Das Haus in der Rue Neuve-Saint-Gilles

Eine Mietdroschke brachte Philippe de Taverney bald vor das Haus des Grafen Cagliostro, ein Gebäude von schöner Einfachheit und klarer Linienführung, wie sie die Bauten aus der Zeit Ludwigs XVI. auszeichnete.

Eine Equipage samt Kutscher und Gespann wartete im Hof, offensichtlich zur Ausfahrt bereit.

Philippe eilte die Freitreppe hinan und ließ sich melden.

»Herr Philippe de Taverney?« hörte er im Salon eine männliche Stimme von auffallender Sanftheit sagen. »Lassen Sie eintreten.«

Die Ruhe dieser Stimme beeindruckte Philippe sonderbar.

»Entschuldigen Sie, mein Herr«, sagte er, indem er einen hochgewachsenen, beleibten Herrn von ungewöhnlicher Lebenskraft begrüßte. Dieser Mann war niemand anders als der aufwieglerische Fremde in Mesmers Salon, der Besucher Fräulein Olivas und ihr Begleiter im blauen Domino auf dem Opernball.

»Weshalb entschuldigen Sie sich? Gewiß, Sie wollten schon vor einer Stunde hier sein, aber ein unerwartetes Ereignis hat Sie aufgehalten, nicht wahr? Sehen Sie, ich habe Ihnen bereits einen Lehnstuhl bereitstellen lassen. Nehmen Sie doch Platz, Chevalier.«

Philippe begriff nicht, wie ihm zumute wurde.

»Genug der Scherze, Graf«, sagte er mit mühsam erzwungener Ruhe, »da Sie ein Wahrsager zu sein scheinen, werden Sie wohl auch wissen, warum ich komme, und Ihre Maßregeln getroffen haben.«

»Allerdings«, lächelte der Graf, »Sie suchen mit mir Streit wegen der Königin. Sprechen Sie.«

»Nun, es ist da ein Pamphlet erschienen .«

»Es gibt viele Pamphlete.«

»Verfaßt von einem gewissen Zeitungsschreiber ...«

»Es gibt viele Zeitungsschreiber.«

»Moment, mit dem Schreiber befassen wir uns später.«

»Sie haben sich bereits mit ihm befaßt.«

»Nun gut; ich sagte, es gibt ein Pamphlet, das gegen die Königin gerichtet ist, Sie kennen es?«

Cagliostro bejahte.

»Sie haben tausend Exemplare davon gekauft.«

»Ich leugne es nicht.«

»Sie sind indes nicht in Ihre Hände gelangt, da ich Ihren Beauftragten abgefangen, bezahlt und mit seiner Last nach meinem Hause geschickt habe.«

»Warum führen Sie Ihre Angelegenheiten nicht selbst zu Ende?«

»Was soll das heißen?«

»Dann würden sie besser gelingen«, sagte der Graf und öffnete mit vollendetem Phlegma einen prächtigen Eichenschrank, in dem der erblassende Chevalier die tausend Nummern der Zeitung zu Stößen gehäuft sah.

Philippe trat auf den Grafen zu, der sich jedoch nicht rührte, so drohend die Gebärde des Chevaliers war.

»Mein Herr, ich fordere Sie auf, mir mit dem Degen Genugtuung zu geben.«

»Genugtuung wofür?«

»Für die Beleidigung, die der Königin zugefügt wurde und deren Sie sich mitschuldig machen, solange auch nur ein Exemplar dieses Blattes in Ihrem Hause ist.« »Sie befinden sich in einem betrüblichen Irrtum, mein Herr«, antwortete Cagliostro, ohne seine Stellung im mindesten zu ändern, »ich habe die Eigenart, Neuigkeiten, skandalöse Berichte und derlei zu sammeln, um mich ihrer später erinnern zu können. Wen habe ich beleidigt, als ich diese Zeitung kaufte?«

»Mich haben Sie beleidigt, mich, verstehen Sie?«

»Sie? Nein, das verstehe ich nicht, bei meiner Ehre!«

»Ein Ehrenmann sammelt keine schändlichen Lügen.«

»Verzeihen Sie, da bin ich anderer Ansicht; die Schrift mag ein Pamphlet sein, aber sie ist keine Lüge. Ihre Majestät ist an Mesmers Bottich gewesen.«

»Das ist nicht wahr!«

»Und ich versichere Ihnen: ich habe sie gesehen.« Und Cagliostros leuchtende Augen hielten Taverneys durchdringendem Blick stand, bis dieser sich ermüdet abwandte.

»Dennoch beharre ich bei meiner Behauptung, daß Sie lügen.«

Cagliostro zuckte die Achseln, als hätte er die Beschimpfung eines Schwachsinnigen vernommen.

»Verstehen Sie mich nicht?« fragte Philippe dumpf.

»Ich verstehe sehr gut, was Sie sagen. Ich kenne sogar das französische Sprichwort: Wer mich Lügen straft, dem gebührt eine Ohrfeige.«

»Dann wundert mich nur, daß Sie, ein Edelmann, nicht Ihre Hand gegen mich erheben.«

»Ehe Gott mich zum Edelmann gemacht und das französische Sprichwort kennen gelehrt hat«, entgegnete Cagliostro gelassen, »machte er mich zum Menschen und befahl mir, meinen Nächsten zu lieben.«

»Heißt das, Sie wollen mir nicht mit dem Degen Genugtuung geben?«

»Ich pflege nur zu zahlen, was ich schuldig bin, Chevalier.«

»Dann zwingen Sie mich, Ihnen nicht anders zu begegnen als dem Zeitungsschreiber.«

»Oh, Stockprügel!« lachte Cagliostro und schien überaus belustigt. »Versuchen Sie es, gegen mich anzukommen.«

Seiner Sinne kaum mehr Herr, stürzte sich Philippe auf den Grafen, dessen Hände ihn aber wie stählerne Klammern an Hals und Gürtel packten und mit unerhörter Kraft weit hin auf ein mit Kissen besetztes Sofa schleuderten. Darauf nahm der Graf wieder die lässige Stellung am Kamin ein wie vorher.

Bleich, schäumend erhob sich Philippe.

»Den Degen, Graf, den Degen, sage ich Ihnen, oder Sie sind des Todes!« rief er und zog blank.

Cagliostro rührte sich nicht.

»Noch sind Sie mir nicht nahe genug, Chevalier, daß ich Ihnen wie soeben begegne, denn ich gedenke, mich von Ihnen nicht verletzen oder gar töten zu lassen wie der arme Gilbert.«

»Welchen Namen nennen Sie da?« stammelte Philippe aschfahl.

»Einen Namen, der in Ihnen eine furchtbare Erinnerung weckt, nicht wahr? Den Sie niemals mehr zu hören hofften? Denn Sie waren doch allein mit dem armen Jungen, als Sie ihn umbrachten in jener Grotte auf den Azoren.«

»Ziehen Sie! Verteidigen Sie sich!« schrie Philippe verzweifelt, und seine Degenspitze war der Brust des Grafen schon bis auf drei Daumenlängen nahe.

»Oh, darauf lasse ich mich nicht ein«, sagte dieser und spritzte dem Chevalier aus einem Fläschchen, das er blitzschnell aus der Tasche gezogen, eine Flüssigkeit ins Gesicht, die ihn betäubte, so daß der Degen seiner Hand entfiel.

Cagliostro fing den Taumelnden auf, steckte ihm die Waffe in die Scheide, führte ihn zu einem Lehnstuhl und wartete, bis er zu sich kam.

»Chevalier«, sagte er dann, »Sie sind alt genug, sich nicht mehr wie ein Kindskopf aufzuführen.«

Philippe schüttelte sich, um die Erstarrung abzuwerfen, die sein Hirn befallen hatte.

»Mein Gott«, sagte er, »nennen Sie das die Waffen eines Edelmanns?«

Cagliostro zuckte die Achseln.

»Sie wiederholen immer die gleiche Phrase«, sagte er. »Wenn ein Adliger den Mund auftut zu dem Wort Edelmann, glaubt er, damit sei alles gesagt. Aber was erhebt einen Menschen über andere? Das klangvolle Wort Edelmann? Nein. Zuerst die Vernunft, dann die Kraft, und endlich die Wissenschaft. Alle drei Waffen habe ich gegen Sie eingesetzt, als Sie mit Ihren Drohungen auf mich eindrangen. Wollen Sie mir jetzt die Ehre erweisen, mich anzuhören?«

»Sie haben meine Kraft, meine Gedanken ausgelöscht. Wie können Sie mich das fragen.«

Cagliostro nahm ein goldenes Fläschchen vom Kaminsims, öffnete es und hieß Philippe, tief daraus einzuatmen. Er gehorchte; und der belebende Dunst durchströmte ihm Geist und Glieder mit wunderbarer Frische.

Der Graf versicherte sich, daß Philippe sich wieder ganz wohl befand. Dann fragte er ihn, weshalb er wirklich gekommen sei.

»Um ein geheiligtes Prinzip zu verteidigen: die Monarchie.«

»Sie? Sie verteidigen die Monarchie?«

»Ja, ich.«

»Sie, ein Mann, der nach Amerika ging, um die Republik zu verteidigen? Seien Sie doch aufrichtig, Chevalier, gestehen Sie, daß Sie dort drüben ebensowenig für die Republik gestritten haben wie hier für die Monarchie.«

Philippe senkte die Augen; und ein Stöhnen, das tief aus seiner Brust aufstieg, drohte sein Herz zu sprengen.

»Lieben Sie nur«, fuhr Cagliostro fort, »lieben Sie jene, die Sie benutzt und vergißt. Es ist wohl das Schicksal großer Seelen, in ihren Herzensregungen betrogen zu werden.«

»Die Königin ist eine verehrungswürdige, unschuldige Frau. Das Gesetz der Liebe verpflichtet uns, die Schwachen zu schützen.«

»Die Königin schwach? Eine Frau, vor der achtundzwanzig Millionen Menschen Kopf und Knie beugen, schwach?«

»Sie wird verleumdet.«

»Sind Sie dessen sicher?«

»Ich glaube es.«

»Das ist Ihr Recht. Mein Recht ist es, das Gegenteil zu denken.«

»Sie sind der Geist des Bösen.«

»Woher, woher nehmt ihr die Kühnheit«, rief Cagliostro, seinen sprühenden Blick auf Philippe richtend, »die Vermessenheit zu denken, ihr hättet recht? Sie verteidigen das Königtum, aber ich arbeite für die Menschheit. Sie, der Republikaner aus Amerika, fegen die Gleichheit der Menschen hinweg, für die Sie kämpften, um einer Königin die Hand zu küssen. Ich bin bereit, über eine Königin hinwegzuschreiten, um die Völker zu erhöhen. Ich störe Sie nicht in Ihrer Verzückung, stören Sie mich nicht in meinem Werk. Sie haben zu mir gesagt: Stirb, denn du hast den Gegenstand meiner Verehrung beleidigt! Ich sage Ihnen: Lebe, obwohl du mein Ideal bekämpfst! Ich sage das, weil ich mich stark weiß in dem, was ich erstrebe, weil ich die Kraft kenne, deren Wirken weder Sie noch einer der Ihren auch nur im mindesten aufhalten werden.«

Philippe hatte den Grafen ernst, mit großen Augen angehört. »Sie erschrecken mich«, sagte er dann, »dank Ihnen erkenne ich den Abgrund, dem das Königtum entgegentreibt.«

»Da Sie nun darum wissen, seien Sie klug.«

»Und dennoch«, begann Philippe erneut und in flehentlichem Ton, »bitte ich Sie, beschwöre ich Sie, mir für dies eine Mal we-nigstens Gnade zu gewähren für jene, die Sie verfolgen: verbrennen Sie jenes Pamphlet, das eine Frau bis zu Tränen kränken wird, oder, bei meiner Ehre, bei der unglückseligen Liebe, von der Sie wissen, ich werde meine ohnmächtige Waffe gegen mich selbst kehren.«

Cagliostro ließ sein durchdringendes Auge auf Philippe ruhen. »Da«, sagte er, »zählen Sie nach, die tausend Exemplare sind noch alle beisammen. Vernichten Sie sie.«

Philippe, nachdem er die Verbrennung der Blätter vollendet und dem Grafen aus übervollem Herzen Dank gesagt, entfernte sich.

Cagliostro aber murmelte, während er ihm nachblickte: »So wird dem Bruder vergolten, was die Schwester erlitten hat.«

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