Ein Interieur

Trauen wir dem Gedächtnis des Lesers zu sehr, wenn wir hoffen, er werde sich noch der Rue Saint-Claude erinnern? Jener einsamen, wenig reinlichen, wenig bebauten, aber ehrbaren Straße im Marais-Viertel, wo der große Physiker Joseph Balsamo mit seiner Lorenza und seinem Meister Althotas gewohnt hatte und wo noch so manche Person dieser Erzählung anzutreffen sein wird?

Freilich, Balsamo war unterdes spurlos verschwunden. Sein Haus, das die kleine Straße einst durch seine hohen Fenster mit nahezu aristokratischem Lichterglanz erfüllt hatte, stand jetzt schwarz und verödet. Blickte ein Neugieriger durch das Schlüsselloch im Torweg, sah er nur mehr ringsum brandgeschwärzte Mauern, und vielleicht strich, ihrer unumstrittenen Herrschaft sicher, eine fette Ratte gemächlich über den verwahrlosten Innenhof.

Doch überlassen wir vorerst dieses Gebäude seinem Verfall und wenden wir uns einem schmalen weißgetünchten Nachbarhaus zu, wo wir in der fünften Etage zu tun haben. Durch ein finsteres Stiegenhaus und zum Schluß sogar über eine schlichte, an die Mauer gelehnte Holzleiter gelangen wir in den obersten Stock. An der Tür hängt ein Rehfuß zum Läuten. Durch einen kahlen Vorraum gelangen wir in ein Zimmer, dessen Ausstattung unsere Aufmerksamkeit verdient.

Steinfliesen statt eines warmen Holzfußbodens, grob angepinselte Türen, zerschlissene, ausgemergelte Polstermöbel. Indes lenken eine Kerze und eine Lampe auf dem Kaminbord unseren Blick auf zwei Porträts, die an den Wänden hängen. Das erste, das unter einem Barett ein längliches, fahles Gesicht mit matten Augen und einem Spitzbart über einer Halskrause zeigt, erkennen wir leicht: es ist Heinrich III., König von Frankreich und Polen. Auf dem unteren Rand des abgeblätterten Goldrahmens steht zu lesen: Henri de Valois.

Das zweite Bildnis, jüngst vergoldet und ebenso frisch wie das andere verstaubt, stellt eine junge Frau mit intelligenten, dunklen Augen, einer feinen, geraden Nase, energischen Bakkenknochen und einem Mund dar, der Gefühle klug zu beherrschen weiß. Ihr Haupt ziert ein Gebäude aus Haaren und Seidenbändern, das im Vergleich zu dem flachen Barett des Königs wie eine Pyramide neben einem Maulwurfshügel erscheint. Unter diesem Porträt liest man in schwarzen Lettern: Jeanne de Valois.

Zwischen Kerze und Lampe, möglichst weit den Fenstern, durch die der eisige Wind pfiff, saß an einem schäbigen Eichentischchen eine junge Frau, mehr als schlicht gekleidet, den Kopf in der aufgestützten Linken, und kontrollierte die Adressen mehrerer versiegelter Briefe. Blicken wir sie genau an: diese Frau ist das Original des soeben beschriebenen Porträts.

Jeanne de Valois, haben wir gelesen. Sie war also aus königlichem Geschlecht? Jenem Geschlecht, das der große Henri Quatre vom Thron gefegt hatte? Wie aber war sie in dieses Elend geraten, während der übrige Hochadel des Landes am Hof zu Versailles das annehmlichste Wohlleben genoß?

Offenbar war der jungen Frau dieser Widerspruch selbst unerträglich, denn ihren gemurmelten Worten ließ sich entnehmen, daß all die Briefe, die sie in den feinen klammen Händen bewegte, hart gesagt, Bettelbriefe um Geld an verschiedene Persönlichkeiten des Versailler Hofes waren, daß sie seufzend im voraus summierte, wie wenig diese Bittgesuche ihr eintragen mochten, und daß sie von dem wenigen erhofften Geld noch ein Erkleckliches an Droschkenfahrten zu persönlichen Vorsprachen zu wenden gedachte.

Plötzlich aufhorchend, unterbrach sie ihre Rechnereien.

»Frau Clothilde«, wandte sie sich an eine alte Dienerin, die vor dem erloschenen Kamin sich die Hände rieb, »es läutet.«

»I wo, Madam«, war die Antwort. Diener armer Leute sind wenig diensteifrig.

»Es läutet, gehen Sie nachsehen«, beharrte die Dame.

Widerwillig schlurfte die Alte hinaus.

Jeanne raffte hastig die Briefschaften zusammen und ließ sie in einer Schublade verschwinden.

»Wohnt hier die Gräfin de La Motte?« hörte sie draußen eine vornehm klingende weibliche Stimme fragen.

»Die Frau Gräfin de La Motte-Valois, ja«, bestätigte Frau Clothilde, »sie ist zu leidend, um auszugehen.«

»Sie können heraufkommen, Madame, wir sind hier richtig«, ließ sich dieselbe Stimme vernehmen.

Rasch setzte sich Jeanne in einen Lehnstuhl, um den Besucherinnen den Ehrenplatz auf dem armseligen Sofa anzubieten.

»Wen darf ich melden?« fragte Frau Clothilde.

»Eine Dame der Versailler Wohlfahrtsstiftung«, antwortete eine andere Stimme. Wir haben sie bereits gehört, als sie dem Kutscher Weber ihre Befehle gab.

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