Das Schemelchen

Jeanne de La Motte hatte sich in ihren Berechnungen geirrt. Sosehr sie in der Öffentlichkeit gegen die verhaßte Königin Stimmung machte, so hart sprachen im Gerichtssaal die Beweise gegen sie. Und sie mußte bald sehen, daß sie über ihre Richter nichts mehr vermochte. Alle ihre Andeutungen, Unterstellungen und Drohungen fruchteten nicht mehr. Ihr Verbrechen lag allzu klar am Tage.

Der Kardinal, der sich stets nur zu der Halsbandaffäre geäußert, aber zu allem, was seine Liebe zur Königin betraf, beharrlich geschwiegen hatte, war durch das Auftauchen Olivas in die peinlichste Lage gebracht worden. Tief beschämt, hatte er nur immer wieder beteuert, seine Liebe habe der wahren Königin gegolten, andere Aussagen waren ihm bis zuletzt nicht abzuringen. Sein vornehmes Schweigen, das den vielen widersprüchlichen Behauptungen Jeannes lange Zeit freies Spiel ermöglicht hatte, bewirkte in der breiten Öffentlichkeit, daß sein Heldenruhm als Verfolgter des Hofes trotz der lächerlichen Rolle, die er in jenen Parkabenteuern einnahm, nicht entscheidend beeinträchtigt wurde. Hinter den Kulissen des Prozesses jedoch fragte man sich, ob der Kardinal nicht zu Recht verhaftet und von Seiten der Königin der Unverschämtheit bezichtigt worden war. Hatte Herr de Rohan im Namen der Königin gehandelt? War er der Geheimbeauftragte gewesen, der Marie-Antoinette preisgab, als ihre Machenschaften ans Licht kamen? In jedem Fall konnte also auch der Kardinal nicht völlig schuldlos aus diesem Prozeß hervorgehen.

Unfehlbar stand nur Cagliostro da. Kaum war er in die Bastille gesperrt worden, nutzte er die willkommene Gelegenheit, auf den Untergang der Monarchie hinzuwirken, die er seit Jahren in geheimer Arbeit unterminiert hatte. Sicher, daß man ihn keines Verbrechens überführen könnte, bereitete er das Material vor zu dem berühmten, aus London datierten Brief, der einen Monat später erscheinen sollte und der in der Tat der erste Stoß des Sturmbocks war, der bald darauf die alten Mauern der Bastille zertrümmern und die Revolution eröffnen sollte.

»Ja, heute sage ich in voller Freiheit«, hieß es in diesem Brief, »was ich zuvor als Gefangener gesagt habe, nämlich daß es kein Verbrechen gibt, das durch einen sechsmonatigen Aufenthalt in der Bastille nicht abgebüßt wäre. Fragt mich jemand, ob ich jemals nach Frankreich zurückkehren werde, so antworte ich offen: gewiß, sobald die Bastille eine öffentliche Promenade geworden ist. Gott gebe es! Habt ihr doch alles, Franzosen, um glücklich zu sein: fruchtbaren Boden, ein mildes Klima, ein heißes Herz, bezaubernde Heiterkeit, Anmut und Genie; seid ihr doch unvergleichlich in der Kunst, jedermann zu gefallen, unerreicht in allen anderen Künsten, und fehlt euch, Freunde, doch nur ein einziges, um vollends glücklich zu werden: die Sicherheit, daß ihr die Nacht im eigenen Bette schlaft, wenn ihr schuldlos seid.«

So kam denn nach langen Debatten und vielen Konfrontationen endlich der Tag, da das Gericht seinen Spruch fällen sollte.

Die Angeklagten waren, mit Ausnahme des Herrn de Rohan, in die Conciergerie überführt worden, um dem Sitzungssaal näher zu sein, der bereits um sieben Uhr morgens geöffnet wurde.

Nach den Plädoyers, die nichts wesentlich Neues ergaben, ergriff der Generalprokurator das Wort. Er sprach als Wortführer des Hofes im Namen der mißdeuteten und beleidigten königlichen Würde und plädierte für die Unverletzlichkeit der Majestät.

Er schlug alle Behauptungen nieder, daß die Königin in dieser Halsbandaffäre auch nur den mindesten Fehler begangen habe. Die Hauptschuld fiel nach seiner Darstellung auf den Kardinal.

Er beantragte die Verurteilung des Reteaux de Villette zu den Galeeren, die Verurteilung der Jeanne de La Motte zu Brandmarkung, Auspeitschung und lebenslänglichem Kerker, die Ortsverweisung Olivas und Freispruch für Cagliostro. Dem Kardinal solle aufgegeben werden, seine beleidigende Vermessenheit gegen die Königliche Majestät einzubekennen, und darauf solle er vom Hof verbannt und aller seiner Ämter und Würden verlustig erklärt werden.

Dieser Antrag ging so weit, daß der Gerichtshof ihm nicht einmütig zustimmen wollte. Der Wille des Königs sprach sich darin so machtvoll aus, daß er zu dieser Zeit nicht mehr unwidersprochen blieb. Hätte der gleiche Prozeß ein Vierteljahrhundert früher stattgefunden, wären die Richter unzweifelhaft über die Forderungen des Generalprokurators noch hinausgegangen, um ihren Eifer und Respekt für das damals noch unantastbare Prinzip des Throns zu bekunden. Jetzt aber war nur eine Minderheit der Räte für die Anschauungen des Generalprokurators zu gewinnen.

Man schritt zum letzten Verhör, einer fast zwecklosen Formalität, wenn man bedenkt, daß von den Angeklagten nicht zu hoffen stand, daß sie nach so langem, erbittertem Kampf ihre Taktik im letzten Augenblick ändern würden.

Wie üblich, sollten sie vor den Richtern auf jenem Holzschemel Platz nehmen, der durch die Berührung mit den vielen Verbrechern, die von hier aus zum Schafott geschritten waren, bereits eine Schändung bedeutete. Überdies war der Sitz so niedrig, daß man ihn nur als demütigend und entehrend für den Angeklagten empfinden konnte.

Diesen Schemel besetzte als erster weinend und jammernd Reteaux de Villette, der seine Schuld bekannte und bereute. Aber für ihn interessierte sich niemand weiter. Er wurde schnell in seine Zelle zurückgeführt.

Darauf erschien Madame de La Motte in schlichter Gewandung, das Gesicht von einem weißen Schleier umhüllt.

Die Bewegung, die bei ihrem Auftreten durch die Menge lief, beunruhigte sie. Als der Gerichtsschreiber sie zu dem kleinen Schemel führte, der dem Block auf einem Schafott nicht unähnlich sah, erbleichte sie und blickte zornsprühend um sich, als ob sie die Richter einschüchtern wollte, die es wagten, ihr, einer Valois, ihr, die das Schicksal der Königin von Frankreich in ihren Händen gehalten, eine solche Schmach zuzumuten. Doch begegnete sie ringsum nur entschlossenem Willen und erbarmungsloser Neugier. So bemeisterte sie ihre Empörung und setzte sich.

Auch bei diesem Verhör formulierte sie alle ihre Antworten so, daß die Feinde der Königin aus ihrem Wortlaut Nutzen ziehen konnten. Sie vermied präzise Angaben, soweit sie nicht ihre Unschuld bekräftigen konnten, und nötigte den Präsidenten schließlich zu einer Frage nach jenen Briefen, die nach ihren wiederholten Angaben die Königin und der Kardinal gewechselt hätten.

Von ihrer Antwort erhoffte sie sich die letzte rettende Wirkung, indem sie das Interesse von ihrer Person noch einmal auf die beiden hohen Persönlichkeiten ablenkte.

Sie beteuerte zunächst, daß sie die Königin nicht bloßzustellen gesonnen sei und daß nur der Kardinal diese Frage vollgültig zu beantworten vermöchte.

»Fordern Sie ihn doch auf«, sagte sie, »diese Briefe oder wenigstens die Abschriften vorzuweisen, dann wird Ihre Neugierde befriedigt sein. Ich für mein Teil will mich nicht weiter darüber äußern, doch finde ich die einen zu frei und zu vertraulich von einer Fürstin an einen Untertan, die anderen zu wenig ehrerbietig von einem Untertan an seine Königin.«

Das eisige Schweigen aber, mit dem dieser letzte Angriff aufgenommen wurde, bewies Jeanne, daß sie an eine undurchdringli-che Mauer anrannte. So schwer das Königtum und der Hochadel durch diesen Prozeß beschädigt worden waren, zeigte sich die Obrigkeit doch nicht gewillt, weiteren Einbrüchen offiziell die Tore zu öffnen. Jeanne verbuchte ihren Fehlschlag, wiegte sich aber, als sie den Schemel verließ, noch in der süßen Hoffnung, daß nach ihr ein Rohan den schmachvollen Sitz einnehmen werde.

Indessen mußte sie sehen, als sie kurz vor dem Ausgang sich umwandte, daß der Schemel auf Geheiß des Gerichtshofes gegen einen Lehnstuhl ausgetauscht wurde.

Aufstöhnend stürzte sie aus dem Saal.

Gemessenen Schrittes trat der Kardinal herein. Er war in seiner Equipage vorgefahren, und man hatte das Haupttor für ihn geöffnet. Zwei Gerichtsdiener und zwei Schreiber begleiteten ihn. Der Gouverneur der Bastille ging an seiner Seite.

Sein Erscheinen wurde mit beifälligem und achtungsvollem Gemurmel begrüßt.

Fürst Louis de Rohan war blaß und sehr erregt. Er trug ein zeremonielles Kleid und bezeigte den Richtern seine Achtung und Ergebenheit.

Als er das Wort ergriff, erregte seine vibrierende Stimme das Mitgefühl der Anwesenden. Er sprach langsam, verbreitete sich eher über seine Empfindungen des Bedauerns, als daß er Beweise geltend machte, und als seine Rede schließlich stockte, erzielte er damit eine größere Wirkung als mit allen Verteidigungsreden und bündigen Schlüssen.

Für Oliva dann wurde der Lehnstuhl wieder durch den Schemel ersetzt. Nicht wenige Zuschauer erbebten bis ins Innerste, als sie das Ebenbild der Königin, dieses Phantom Marie-Antoinettes, den Sitz der Schande einnehmen sahen.

Zum Schluß kam Cagliostro, der gar nicht erst aufgefordert wurde, sich zu setzen. Zum einen galt er für unschuldig, zum anderen fürchtete der Gerichtshof offenbar Cagliostros Äußerungen.

Nach einem kurzen Scheinverhör fand man, daß den formalen Ansprüchen der Prozeßordnung Genüge getan war.

Dann erklärte der Gerichtshof die Plädoyers und Verhöre für abgeschlossen. Die Menge zerstreute sich in der Absicht, im Laufe der Nacht zurückzukehren und das Urteil anzuhören.

Загрузка...