Der Befehl

Der Fiaker rollte davon. Scharfer Frostwind wehte die Glockenschläge von Saint-Louis über den leeren Platz. Es war Viertel vor zwölf.

»Mein Gott!« klagte Andree. »Jetzt ist das Tor verschlossen.«

»Sei unbesorgt, Kleine«, sagte die Ältere, »wir hätten ohnehin die kleine Seitenpforte benutzt. Laurent ist unterrichtet, er wird uns einlassen.«

Andree klopfte an jene Pforte, aber zum Entsetzen der Frauen antwortete aus dem Innern nicht die Stimme des vertrauten Dieners Laurent, sondern die grobe Soldatenstimme eines Schweizers:

»Wer da?«

»Öffnen Sie!« rief Andree.

»Ich öffne nicht, ich habe meinen Befehl.«

»Wer sind Sie?«

»Sagen Sie lieber, wer Sie sind«, war die schroffe Antwort.

»Wir sind Damen aus dem Gefolge Ihrer Majestät, wir wohnen im Schloß.«

»Und ich bin ein Schweizer von der Garde und werde Sie lassen, wo Sie sind.«

Weder flehentliche Bitten noch Versprechungen auf Beförderung konnten den Soldaten bewegen, seinen Befehl zu verletzen. War diese Pforte verschlossen, so waren es alle übrigen auch.

»Den Streich hat uns der König gespielt, ich bin sicher«, sagte die Ältere bitter, fast verächtlich.

»Mein Gott, nach Mitternacht kommen die Patrouillen vorbei. Wenn man uns nun aufgreift, Madame?«

Die eisige Kälte machte die Situation der Damen nicht angenehmer.

In dem Augenblick näherte sich in einem weiten Pelzüberrock ein junger Mann, der sorglos eine Melodie vor sich hin pfiff.

»Mein Schwager!« rief die Ältere leise aus. »Er wird uns retten.«

Der Graf d'Artois, erstaunt zunächst, in den ausgeschlossenen Frauen seine Schwägerin, die Königin Marie-Antoinette, und ihre engste Freundin, Mademoiselle Andree de Taverney, zu erkennen, versuchte nun seinerseits, mit dem Schweizer zu gütlicher Einigung zu gelangen. Doch als auch seine Bemühungen an dem königlichen Befehl scheiterten, lud er die Damen ein, ihm in ein nahegelegenes kleines Haus zu folgen, das ihm gehörte.

Die Königin runzelte die Stirn, denn sie wußte wohl, daß dies eines der luxuriös ausgestatteten kleinen Lusthäuser war, wie sie derzeit jeder vornehme Herr besaß, um seine jeweiligen Favoritinnen sich dort zu halten. Aber Not bricht Eisen. Auch versicherte sie der Graf, sie werde dort von keiner Menschenseele gesehen werden, da alle Dienstleistungen so diskret vollzogen würden, daß die Damen sein Angebot vertrauensvoll annehmen könnten.

Unterwegs tauschten sich Schwägerin und Schwager über den vermutlichen Anlaß der königlichen Maßnahme aus. Der Graf d'Artois meinte, seine Gemahlin könnte diese Strenge gegen ihren leichtlebigen Ehemann erwirkt haben. Die Königin dagegen glaubte eher, ihr geschworener Feind, Monsieur de Provence, der zweite Bruder des Königs, habe dessen Eifersucht erregt, indem er ihm Madames heimlichen Ausflug nach Paris gemeldet hatte.

Derweilen war das Haus erreicht. Die Frauen staunten nicht wenig, als in der Tat kein dienstbarer Geist sichtbar wurde und dennoch Türen sich öffneten, ein köstliches Nachtmahl bereitstand, das Schlafgemach gerichtet war, und all das mittels unterschiedlicher Knopfdrücke, Klingelzeichen und geheimer Mechanismen.

»Jetzt begreife ich die eifersüchtige Unruhe Ihrer Gemahlin, Schwager«, sagte lächelnd die Königin, als der Graf mit guten Wünschen für die Nacht und der Versicherung sich beurlaubte, daß ihm noch drei weitere Häuser dieser Art zur Auswahl stünden.

»Bei Tagesanbruch wird der Befehl aufgehoben sein, dann kehren Sie unbehelligt ins Schloß zurück«, riet er den Damen zum Abschied, »wenn Sie aus jenem Schrank dort sich einen der Mäntel wählen, der Sie vollkommen verkleiden wird.«

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