Jeanne de La Motte-Valois

Jeannes erste Sorge, als sie schicklicherweise aufblicken durfte, war die, ihre Besucherinnen mit flinken Augen prüfend zu betrachten.

Die Ältere mochte etwa dreißig, zweiunddreißig Jahre zählen. Sie war von beachtlicher Schönheit, wiewohl der hochmütige Ausdruck ihrer Züge sie um einen Teil ihres Liebreizes beraubte. Im übrigen hatte sie den Pelzkragen hochgeschlagen und ihren Platz so gewählt, daß ihr Antlitz von der Lampe beschienen wurde.

Die Jüngere, von bezaubernder Anmut und Schönheit, zeigte sich weniger scheu.

»Madame«, eröffnete sie das Gespräch, - »ich sage Madame, denn ich glaube, Sie sind vermählt?«

»Ich habe die Ehre, die Gattin des Grafen de La Motte zu sein, eines ausgezeichneten Edelmannes.«

»Nun denn, Madame, man hat uns, Ihre Situation betreffend, Dinge mitgeteilt, die unsere Teilnahme erregten, und wir sind gekommen, Genaueres darüber und über Sie selbst zu erfahren.«

»Meine Damen«, begann nach wohlgesetzter Pause die Angeredete, »Sie sehen hier das Bildnis Heinrichs III. Er war der Bruder meines Ahnherrn. Ich bin in der Tat, wie man Ihnen mitgeteilt haben dürfte, vom Blut der Valois.« Mit stolzer Bescheidenheit erwartete sie weitere Fragen.

»Ist es wahr, daß Ihre Frau Mutter ursprünglich Concierge eines Hauses in Bar-sur-Seine war?« fragte die ältere Dame.

Jeanne errötete, erwiderte aber sofort: »Das ist wahr, Madame. Meine Mutter, Marie Jossei, war überaus schön; mein Vater, ein direkter Abkomme der Valois, verliebte sich so sehr in sie, daß er sie heiratete. Aber - es ist beschämend, das sagen zu müssen, Madame - meine Mutter hat dem erlauchten Namen, den sie derweise gewann, keine Ehre gemacht, vielmehr hat sie meinen Vater ruiniert, bis er schließlich im Spital der Ärmsten der Armen, im Hotel-Dieu hier zu Paris, verstarb.«

Beide Damen stießen vor Überraschung einen leisen Schrei aus, während Jeanne gefaßt, mit gesenktem Blick, sitzen blieb. Die Ältere musterte sie eindringlich, und da sie aus Jeannes schlichter Haltung auf keinerlei Hochstapelei oder Unlauterkeit schließen konnte, fuhr sie fort:

»Nach allem, was Sie uns da sagen, Madame, müssen Sie großes Unglück erlitten haben, zumal Ihr Herr Vater ...«

»Oh, wenn ich Ihnen mein Leben erzählen wollte, Madame, würden Sie wohl finden, daß der Tod meines Vaters nicht das grausamste Unglück war, das mich getroffen hat, daß ich vielmehr seinen Tod als eine Erlösung aus allem Leid unserer Familie betrachte, und ich sage dies als liebende, pietätvolle Tochter«, setzte sie hinzu, als sie das mißbilligende Stirnrunzeln der älteren Dame gewahrte.

»Wäre es indiskret, Sie um weitere Einzelheiten zu bitten?« fragte mit leisem Schauder die Jüngere.

Jeanne schlug die Augen nieder und fuhr nach einem Seufzer fort:

»Meine Mutter, wie ich bereits sagte, hat meinen Vater ruiniert, indem sie ihn veranlaßte, seinen Landbesitz zu verkaufen und mit der Familie nach Paris überzusiedeln, um hier seine Rechte geltend zu machen. Meine ältere Schwester wurde am Vorabend unserer Übersiedlung vor der Tür ihres Paten, eines Pachtbauern, ausgesetzt. Die Reise und die erste Zeit unseres Aufenthalts in Paris verschlangen unsere letzten Barmittel. Mein Vater erschöpfte sich in demütigenden Bittgängen, die alle vergeblich waren, und erkrankte. Meine Mutter hielt mir täglich vor, ich sei eine unnütze Esserin, und bald hatte sie mir unter Schlägen einen Satz eingebleut, mit dem sie mich auf die Straßen betteln schickte: Haben Sie Mitleid mit einer armen Waise, die in direkter Linie von Henri de Valois abstammt. Aber dieser Satz trug mir kaum etwas Gutes ein. Manche Leute erbarmten sich meiner, ja, aber andere wurden zornig oder drohten, mich anzuzeigen. Ich kannte jedoch keine größere Gefahr, als mit leeren Händen vor meine Mutter zu treten. Sie schlug mich dann bis aufs Blut. Als mein Vater wegen unserer Armut ins Hotel-Dieu kam und dort starb, ging meine Mutter mit einem Soldaten, ihrem Liebhaber, auf und davon.«

»Da waren Sie ganz verwaist.«

»O nein, Madame, Waise war ich bei meiner Mutter. Jetzt nahm sich die öffentliche Mildtätigkeit meiner an. Eines Tages hatte ich das Glück, einer schönen jungen Dame zu begegnen, die an mir Gefallen fand. Sie brachte mich in einer Weißnäherei unter, und ich war dem Hunger entronnen.«

»War diese Dame nicht Madame de Boulainvilliers?«

»So ist es, Madame; nur starb sie leider zu früh, und ihrem Gatten verdanke ich das Unglück meiner Jugend, wie ich meiner Mutter meine unglückselige Kindheit verdanke. Als er die Quittung für die Wohltaten seiner Frau kassieren wollte und ich mich dem versagte, stieß er mich ins Elend zurück. Ich heiratete Herrn de La Motte, einen einfachen, aber tapferen Soldaten. Doch da ich getrennt von ihm leben muß, weil er in Bar-sur-Aube kaserniert ist, sehe ich mich abermals der Not preisgegeben. - Dies, meine Damen, ist meine Geschichte; ich habe sie verkürzt, denn das Unglück hat Seiten, die man glücklicheren Zuhörern besser erspart.«

Langes Schweigen folgte Jeannes Bericht. Schließlich verlangten die Damen Dokumente zu sehen, die das Gesagte bestätigen konnten. Jeanne entnahm einer Geheimlade ein altes, mit dem Wappen der Familie Valois versehenes Portefeuille. Die Damen fanden die Papiere in der Ordnung, dann griff die Ältere - Jeanne mit scharfem Auge ließ sich keine ihrer Bewegungen entgehen -in eine Tasche und zog eine kleine Rolle von drei bis vier Zoll Länge hervor.

»Die Wohlfahrtsstiftung autorisiert mich, Ihnen vorerst diese Kleinigkeit anzubieten«, sagte die Dame und legte die Rolle auf eine Kommode.

Jeannes Blick streifte das Geschenk. Es sind Taler, dachte sie; mindestens fünfzig Taler, wenn nicht hundert. Aber für fünfzig ist die Rolle zu lang, für hundert zu kurz.

Frau Clothilde leuchtete den Damen hinaus, nachdem sie kurzen Abschied genommen.

»Wann dürfte ich mir die Ehre nehmen, Ihnen zu danken, meine Damen?« fragte Jeanne den Davoneilenden nach.

»Man wird Ihnen Nachricht geben«, rief die Ältere.

Jeanne hastete zu der Kommode. Dabei stieß ihr Fuß an einen Gegenstand. Augenblicks hob sie ihn auf und betrachtete ihn unter der Lampe. Es war ein flaches goldenes Döschen, das Schokoladenpastillen enthielt. Aber das wache Auge der Finderin erkannte, daß da ein doppelter Boden war. Endlich entdeckte sie die Geheimfeder, und sichtbar wurde das Porträt einer Frau: strenge, fast männlich-majestätische Züge, eine hohe Frisur nach deutscher Art. Den Deckel der Dose zierte ein Monogramm, in dem ein M und ein T verschlungen waren und das ein Lorbeerkranz umrahmte. Die Ähnlichkeit der älteren Besucherin mit der abgebildeten Frau war unverkennbar. Jeanne wollte den Damen nachlaufen, aber zu spät. Das Haustor fiel ins Schloß. Durch die Rue Saint-Claude enteilte ein Kabriolett.

Jeanne verwahrte die Dose, dann öffnete sie, am ganzen Leibe bebend, den zweiten Gegenstand ihrer Neugier.

»Fünfzig Doppellouisdor! Hundert Louisdor! Oh, so reiche Damen werde ich wiederzufinden wissen!«

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