnete eine geheimnisvolle Wissenschaft, aus der ihr Erfinder eine neuartige Heilmethode abgeleitet hatte. Sie populär zu machen bemühte er sich indes nicht. Wozu? Das Volk, das von den Regierenden seit hundertfünfzig Jahren nicht mehr zu Rate gezogen worden war, galt nichts im Staat; es war der fruchtbare Boden, der reichen Ertrag abzuwerfen hatte; Herr über den Boden war der König; die Ernte aber führte der Adel in die Scheuer.

Doktor Mesmer, 1777 aus Deutschland, dem Land der nebligen Träume, gekommen, hatte dort zunächst mit einer These über die astralen Einflüsse auf das Nervensystem aufgewartet. Aber seine Theorie war zu abstrakt und zu schwierig gewesen, um Erfolg zu haben, eine Vermischung kompliziertester astronomischer Fakten und astrologischer Phantastereien. Also wandte er sich dem Studium der Magnete zu. Der Magnetismus stand derzeit im Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses, denn seine sympathischen und antipathischen Wirkungen schienen den Mineralen ein Leben, ähnlich dem menschlichen, zu verleihen. Sah es nicht aus, als reagierten sie gemäß den großen menschlichen Leidenschaften, Liebe und Haß? Man war folglich bereit, dem Magnetismus erstaunliche Heilwirkungen zuzugestehen. Mesmer verband den Magnetismus mit seiner Astraltheorie und erhoffte sich davon den großen Durchbruch. Leider traf er in Wien auf einen etablierten Rivalen, einen gewissen Hall, der behauptete, Mesmer habe sein Verfahren schlechthin gestohlen.

Als phantasievoller Mann gab Mesmer den mineralischen Magnetismus sofort auf und verfiel, dem Wirken des uns bereits bekannten Joseph Balsamo nachspürend, auf den animalischen Magnetismus. Das Wort klang neu, die Geheimnisse des animalischen Magnetismus jedoch waren schon den ägyptischen und griechischen Priestern bekannt gewesen. Doch wie dem sei, als Doktor Mesmer nach Paris kam, heilte er binnen drei Monaten ein siebzehnjähriges Mädchen von einer Leberkrankheit und einer Lähmung des Sehnervs. Und nach etlichen Widrigkeiten, die aus dem Neid von Kollegen sowie aus der Knauserigkeit des Königs und seines Finanzministers erwuchsen, konnte Mesmer schließlich in Paris festen Fuß fassen.

Die Zeit war ihm günstig. Der Mesmerismus machte Furore, gerade weil er voller Rätsel war. In Zeiten, die großen Umwälzungen vorangehen, sind die Geister in fiebriger Erregung. Ob man die Veränderung herbeiwünscht oder davor zurückschreckt, alles spürt voll Unruhe das nahe Ende des Bestehenden. Frankreich befand sich in einem solchen Stadium. Man suchte Sensationen. Wer immer sie bot, war willkommen. Das Erscheinen einer neuen Oper beschäftigte die Gemüter mehr als der Friedensvertrag mit England oder die Anerkennung der Vereinigten Staaten. Nachdem die Philosophen dafür gekämpft hatten, daß man die Wahrheit der Dinge erkenne, war man dieser Wahrheit, die zugleich Desillusio-nierung brachte, dieser Erkenntnisse des Möglichen leid und suchte die Grenzen der Wirklichkeit zu durchbrechen, in die Welt der Träume und Mysterien vorzudringen.

So wurden die Franzosen auf schier unwiderstehliche Weise von jenem rätselvollen Mesmerischen Fluidum angelockt, das nach Behauptung der Anhänger dieser Lehre die Kranken gesund, die Narren verständig und die Verständigen närrisch machte.

Überall sprach man von Mesmer. Was hatte er getan? Welchem hohen Herrn hatte er die Sehkraft wiedergegeben? Welcher von Ausschweifung zerrütteten Dame hatte er die Lebensgeister neu gestärkt? Welches junge Fräulein hatte er in einer Nervenkrise die Zukunft sehen lassen?

Die Zukunft - magisches Wort, die große Neugier aller Zeiten, Lösung sämtlicher Probleme! Was war dagegen die Gegenwart?

Ein Königtum, das seine Strahlen eingebüßt hatte, eine Oberschicht, die keine Autorität mehr genoß, ein Land ohne wirtschaftliche Blüte, ein Volk ohne Rechte, eine Gesellschaft ohne Zuversicht, ohne Selbstvertrauen.

All das vergessen, nur an sich selber denken, aus neuen, wunderbar anmutenden Quellen die Gewißheit längeren Lebens und unzerstörbarer Gesundheit schöpfen, dem geizigen Himmel etwas entreißen - war das nicht das Ziel des leicht begreiflichen Strebens nach dem Unbekannten, von dem Mesmer ein Stück entschleierte?

Voltaire war tot; es gab in Frankreich kein Gelächter mehr, ausgenommen das von Beaumarchais, aber es war weit bitterer als das des Meisters. Rousseau war tot; es gab in Frankreich keine religiöse Philosophie mehr. Rousseau hatte Gott bestehen lassen wollen; aber seit Rousseau nicht mehr war, traute sich niemand eine solche Aufgabe zu, ihre Schwere hätte ihn zermalmt.

Was Wunder also, daß man um Mesmers Bottich zusammenströmte, ob krank, ob gesund, wie zu einem faszinierenden Schauspiel. Wir erinnern uns, sogar die Königin wollte sehen, was alle Welt anzog.

Zwei Tage nach dem Besuch des Kardinals bei Jeanne de La Motte machte sich Marie-Antoinette in Begleitung der Prinzessin de Lamballe dorthin auf den Weg. Wie aber war auch Madame de La Motte auf die Idee gekommen, am selben Tag auf der

Place Vendome vor dem noblen Haus des Doktors Mesmer auszusteigen?

Schon dunkelte es. Das Haus war hell erleuchtet. Zwei- bis dreihundert Neugierige drängten sich um die Auffahrt, wo eine Menge Gefährte aller Art bereits standen oder noch haltmachten.

Die Kranken, fast ausnahmslos reiche Leute, fuhren in wappengeschmückten Equipagen vor, ließen von ihren Lakaien sich heraustragen, und diese vornehmen Krüppel in ihren teuren Pelzen waren kein geringer Trost für die ausgehungerten, armselig bekleideten Schaulustigen: sie labten sich an dem sichtbaren Beweis, daß das Schicksal die Gebrechen dieser Erde verteilt, ohne auf Stammbäume Rücksicht zu nehmen.

Da die Menge die adligen Herren und Damen, die bei Mesmer Heilung von den Folgen ihrer leichtfertigen Lebensweise oder von sonstigen Leiden suchten, zumeist leicht erkannte und ihre Namen laut verbreitete, trug so mancher der Ankommenden eine Maske vor dem Gesicht. Überdies war an diesem Abend Opernball, und nicht wenige gedachten, von Mesmers Künsten neu belebt, von der Place Vendome geradewegs zur Oper zu eilen.

Ebenfalls maskiert, betrat Jeanne das Haus. Die kleine goldene Dose, die den Kardinal so erstaunt hatte, trug sie bei sich. War das Zufall?

Wer in den Vorzimmern bei den diensthabenden Geistern des Hauses sich ausgewiesen hatte, wurde in einen Saal eingeführt, in den die hermetisch geschlossenen Fenster weder das Tageslicht noch die Geräusche der Außenwelt dringen ließen. Mitten in dem Saal, unter einem Kronleuchter, der spärliches Licht verbreitete, stand der geheimnisumwobene große metallene Bottich, mit einem Deckel verschlossen.

Was enthielt er? Nichts leichter zu sagen.

Er war fast bis oben mit schwefelhaltigem Wasser angefüllt. Das Wasser konzentrierte seine Ausdünstungen unter dem Deckel. Zugleich speiste es etliche am Boden des Gefäßes umgekehrt aufgereihte Flaschen.

So ergab sich eine Kreuzung geheimnisvoller Strömungen, von deren Einfluß die Kranken sich Heilung erhofften.

Dem Deckel war ein eiserner Ring aufgelötet, an dem eine lange Schnur befestigt war, deren Bestimmung wir erfahren, indem wir einen Blick auf die Kranken werfen.

Diese, Männer wie Frauen, saßen bleich und matt rings um den Bottich in Lehnstühlen und erwarteten gleichmütig, ernst oder unruhig, daß an ihnen ein Wunder sich vollzöge.

Ein Gehilfe nahm die Schnur, wickelte sie jedem Patienten nacheinander als Ring um die kranken Glieder und bildete derweise eine Kette, durch die die Wirkung der heilbringenden Elektrizität sich fortpflanzen sollte. Überdies mußten auf Geheiß des Doktors die Kranken einander mit den Ellbogen oder Schultern berühren, um die Strömung der animalischen Fluida nicht zu unterbrechen. Dann wies der Mann, ehe er sich zurückzog, einem jeden der zwanzig bis dreißig Umsitzenden einen Eisenstab zu, der mit dem Bottich verbunden war und den ein jeder zu einem bestimmten Zeitpunkt mit der Spitze gegen sein Herz oder den Kopf oder den besonderen Sitz seines Leidens drücken sollte.

Sowie die Sitzung eröffnet war, begann sanfte, allmählich durchdringende Wärme in dem Saal sich zu verbreiten. Sie ließ die gespannten Nervenfibern der Patienten erschlaffen; nach und nach stieg sie zur Decke empor, und bald lud sie sich auf mit köstlichen Düften, denen auch die widerspenstigsten Gehirne betäubt sich beugten.

Die Zuschauer, die zahlreich in dem Saal zugegen waren, sei es aus Interesse an der Mesmerischen Methode, sei es, um die Kranken zu beobachten, sahen, wie diese der wohligen Atmosphäre sich ganz überließen, als nun von unsichtbaren Musikern und ihren Instrumenten süße, vibrierende Klänge ausgesandt wurden. Sie wirkten mit unwiderstehlicher Macht auf die Nerven. Es war, als hätte die Natur selber sie hervorgebracht, so fremd, so wunderbar, wie sie sogar Tiere zu bezaubern vermögen, Klage des Windes in klingenden Felsensäulen.

Bald mischten sich Stimmen in die zauberischen Klänge, und auf allen Gesichtern, die zuerst nur Überraschung gezeigt, malte sich nach und nach Befriedigung. Die Seele gab nach; sie verließ den Schlupfwinkel, worin sie sich verbirgt, wenn körperliche Leiden sie befallen, und breitete sich frei und beglückt über den ganzen Organismus aus; sie beherrschte die Materie.

Dies war der Augenblick, da jeder Kranke den Eisenstab ergriff und ihn mit den Fingern an den besonderen Sitz seines Leidens drückte.

Man stelle sich vor, wie auf alle Gesichter, die anfangs Leiden, Mattigkeit und Angst verraten hatten, nun vollends Glückseligkeit, entrücktes Insichversenken trat, man stelle sich das Schweigen vor, von Seufzern unterbrochen, das über der Versammlung lag!

Jeanne de La Motte hatte unter den Zuschauern einen Standort nahe der Tür gewählt, von dem sie sah, ohne gesehen zu werden. Wie alle Schaulustigen blickte sie mit besonderer Aufmerksamkeit nach einer schönen jungen Frau in der Schar der Patienten. Mit dem Eisenstab, den sie heftig an ihren Kopf und ihren Magen preßte, brachte sie sich selbst die stärksten Dosen des Fluidums bei, begann, die schönen Augen zu rollen, als ob alles in ihr verschmachtete, und ihre Hände zitterten unter dem ersten nervösen Prickeln, das die Übertragung des magnetischen Fluidums anzeigt.

Wenn sie den Kopf auf die Rücklehne warf, konnten die Anwesenden nach Gefallen die blasse Stirn, die zuckenden Lippen und den schlanken Hals betrachten, der alsbald durch die raschere Blutzirkulation sich mit Flecken überzog.

Was unter den Zuschauern jedoch einige den anderen zuflüsterten und die Aufmerksamkeit für die konvulsivisch erregte Frau erhöhte, bewegte auch Jeanne.

War dieses Gesicht, sooft es seine Züge auch verwandelte, nicht genau das jener Dame von der Versailler Wohlfahrtsstiftung, der sie ihren Reichtum verdankte? Und begierig näherte sie sich der Kranken.

In dem Augenblick schloß die Konvulsionärin die Augen, verzerrte den Mund und schlug fahrig mit den Händen um sich.

Aber diese Hände waren durchaus nicht die feinen, schmalen Hände von wächserner Weiße, die Madame de La Motte an ihrer Besucherin bewundert hatte.

Durch die Übertragung von einem zum anderen waren unterdessen die meisten Patienten von der elektrischen Krise erfaßt. Seufzer, Gemurmel, Schreie wurden hörbar; Arme, Beine, Köpfe bewegten sich unbewußt wie zuvor bei der jungen Frau. Jetzt erschien ein Mann in dem Saal. Niemand hatte ihn eintreten sehen; sein fliederfarbener Rock, sein mildes Auge, sein schönes blasses Antlitz, klug und heiter zugleich, gaben seinem Auftritt etwas beinahe Göttliches. Er hielt einen langen Stab in der Hand, mit dem er den berühmten Bottich berührte.

Er gab ein Zeichen: die Türen öffneten sich, und zwanzig kräftige Diener ergriffen gewandt die Patienten, die auf ihren Lehnstühlen das Gleichgewicht zu verlieren begannen, und trugen sie binnen einer Minute in den benachbarten Saal.

Während dieses Vorgangs, der interessant geworden durch den Paroxysmus unumschränkter Glückseligkeit, dem die junge Kon-vulsionärin hingegeben war, hörte Madame de La Motte, die mit den übrigen Neugierigen sich dem zweiten Saal genähert hatte, einen Mann rufen: »Das ist sie! Natürlich ist sie das!«

Jeanne wollte den Herrn eben fragen, wen er mit »sie« meine, als sie, dem raschen Auge des Mannes folgend, zwei Damen gewahrte, die eben den ersten Saal betraten, hinter sich in eini-gem Abstand einen Mann, der als vertrauter Diener erkennbar war, obschon er bürgerliche Kleidung trug. Die Haltung einer der beiden Frauen, ihr Gesicht, so verhüllt es von einer Haube und einem hochgestellten Kragen war, verblüfften Jeanne der-weise, daß sie nähertreten wollte. Doch ein wilder Aufschrei der Elektrisierten im Nebensaal lenkte sie erneut dorthin. Da hörte sie denselben Mann, der soeben gesprochen, dumpf und geheimnisvoll aufs neue sagen: »Aber meine Herren, sehen Sie doch, das ist die Königin!«

»Die Königin!« wiederholten erstaunte Stimmen.

»Die Königin bei Mesmer! Unmöglich.«

»Und doch, die Ähnlichkeit ist unverkennbar!«

»Die Königin in einer Krise!«

Damit wandte sich der Mann weiteren Gruppen zu, denen er die gleiche Mitteilung zuraunte.

Jeanne wandte sich von dem skandalösen Schauspiel ab, das die Konvulsionärin bot, und eilte den beiden Damen zu, die jetzt voll Interesse den Bottich samt Zubehör betrachteten. Sie riß ihre Maske ab und trat erregt vor die Dame hin.

»Erkennen Sie mich?« fragte sie.

Die Frau unterdrückte sichtlich eine Bewegung.

»Nein, Madame«, antwortete sie befangen.

»Aber ich erkenne Sie, und zum Beweis dafür sehen Sie dies.«

Damit zog Jeanne die goldene Dose aus der Tasche.

»Sie haben sie bei mir vergessen, Madame.«

»Und wäre dem so, weshalb sind Sie so aufgeregt?«

»Ich bin erschrocken über die große Gefahr, der Eure Majestät an diesem Ort sich aussetzen.«

»Erklären Sie sich.«

»Nicht bevor Sie diese Maske angelegt haben.«

Und Jeanne drängte die Königin, die peinlich berührt zögerte, ihre Seidenmaske zu nehmen.

»Um Himmels willen, tun Sie es, und dann rasch fort.«

»Ja aber ...«, erwiderte die Königin, indem sie die Maske anlegte, »sagen Sie doch, um was es geht.«

Aber Jeanne zog die Damen so behende mit sich, daß sie erst vor dem Haus zu Atem kamen.

»Majestät ist von niemand gesehen worden?« fragte sie.

»Ich denke nicht. Aber erklären Sie endlich ...«

»Bitte, Majestät, glauben Sie für den Augenblick Ihrer getreuen Dienerin, eilen Sie fort, und erlauben Sie, daß ich Eurer Majestät mein Verhalten begründe, sofern Sie geruhen wollten, mir eine Audienz zu gewähren.«

Die Königin wechselte einen Blick mit Madame de Lamballe, die ihrerseits sehr geneigt schien, Jeannes Warnung zu befolgen.

»Schön«, sagte die Königin, »bringen Sie mir die Dose und verlangen Sie den Pförtner Laurent; er wird unterrichtet sein.«

Weber war mit der Kutsche im Nu zur Stelle, und die Damen fuhren davon.

So weit, so gut, sagte sich Jeanne befriedigt, bedenken wir jetzt das weitere.

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